Politik

Neonazi-Organisationen und Bewegungen tun sich auch immer wieder punktuell zusammen, nicht zuletzt bei Pegida-Veranstaltungen in München und Nürnberg. (Foto: dpa)

28.10.2016

"Identitäre" und andere Neonazis

Der Mord von Georgensgmünd lenkt den Blick auf bislang wenig beachtete Neonazi-Bewegungen

Nach dem Polizistenmord vom 19. Oktober sind die „Reichsbürger“ wie aus dem Nichts im Fokus der Öffentlichkeit aufgetaucht. Seltsame Spinner, von denen einzelne gewaltbereit sind? Oder hartgesottene Rechtsextremisten, die nur deshalb niemand auf dem Schirm hatte, weil sie über keine feste Organisationsstruktur verfügen und daher schwer greifbar sind? Ein Blick auf die „Reichsbürger“ und darauf, was sie mit anderen Neonazi-Parteien, -sekten und -gruppierungen wie der NPD, dem „III. Weg“ oder der „Identitären Bewegung“ gemein haben – und was sie voneinander unterscheidet.

Mittwoch vergangener Woche, mitten in Bayern: Ein „Reichsbürger“ erschießt in Georgensgmünd südlich von Nürnberg einen Polizeibeamten – und die Öffentlichkeit fällt aus allen Wolken: „Reichsbürger“? Was soll denn das sein? Noch nie gehört! Medien und Behörden beeilen sich, Erklärungen anzubieten: „Reichsbürger“ seien seltsame Typen, die den Staat nicht anerkennen und stattdessen vom Fortbestand des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 ausgehen, teilweise die Zahlung von Steuern verweigern, ihren Ausweis bei der Gemeinde zurückgeben und sich selbst Phantasieausweise ausstellen, kurzum: Spinner und Querulanten. Und: manche seien obendrein auch noch rechtsextrem und gefährlich.

Die Wahrheit ist eine andere. Vermutlich – hoffentlich – sind nicht alle „Reichsbürger“ wie Wolfgang P., der Polizistenmörder von Georgensgmünd, im Besitz von Waffen, aber rechtsextrem sind sie alle. Was sonst sollte jemand sein, der sich in die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus zurückphantasiert und dieser „glorreichen“ Halluzination den Vorzug gibt vor der „schnöden“ Realität der Gegenwart? 2014 sprach das bayerische Innenministerium in seiner Antwort auf eine Anfrage des SPD-Abgeordneten Florian Ritter noch von lediglich „vereinzelten rechtsextremistischen Tendenzen“ bei den „Reichsbürgern“. Heute würde man sicher nicht mehr so beschwichtigend formulieren.

Konkurrenzdenken unter den Neonazis gibt’s nicht

Die auf den ersten Blick nur abstrus anmutende „Reichsbürger“-Theorie und das Denken der Neonazis – für die Rechtsextremismusexpertin Birgit Mair ist unstrittig: „Letzten Endes ist das die gleiche Ideologie.“ Die Mitbegründerin des Nürnberger Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung verweist im Gespräch mit der Staatszeitung auf den wegen Volksverhetzung rechtskräftig verurteilten Neonazi Gerhard Ittner. Der hatte sich selbst als „Sachwalter des Deutschen Reiches“ bezeichnet und schon mal einer Staatsanwältin mit der Todesstrafe gedroht. Der Mann läuft nach Verbüßung einer Haftstrafe wieder frei herum, im Gegensatz zu Horst Mahler, einem weiteren prominenten Vertreter der „Reichsbürger“-Bewegung und notorischen Neonazi. Der mittlerweile 80-Jährige, der 2008/2009 als Angeklagter vor dem Amtsgericht Erding und vor dem Landgericht Landshut regelrechte „Reichsbürger“-Vorlesungen hielt, sitzt wegen Volksverhetzung im Gefängnis.

Die „Reichsbürger“ kennen keine einheitlichen Organisationsstrukturen. Selbst der Name „Reichsbürger“ wurde ihnen nur von außen verpasst. Ein wesentlicher Grund, warum sie vom Verfassungsschutz bislang nicht richtig ernst genommen wurden.

Ganz anders die NPD. Die dienstälteste Neonazi-Partei, deren Mitgliederzahl in Bayern im Verfassungsschutzbericht 2015 mit 700 angegeben wird, muss halbwegs korrekte Parteistrukturen vorweisen, da sie sonst nicht in den Genuss staatlicher Parteienfinanzierung käme (2015 bundesweit 1,3 Millionen Euro). Im laufenden Verbotsverfahren fand Anfang März die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe statt. Demnächst wird das Urteil erwartet – gegen eine Partei, die mittlerweile keine große Rolle mehr spielt.

Der „III. Weg“ ist zwar auch eine Partei (Mitglieder in Bayern laut Verfassungsschutzbericht 2015: 80), die indes 2013 nur als Ersatzorganisation im Hinblick auf das zu erwartende (und 2014 erfolgte) Verbot der Neonazi-Organisation „Freies Netz Süd“ gegründet wurde.

Im Gegensatz zum „III. Weg“ verfügt die ebenfalls sehr junge Partei „Die Rechte“ (Mitglieder in Bayern 2015: 40) mit dem bekannten Neonazi Philipp Hasselbach über einen bayerischen Landesvorsitzenden. Trotz ihrer geringen Mitgliederzahl tat sie sich 2015 in München mit einer Gegendemo zur Eröffnung des NS-Dokuzentrums und einer Solidaritätsdemo für einen der Angeklagten im NSU-Prozess hervor.

Erst seit 2016 vom Verfassungsschutz beobachtet wird die „Identitäre Bewegung“, die eine Art modernisierte Blut- und Boden-Ideologie vertritt und für ihre Demonstrationen gegen Flüchtlinge mehrere hundert Teilnehmer mobilisieren konnte. Die genannten Neonazi-Organisationen und Bewegungen tun sich auch immer wieder punktuell zusammen, nicht zuletzt bei Pegida-Veranstaltungen in München und Nürnberg; Konkurrenzdenken scheint es kaum zu geben.

Der erste Halbjahresbericht des Verfassungsschutzes spricht nichtsdestotrotz von einer „in Bayern weiterhin isolierten rechtsextremistischen Szene“. Das sieht Birgit Mair anders: „Wie in den 1990er-Jahren, als der NSU entstand, radikalisiert sich die extreme Rechte auch heute wieder in einem gesellschaftlichen Klima, in dem man von Regierungsseite dem rechten Mob teilweise entgegenkommt.“ Mair verweist auf den Spruch über „ministrierende Senegalesen“, die man nicht abschieben könne von CSU-Generalsekretär Scheuer oder das geplante, sehr umstrittene bayerische Integrationsgesetz. Mair warnt: „Da wird ein gefährliches Klima geschaffen.“ (Florian Sendtner)

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