Politik

Eine Impfung ist mehr als ein kleiner Pieks – und doch wären indirekte Impfpflichten rechtlich zulässig, erklärt Richard Giesen. (Foto: dpa/Gregor Fischer)

23.07.2021

"Impfpflichten durch die Hintertür könnten kommen"

Der Rechtswissenschaftler Richard Giesen über die Möglichkeit von Staat und Betrieben, Ungeimpfte auszugrenzen

Einer generellen Impfpflicht hat die Politik bereits eine Absage erteilt. Ein so erheblicher Eingriff in die körperliche Integrität wäre auch gar nicht gerechtfertigt, betont Richard Giesen, Inhaber des Lehrstuhls für Sozialrecht, Arbeitsrecht und Bürgerliches Recht an der LMU München. Dass Söder im Herbst Clubs nur für Geimpfte öffnen will, hält er allerdings für rechtens. Ebenfalls denkbar: Ungeimpften die Benutzung des ÖPNV zu verweigern.

BSZ Herr Giesen, Frankreich will eine Impfpflicht für Beschäftigte im Gesundheitswesen einführen. Wäre das auch in Deutschland denkbar?
Richard Giesen Prinzipiell ja, aber nur unter sehr engen Voraussetzungen. Zuvorderst bräuchte es eine gesetzliche Regelung. Mit dem Infektionsschutzgesetz haben wir zwar auch in Deutschland eine Rechtsgrundlage für eine entsprechende Verordnung. Diese aber hat das Bundesgesundheitsministerium bislang nicht erlassen – und ich glaube auch nicht, dass es das tun wird. Nicht nur, weil sich die Bundesregierung bereits klar gegen eine solche Impfpflicht ausgesprochen hat. Sondern auch, weil eine Impfpflicht einen erheblichen Eingriff in die körperliche Integrität darstellen würde. Eine Impfung ist mehr als ein kleiner Pieks, mit ihr wird in das Abwehrsystem des Körpers eingegriffen. Man bräuchte schon sehr erhebliche Gründe für eine Pflicht.

BSZ Dann wäre also eine generelle Impfpflicht, um eine Herdenimmunität zu erreichen, erst recht nicht gerechtfertigt?
Giesen Nein, dafür bedürfte es einer erheblichen allgemeinen Gefährdungslage. Jeder, der schon einmal einen Katastrophenfilm gesehen hat, kann sich vorstellen, wie so eine Krankheit aussehen müsste. Es müsste eine sein, die sich, überspitzt gesagt, schon durch ein gegenseitiges Angucken ausbreitet. Bei Covid-19 aber gibt es ja andere und weniger gravierende Schutzmöglichkeiten. Zum Beispiel kann man eine Test- oder auch Impfvoraussetzung für bestimmte Bereiche formulieren. Ich kann mir etwa Regeln fürs Fliegen oder für den ÖPNV vorstellen. Aber auch für die Kinderbetreuung.

BSZ Sie können sich eine Impfpflicht für die Benutzung des ÖPNV vorstellen?
Giesen Im Prinzip ja, das wäre ja keine echte Impfpflicht, sondern das, was man eine Impfpflicht durch die Hintertür nennt. Wenn ein Ungeimpfter die S-Bahn nicht benutzen darf, übt man natürlich großen Druck auf ihn aus. Da muss es schon ein erhebliches Infektionsrisiko in einem Verkehrsmittel geben. Wie bei allen Maßnahmen gilt auch hier das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Und ob etwas verhältnismäßig ist, hängt natürlich immer auch vom gegenwärtigen Stand der Pandemie ab. Wir alle haben ja die Erwartung, dass die Pandemie durch das breitere Impfen eingedämmt werden kann. Kommen wir irgendwann in die Situation, dass für Geimpfte das Covid-Risiko nicht höher ist als eine Grippe für Nichtgrippegeimpfte, wird die verfassungsrechtliche Einschätzung dahingehend sein, dass wir wieder in eine Situation der Normalität zurückkehren müssen.

BSZ Bald haben alle ein Impfangebot bekommen. Und die Krankheitsverläufe Geimpfter sind milder: Reicht das denn nicht für eine Rückkehr zur Normalität?
Giesen Mittelfristig wahrscheinlich schon. Aber derzeit muss noch die große Zahl nichtgeimpfter Kinder, Jugendlicher und Schwangerer berücksichtigt werden. Außerdem müssen die Schutzkonzepte – vielleicht in geringerem Maße – vorerst auch Impfgegner berücksichtigen. Möglicherweise werden es also gerade sie sein, die die Rückkehr zur Normalität hinauszögern.

BSZ Markus Söder hat bereits angekündigt, dass er die Diskotheken und Bars im Herbst wieder öffnen lassen will – aber nur für Geimpfte. Ist das rechtlich möglich?
Giesen Nur unter dem Vorbehalt, dass Geimpfte einen wesentlich höheren Schutz mitbringen als Getestete. Da jedoch alles dafür spricht, dass dies so ist, ist das rechtlich zulässig.

BSZ Sind da nicht Klagen vor Gericht vorprogrammiert?
Giesen Ja, gar keine Frage. Und die Verwaltungsgerichte werden dann im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung schauen, ob ein wesentlich höherer Gesundheitsschutz existiert, wenn nur Geimpfte in die Disco oder den Club gelassen werden. Und da dies wohl der Fall ist, werden die Leute ihre Prozesse verlieren.

BSZ Dürfte der Staat dann also auch Restaurants oder Theatern vorschreiben, dass sie bloß Geimpfte reinlassen?
Giesen Unter dem genannten Vorbehalt und beim jetzigen Stand der Pandemie: Ja.

BSZ Könnten auch Restaurants oder Fluggesellschaften ohne eine entsprechende Verordnung Ungeimpfte abweisen?
Giesen Meiner Auffassung nach ja, wenn sie das mit dem Gesundheits- und Lebensschutz für Mitarbeitende und Gäste begründen. Dann würde das, meine ich, auch nicht gegen das Antidiskriminierungsgesetz verstoßen. Aber auch hier gilt: Es kommt auf den jeweiligen Stand der Pandemie an.

BSZ Heißt das, Arbeitgeber*innen könnten mit dem Argument des Gesundheitsschutzes auch von ihren Mitarbeitern fordern, sich impfen zu lassen?
Giesen Genauer gesagt: Sie können nicht verlangen, sich impfen zu lassen, aber sie können Nichtgeimpfte von bestimmten Tätigkeiten ausschließen. Das ist bereits bei jetziger Rechtslage möglich. Denken Sie zum Beispiel an die Geburtshilfe, wo man es mit Nichtgeimpften zu tun hat. Oder an die Betreuung kleiner Kinder, wo nicht einmal Schutzmasken getragen werden können. Grundlage hierfür ist Paragraf 3 des Arbeitsschutzgesetzes, der besagt, dass der Arbeitgeber für die Gesundheit seines Arbeitnehmers sorgen muss. Auch die Gesundheit von Gästen oder Patienten muss gesetzlich geschützt werden. Eine primäre Impfpflicht wäre das aber nicht, denn ein Mitarbeiter kann die Impfung ja verweigern.

BSZ Und dann droht die Kündigung?
Giesen Lässt sich ein Arbeitnehmer nicht impfen, verstößt er damit nicht gegen seine arbeitsvertraglichen Pflichten. Er kann ja eben gerade nicht dazu verpflichtet werden, sich impfen zu lassen. Deshalb halte ich es für sehr fraglich, ob man ihm kündigen kann. Aber es kann sein, dass er dann objektiv nicht mehr für seine Aufgabe geeignet ist. Das ist ähnlich wie bei einem Busfahrer, der seinen Führerschein verliert. Dann muss man versuchen, ihn woanders einzusetzen. Geht das nicht, könnte man ihn ohne Bezahlung für die Zeit, in der er nicht einsetzbar ist, freistellen.

BSZ Und wer entscheidet, für welche Tätigkeiten nur ein Geimpfter infrage kommt?
Giesen Der Arbeitgeber mithilfe seines Betriebsarztes. Auch von einigen Berufsgenossenschaften gibt es Hinweise. Sie könnten zwar auch Vorschriften herausgeben, tun das aber bisher nicht. Mitunter habe ich auch den Eindruck, dass die Berufsgenossenschaften der aktuellen Situation hinterherhinken. Zum Beispiel, wenn sie noch immer hart an Maskenpflichten auch für Geimpfte im Pflegebereich festhalten, was zu erheblichen Belastungen führt. Letztendlich liegt aber der Schwarze Peter beim Arbeitgeber, der den weiter an den Betriebsarzt spielt. Viele Betriebsärzte sind sauer, denn sie können sich ja genau wie Sie und ich nur an aktuellen Meldungen orientieren – und müssen dann versuchen, adäquate Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel, ob eine Testpflicht ausreicht oder ob für den am Arbeitsplatz notwendigen Gesundheitsschutz eine Impfung erforderlich ist.

BSZ Muss man seinem Arbeitgeber überhaupt mitteilen, ob man geimpft ist?
Giesen Der Arbeitgeber darf das nach der Datenschutz-Grundverordnung nur in einem funktionellen Kontext erfragen. Also wenn es tatsächliche Konsequenzen für Gesundheitsmaßnahmen und den Einsatz des Mitarbeiters hat.

BSZ Und bei einer Neueinstellung?
Giesen Wenn ein Arbeitgeber nur Geimpfte einstellen will, wird er wohl niemanden nehmen, der ihm seinen Impfstatus nicht verrät. Schwieriger ist das im öffentlichen Dienst, denn dort gilt das Gebot der Bestenauslese. Sie dürfen also nicht einfach einstellen, wen Sie wollen, sondern müssen die geeignetste Person für die Stelle nehmen. Da kann der Impfschutz aber ebenfalls ein Eignungskriterium sein. Denkbar ist das zum Beispiel im Auswärtigen Dienst, wenn man Sie in Länder schicken will, die bekannt dafür sind, dass sie nur geimpfte Menschen reinlassen.
(Interview: Angelika Kahl)

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