Politik

Ludwig Spaenle (57) hält auch die intellektuelle, wissenschaftliche Auseinandersetzung mit jüdischem Leben und Judenfeindlichkeit für zentral. (Foto: dpa)

10.08.2018

"Jüdisches Leben in Bayern ist mehr als die Shoa"

Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle über die Zunahme von Judenfeindlichkeit, notwendige Konsequenzen und das „geschichtspolitische Borderlining“ der AfD

Als Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus will Ex-Kultusminister Ludwig Spaenle vor allem eines sein: Ansprechpartner. Aber auch einige konkrete Projekte hat er in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit bereits auf den Weg gebracht. Neben einem Melderegister für antisemitische Vorfälle unter der Strafrechtsrelevanz plant er eine Gesprächsreihe an der LMU.

BSZ Herr Spaenle, Sie sind der erste Antisemitismusbeauftragte Bayerns. Warum wurde diese Position gerade jetzt geschaffen?
Ludwig Spaenle Der Anlass ist kein schöner. Es besteht die, wie ich glaube, objektive Wahrnehmung, dass sich Juden in Bayern wie auch in der ganzen Republik wieder stärker angegangen fühlen – durch ganz unterschiedliche unangenehme bis hin zu nicht mehr zu duldenden Vorgängen. Umso wichtiger ist es deshalb, dass sich die Zivilgesellschaft und auch die staatliche Seite deutlich zu den Jüdinnen und Juden in unserem Land bekennen.

BSZ Nimmt der Antisemitismus in Bayern zu?
Spaenle Man muss erst einmal feststellen, dass wir ein Statistikproblem haben. Straftaten, bei denen kein Täter ermittelt werden kann, werden pauschal dem rechtsradikalen Milieu zugeschlagen. Das ist in vielen Fällen sicher nicht ganz falsch. Aber die Phänomene des islamisch getragenen Antisemitismus und des Antisemitismus aus dem linksextremen Milieu zeigen, dass sich hier etwas verändert. Und wenn das Wort Jude zu einem Schimpfwort wird –  auch gegenüber Nichtjuden –, müssen wir darauf dringend reagieren.

BSZ Aber wie?
Spaenle Ein Phänomen zu bekämpfen, das so alt ist wie das Judentum selbst, ist eine sehr komplexe Aufgabe. Da das Amt neu geschaffen wurde, fange ich praktisch bei null an. Wir müssen erst entwickeln, was man wie am besten angeht. Ein ganz zentraler Punkt aber ist, dass ich als Ansprechpartner zur Verfügung stehe – auch innerhalb der Community, die große Erwartungen an mich hat. Und es geht darum, wichtige Themen an die Verantwortlichen heranzutragen.

BSZ Was für Themen zum Beispiel?
Spaenle Mit den zuständigen Ministern will ich zum Beispiel besprechen, den Themenkomplex jüdisches Leben und Antisemitismus prägnanter in den Integrationskursen und Deutschklassen zu verankern. Ich besuche derzeit alle jüdischen Gemeinden in Bayern, und diese Forderung wurde in Gesprächen immer wieder erhoben. Auch im Bereich der Lehrerausbildung entwickle ich Anregungen für das Kultusministerium mit. Ich will für die Jüdinnen und Juden in Bayern eine Art Anwalt sein, der in die Zivilgesellschaft hineinwirkt. Es gilt dabei auch deutlich zu machen, dass jüdisches Leben in Bayern mehr ist als die Shoa, die NS-Zeit mit ihren furchtbaren Gräueln. Seit die Römer in Bayern sind, gibt es in diesem Land jüdisches Leben. Es hat unser Land mitgeprägt. Deshalb unterstütze ich aktuell zum Beispiel auch die Sanierung der alten Synagoge in der Münchner Reichenbachstraße.

Bereits ganz konkret in Arbeit: ein Melderegister

BSZ Sie haben den Antisemitismus von muslimischer Seite angesprochen. Werden Sie auch selbst mit Muslimen in den Dialog treten?
Spaenle Als Beauftragter bin ich nicht operativ tätig, sondern habe eine Koordinierungsfunktion für die Staatsregierung. Ich rege an, unterstütze und führe Gespräche auf allen Ebenen. Ich habe die einschlägigen Ministerien gebeten, mir dauerhafte Ansprechpartner zu benennen. Anfang September will ich sie zu einer ersten Runde einladen. Mein Ziel ist, dass sich daraus ein gemeinsames Format etabliert, in dem mit dem Sachverstand aller Häuser Themen besprochen werden können. Und ich bin auch an alle Universitätspräsidenten mit der Bitte herangetreten, sich dem Themenkomplex noch stärker zu widmen. Für mich ist die intellektuelle, wissenschaftliche Auseinandersetzung ein ganz zentrales Moment. Auch angesichts der geschichtsklitternden Interpretationen, die immer wieder von sehr weit rechts kommen. Wenn der Dialog mit Vertretern der Muslime sinnvoll ist, kann man auch diesen führen.

BSZ Sie sprechen von der AfD.
Spaenle Die perfide geschichtspolitische Agenda einer bestimmten Partei verändert das öffentliche Bewusstsein. Es werden bewusst Tabubrüche vollzogen, um dann taktisch zurückzurudern. Das nenne ich „geschichtspolitisches Borderlining“. Dem muss man sich stellen. Man muss die Klinge kreuzen und die intellektuelle Auseinandersetzung damit suchen. Dazu will ich auch einen eigenen Beitrag leisten – mit einem Gesprächsformat mit Spitzenpersönlichkeiten aus unterschiedlichen Bereichen. Es soll ein Bewusstsein schaffen für jüdisches Leben, aber auch für die Anfechtungen. Ich freue mich, dass LMU-Präsident Bernd Huber zugesagt hat, dass diese Gesprächsreihe an seiner Universität stattfinden kann.

BSZ Die jüdischen Gemeinden wünschen sich ein Melderegister für antisemitische Vorfälle. Wie weit sind Sie damit?
Spaenle Das ist unser konkretestes Projekt, das ich so früh wie möglich an den Start gehen lassen möchte. Es geht dabei darum, dass wir auch antisemitische Vorfälle, die unterhalb der Strafrechtsrelevanz liegen, erfassen können. Dafür reicht es aber natürlich nicht, jemanden mit einer Strichliste ans Telefon zu setzen. Es braucht qualifizierte Mitarbeiter. Aktuell bin ich dazu im Gespräch mit der Sozialministerin, die sich sehr aufgeschlossen zeigt. Auch der Bayerische Jugendring wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Und wir müssen eine Trägerschaft finden, bei der sowohl die jüdische als auch die öffentliche Seite mit dabei sind.

BSZ Was passiert dann mit den erfassten Daten?
Spaenle Sie müssen bewertet – und dann daraus Schlüsse gezogen werden – wissenschaftliche, administrative und in Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden auch strafrechtliche. Berlin hat bereits solch ein Melderegister, mit den Verantwortlichen sind wir in intensiven Gesprächen. Als Ergebnis erhoffe ich mir, dass man ein erweitertes Bild von der Situation der Jüdinnen und Juden in Bayern bekommt, das deren Sorgen deutlicher macht. Und natürlich geht es auch um Beratung. Gespräche mit den Kultusgemeinden in Bayern haben mir einmal mehr vor Augen geführt, wie notwendig dieses Meldesystem ist. Auch damit Menschen, die offene oder versteckte Vorurteile und Beleidigungen ertragen müssen, einen verlässlichen Ansprechpartner finden.

BSZ Zentralratspräsident Josef Schuster hat Deutschlands Jüdinnen und Juden sogar schon geraten, in Großstädten nicht mehr mit Kippa auf die Straße zu gehen.
Spaenle Ja, und das ist erschreckend. Es mag vielleicht hochtrabend klingen, aber es ist doch so: Der Umgang, den Jüdinnen und Juden in unserer Gesellschaft erfahren, ist ein Ausdruck über den zivilisatorischen und humanitären Zustand unserer Gesellschaft. Wir brauchen eine Kultur des Hinschauens. Wenn Menschen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Religion sich besonderen Anfechtungen ausgesetzt sehen, ist das eine Einschränkung ziviler Freiheit. Dass die Toleranzschwellen sinken, hat auch etwas mit dem Internet zu tun, wo im „Nirwana des Wahnsinns“ nahezu alles möglich ist. Aber es geht letztendlich um die Frage der Menschwürde im Alltag. Und die Zivilgesellschaft muss sich hier ein Stück weit selber schützen, das heißt, sie muss reagieren und selbst auch Grenzen des Handelns und dessen Akzeptanz setzen.
(Interview: Angelika Kahl)

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