Politik

Ob das Feiern junger Menschen der Hauptgrund für die steigenden Fallzahlen ist, ist unklar. (Foto: dpa/Felix Hörhager)

09.10.2020

"Junge Partygänger nicht zum Sündenbock machen"

Statistiker Helmut Küchenhoff über verfälschte Corona-Zahlen, mehr Vertrauen der Politik zum Volk und die Frage, warum bundeseinheitliche Pandemie-Regeln problematisch wären

Mit Zahlen den Pandemie-Verlauf vorhersagen? Das kann Professor Helmut Küchenhoff, der das Statistische Beratungslabor an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität leitet. Er warnt im BSZ-Interview davor, den aktuellen Infektionsanstieg mit dem im März zu vergleichen, räumt mit Corona-Mythen auf und erklärt, warum die Grenzwerte relativ willkürlich gewählt wurden.

BSZ: Herr Küchenhoff, Sie haben das Nowcasting-Verfahren entwickelt – eine statistische Methode, um den Corona-Verlauf vorherzusagen. Wie geht’s also weiter?
Helmut Küchenhoff: Man muss zwischen Deutschland und Bayern unterscheiden. Nach unseren Berechnungen gab es im Freistaat am 14. September 400 Neuerkrankungen – mit Stand 4. Oktober sind es lediglich circa 330. Man kann also von einer Stabilisierung oder sogar von einem Rückgang sprechen. Auch in München ist die Zahl von ihrem Höchststand am 14. September mit 130 Neuinfizierten inzwischen wieder auf unter 100 gesunken. Aber natürlich kann man nicht ausschließen, dass die Zahlen wie aktuell in Berlin oder Nordrhein-Westfalen wieder steigen.

BSZ: „Wer suchet, der findet“, heißt es in der Bibel. Gilt das auch für Corona?
Küchenhoff: Natürlich hängt die Steigerung der Corona-Fälle auch mit einem vermehrten Testaufkommen zusammen. Erstens wegen der Dunkelziffer. Es ist zwar noch nicht empirisch belegt, aber man erkennt durch die zusätzlichen Tests mehr Infizierte, die sonst übersehen worden wären. Zweitens erhöht sich der Anteil falsch-positiver Tests, je mehr insgesamt getestet wird. Daher lassen sich die Zahlen vom März nicht mit den aktuellen vergleichen. Bei uns starten die Grafiken aus diesem Grund erst im Mai. Einen Anstieg bei den Neuinfizierten gibt es aber dennoch – möglicherweise ist er eben nur weniger stark.

BSZ: „Corona ist mit voller Wucht wieder da“, sagte Ministerpräsident Markus Söder Ende September. Stimmen Sie ihm zu?
Küchenhoff: Mit der Wucht wie im März ist Corona definitiv nicht zurück. Der jetzige Anstieg war ja deutlich schwächer als im Frühjahr. Aber von einer zweiten Welle lässt sich durchaus sprechen – auch im Hinblick auf die Lage in unseren Nachbarländern. Insofern ist es gut, wenn man die Bevölkerung warnt. Wir haben in unserem sogenannten Regressionsmodell mit Bruchpunkten herausgefunden, dass Appelle zum Social Distancing und das Verbot von Massenveranstaltungen dazu beigetragen haben könnten, dass die Zahlen in Deutschland nicht stärker gestiegen sind. Bundeskanzlerin Angela Merkels Aufruf im März, soziale Kontakte zu vermeiden, war nach unseren Berechnungen verbunden mit einem Wechsel von mehr zu weniger Ansteckungen. Daher könnte man auch aktuell der Bevölkerung inzwischen ein wenig mehr vertrauen.

BSZ: Corona-Kritiker verweisen gern auf Schweden, wo man die Pandemie bisher auch ohne Lockdown in den Griff bekam.
Küchenhoff: Damit habe ich mich nicht intensiver beschäftigt. Generell scheinen die skandinavischen Länder aktuell nicht so stark betroffen zu sein. Aber auch Italien hat vergleichsweise niedrige Infektionszahlen.

BSZ: Für die steigenden Zahlen werden zunehmend junge, feiernde Menschen verantwortlich gemacht. Aber lässt sich das Infektionsgeschehen auf einer Feier nicht einfach nur besser nachvollziehen als zum Beispiel in der U-Bahn oder im Supermarkt?
Küchenhoff: Völlig richtig! Es lässt sich kaum sagen, wo sich die Menschen infizieren. Das Bayerische Landesamt für Gesundheit versucht das zwar zu dokumentieren, sagt aber selber, dass eine Rückverfolgung schwierig ist. Ein weiterer interessanter Punkt: Wir haben bei unseren Berechnungen die Neuinfizierten nach Altersgruppen aufgeteilt. Dabei zeigt sich, dass aktuell die Zahl bei jungen Menschen in Bayern gegen den Bundestrend gesunken ist.

BSZ: Die Positivrate, also der prozentuale Anteil der positiven Tests an den Tests insgesamt, ist trotz der gestiegenen Infektionszahlen relativ konstant geblieben. Wie erklären Sie sich das?
Küchenhoff: Die Positivrate ist nicht geeignet, das Infektionsgeschehen abzubilden, wie folgendes Beispiel zeigt: Fünf Personen sind mit Symptomen infiziert und diese und deren Umfeld von 95 nicht infizierten Personen werden getestet. Es ergibt sich eine Rate von fünf Prozent. Wenn 50 infizierte Personen mit ihrem Umfeld von 950 nicht Infizierten getestet werden, ergibt sich ebenfalls eine Positivrate von fünf Prozent. Allerdings hat sich die Anzahl der Infizierten verzehnfacht. Die Positivrate eignet sich, um zum Beispiel das Infektionsgeschehen bei den Reiserückkehrern miteinander zu vergleichen, wenn alle getestet werden, oder bei einer repräsentativen Stichprobe.

BSZ: Aktuell ergreifen Städte Schutzmaßnahmen, wenn es mehr als 35 Neuansteckungen pro 100 000 Einwohner in den letzten sieben Tagen gab. Ist das ein geeignetes Instrument?
Küchenhoff: Natürlich ist die Zahl relativ willkürlich gewählt, man hätte genauso gut 30 oder 40 nehmen können. Solche willkürlichen Grenzwerte gibt es aber auch in anderen Bereichen, zum Beispiel bei Schadstoffen im Essen. In dem Fall hat man sich daran orientiert, bei wie vielen Personen die Gesundheitsämter Infektionsketten noch nachvollziehen und nachverfolgen können. Bei einem gemittelten Wert in sieben Tagen ist man trotz Meldeverzug sehr nah an der Realität.

BSZ: Für München ermittelten das Robert Koch-Institut (RKI) und das Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL) unterschiedliche Inzidenzwerte. Auch beim R-Wert kam es schon zu Verwirrungen. Wie kann das sein?
Küchenhoff: Das hängt mit der Systematik des Meldewesens zusammen. Die neuen Zahlen gehen erst zum Gesundheitsamt, dann zum LGL und dann zum RKI. Durch den unterschiedlichen Zeitpunkt der Veröffentlichung können sich Abweichungen ergeben – das heißt aber nicht, dass die Zahlen falsch sind. Alle nutzen dieselbe Datenbank.

BSZ: Die Staatsregierung fordert bundesweite Corona-Ampeln mit einheitlichen Maßnahmen. Eine gute Idee?
Küchenhoff: Ich halte einheitliche Regelungen für problematisch, allein schon wegen der Unterschiede zwischen Stadt und Land. Bei steigenden Infektionszahlen sind womöglich auf Rügen keine Gesichtsmasken im Freien erforderlich, in Berlin aber beispielsweise schon. Keiner kennt die Antwort auf den richtigen Umgang mit der Pandemie. Ich halte es daher nicht verwerflich, wenn es Unterschiede zwischen den Bundesländern gibt

BSZ: Gibt es Corona-Statistiken, bei denen sich Ihnen die Nackenhaare aufstellen?
Küchenhoff: Ich halte einige Grafiken für ungünstig, ja. So sollte beispielsweise die Zahl der Neuinfizierten im Ländervergleich nicht in absoluten Zahlen, sondern immer auf die Gesamtbevölkerung bezogen dargestellt werden. Dann würde man zum Beispiel sehen, dass Österreich aktuell unterm Strich viel mehr Neuinfektionen hat als Deutschland, auch wenn das in absoluten Zahlen natürlich anders aussieht.

BSZ: Wie könnten Ihre Corona-Prognosen genauer werden?
Küchenhoff: Aktuell wird zwar erfasst, wie viele Intensivbetten mit Corona-Patienten belegt sind. Wenn aber die Zahl sinkt, wissen wir nicht, ob sie jetzt gestorben oder wieder gesund sind. Daher wäre für uns wichtig zu wissen, wie viele Corona-Patienten neu in die Krankenhäuser eingewiesen werden. Es wäre wünschenswert, wenn die Erfassung gesetzlich verpflichtend wäre. Generell gibt es bei der Ausbreitung und Berechnung der Corona-Pandemie aber viele Unsicherheiten – allein schon wegen der Superspreader. Wenn die Ausbreitung der Epidemie in einer Stadt von einem Superspreader verursacht werden kann, hängt natürlich viel vom Zufall ab.

BSZ: Freuen Sie sich schon, wenn Sie sich nicht mehr um Corona-Statistiken kümmern müssen?
Küchenhoff: Ach, auch beim Feinstaub gibt es harte Diskussionen darüber, wie genau die Exposition abläuft. Mein Spezialgebiet sind Messfehler und Unsicherheiten. Insofern stört es mich nicht, mich noch länger mit Corona zu beschäftigen. Ich freue mich aber trotzdem auf das Ende, weil ich endlich wieder wie früher in Kneipen und auf Großveranstaltungen gehen möchte. (lacht)
(Interview: David Lohmann)

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