Politik

20.07.2015

Kampf und Katastrophe - Bundeswehr wirbt um Reservisten

60 Jahre nach ihrer Gründung droht die Bundeswehr zum Fremdkörper zu werden

Der Spieß brüllt, die Kompanie steht stramm und nicht
nur im Unteroffiziersheim herrscht ein ordinärer Ton. So haben
Millionen von Wehrdienstleistenden die Bundeswehr erlebt. Die meisten
von ihnen wollen nichts mehr davon wissen. Einige aber kehren
freiwillig als Reservisten zurück - und wundern sich: Wie sich
Deutschlands Armee 60 Jahre nach ihrer Gründung verändert hat. Wie
sie sich ein neues Image zulegt. Und mit welchen Problemen sie heute
kämpft.

Vor dem Dienstantritt geht's in die Kleiderkammer. Kampfschuhe,
Feldhosen, Unterhemden, Feldjacken, Feldmütze Sommer, Feldmütze
Winter, Fingerhandschuhe, Hosengürtel, Hosenträger: Mehr als 30
Kleidungsstücke landen in der Kampftragetasche des Reservisten. Nur
der Gefechtshelm fehlt. Denn der hat eine Schraube locker und ist
daher "dem Auslandseinsatz vorbehalten", wie die Mitarbeiterin der
LHBw Bekleidungsgesellschaft erklärt.

Tatsächlich räumte das Verteidigungsministerium im Mai ein, dass eine
Schraube am Helm nicht ausreichend gegen Splitter geschützt ist und
ausgetauscht werden muss. Zehntausende Exemplare sind betroffen. Auch
alle 167.000 Exemplare des Sturmgewehrs G36 sollen ausgemustert oder
nachgerüstet werden. Bei großer Hitze oder Dauerfeuer schießt es
angeblich nicht mehr genau. Ist die Bundeswehr nur noch bedingt
einsatzbereit? Schüsse hallen über den Platz

Auf der Standortschießanlage Landstetten in Oberbayern ist nichts
davon zu spüren. Schüsse hallen über den Platz. "Schütze! Waffe klar
zum Gefecht! Drei Ziele, fünfmal Einzelfeuer!" Stabsfeldwebel Olaf
Germershaus gibt kurze Kommandos und kontrolliert streng: Füße
hüftbreit spreizen, Magazin der Pistole P8 überprüfen, entsichern,
entspannen, Finger nach jedem Schuss gedrückt halten. Die Reservisten
lernen: Schießen ist nicht Rumballern, sondern Kopfsache.
Von Landstetten aus scheint Afghanistan weit weg. Doch der
Auslandseinsatz am Hindukusch hat vieles verändert, auch das
Schießtraining. Germershaus spricht vom "nSAK" - beim Bund hat alles
eine Abkürzung - und meint damit das "Neue Schießausbildungskonzept".
Geübt wird jetzt vor allem der schnelle Schuss auf kurze Distanz, aus
der Bewegung heraus. Das Szenario: nicht mehr das offene Feld mit
Schützenpanzern und einem von weitem erkennbaren Feind, sondern die
Patrouille in einer engen Gasse, der plötzliche Angriff aus
unmittelbarer Nähe.

"Kamerad, da schauen noch Haare heraus!" Solche Fehler können im
Ernstfall tödlich sein. Da wird selbst der freundliche Hauptmann Eric
Pauli sehr ungnädig. Als Ausbildungsoffizier ist er in Landstetten
für den ABC-Drill zuständig. Die ABC-Maske soll vor atomaren (A),
biologischen (B) und chemischen (C) Kampfstoffen schützen. Jeder
Soldat muss sie innerhalb von sieben Sekunden aufsetzen können -
nicht nur für Reservisten eine Herausforderung.

Individuelle Grundfertigkeiten unter Beweis stellen


Oberstleutnant Carsten Spiering steht in der Hierarchie deutlich über
Pauli, aber jetzt liegt er ihm zu Füßen. Verzweifelt versucht er, die
engen Gummistiefel wieder auszuziehen, in die er sich mit seinen
Kampfstiefeln gezwängt hat. Auch Spiering muss - wie jeder Soldat -
einmal im Jahr seine "individuellen Grundfertigkeiten" unter Beweis
stellen.

Also zum Beispiel den Umgang mit der ABC-Schutzkleidung: Luftdichte
Gummihose, Poncho, Maske, Gummistiefel. Schon nach wenigen Sekunden
läuft den Schweiß in Rinnsalen über den abgeschnürten Körper. Giftgas
kann von außen jetzt nicht mehr eindringen, Luft aber auch nicht.
Marschieren, schießen, sich gegen Kampfstoffe schützen - so stellt
man sich Soldaten vor. Oder nicht? Manche in der Bundeswehr trauern
der alten Zeit hinterher. Damals gab es noch keine Frauen beim Bund
und der Spieß konnte rumbrüllen, soviel er wollte. Kitas und
Blümchen-Tapeten in Kasernen waren noch kein Thema, Karrierechancen
für Frauen und Überstundenerfassung auch nicht.

Nicht der Kampfeinsatz, sondern die Katastrophenhilfe stehe im
Vordergrund - ein Softie-Image, monieren manche. So weit geht Prof.
Ursula Münch von der Bundeswehr-Uni in München nicht. Aber auch sie
mahnt: "Bei der Bundeswehr sollte man nicht nur an Hochwasser und
Sandsäcke denken."

Filigranes Gerüst der "zivil-militärischen Zusammenarbeit"

Für Oberstleutnant Alexander Claus ist das eigentlich ein Lob. Denn
genau das ist ja sein Job: dass die Bundeswehr bei Hochwasser,
Großbränden, Lawinen und anderen Katastrophen eng mit den zivilen
Behörden - Städten, Landratsämtern, Bezirks- und Landesregierung -
zusammenarbeitet. Soldaten waren zum Beispiel bei der
Hochwasserkatastrophe 2013 im Einsatz, bei der Rettung des
Höhlenforschers Johann Westhauser 2014 und beim G7-Gipfel 2015.
Claus sitzt im Besprechungszimmer der Ulrich-Kaserne im schwäbischen
Kleinaitingen. Über ihm ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto seiner
Ministerin Ursula von der Leyen. Mit einem Beamer wirft er Tabellen
und Grafiken an die Wand. Sie zeigen - mit vielen schrecklichen
Abkürzungen - das filigrane Gerüst der "zivil-militärischen
Zusammenarbeit". "Ich vermisse die Wehrpflichtigen schon", sagt
Claus. "Wir sind jetzt stärker auf die Reservisten angewiesen und ein
bisschen überaltert. Die sind im Schnitt 50 Jahre alt."

Früher war der Nachwuchs gesetzlich garantiert. Seit Aussetzung der
Wehrpflicht vor vier Jahren muss die Bundeswehr um ihn kämpfen. Und
sie muss netzwerken. Zum Beispiel in der Generaloberst-Beck-Kaserne
auf dem Kalvarienberg von Sonthofen. Die ehemalige Ordensburg zur
Schulung des NS-Kaders, in der Hitler und Himmler Reden hielten, ist
- wie die ganze Bundeswehr - eine imposante Baustelle. In ihrem Turm
hingen mal 16 Glocken. Heute klaffen auf dem Exerzierplatz
Schlaglöcher, der Putz bröckelt. Von den Wiesen der Allgäuer Alpen im
Hintergrund hört man Kuhglocken.

30 Soldaten im Feldanzug stehen dort bei Nieselregen in Reih und
Glied. 30 Soldaten? Nun ja, eigentlich sind es Banker, Manager,
Industrielle, Wissenschaftler, Richter, Politiker, Verwaltungsbeamte,
Journalisten - Führungskräfte des öffentlichen Lebens. Eine Woche
lang wollen sie das Soldatenleben kennenlernen.

Auch die Grünen finden, dass die Bundeswehr nötig ist

Eine von ihnen ist Doris Wagner. Die Bundestagsabgeordnete der Grünen
sitzt im Verteidigungsausschuss und steht jetzt im Feldanzug stramm
zum Gelöbnisappell. Was ihre Fraktionskollegen wohl sagen würden,
wenn sie sie jetzt sähen? So ganz wohl scheint sich Wagner bei diesem
Gedanken nicht zu fühlen, aber sie ist sich sicher: "Insgesamt hat
sich bei den Grünen die Überzeugung durchgesetzt, dass die Bundeswehr
notwendig ist." Auch wenn sich einiges ändern müsse, zum Beispiel
eine stärkere Abgrenzung von der Rüstungsindustrie.
Einmarsch der Truppenfahne. "Ehrenformationen angetreten!" hallt es
durch die Burg. "Augen geradeee-aus!" Das Gebirgsmusikkorps
Garmisch-Partenkirchen schmettert den Defiliermarsch.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hält eine Rede. "Als
Oberstleutnant der Reserve fühle ich mich der Bundeswehr und den
Kameraden verbunden", sagt er. Nach dem Wegfall der Wehrpflicht sei
die Bundeswehr vermehrt auf Reservisten angewiesen - und angesichts
des islamistischen Terrors und der russischen Drohgebärden müsse sie
gestärkt werden.

Mehr als 600.000 Reservisten gibt es in Deutschland - ein riesiges
Potenzial. Allein in Bayern sind 150.000 verbandlich organisiert.
Doch darunter sind viele "Karteileichen", die schon lange nicht mehr
aktiv sind. Offiziell beordert - also fest eingeplant für einen
bestimmten Dienstposten - sind derzeit nur 29.000 Reservisten.
Jetzt wird es ernst. Die Soldaten geloben, "der Bundesrepublik
Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des
deutschen Volkes tapfer zu verteidigen". "Darf ich Sie anfassen?"
fragt ein Offizier die Grünenpolitikerin Wagner. Sie bekommt
Dienstgradabzeichen und einen Schlag auf beide Schultern. Damit ist
sie zum Oberleutnant ernannt. Multiplikatoren gewinnen

Mit der einwöchigen Informationswehrübung will die Bundeswehr
Multiplikatoren gewinnen, Personalverantwortliche aus der freien
Wirtschaft oder dem öffentlichen Dienst. Diese sollen ihre
Mitarbeiter auch mal in Reserveübungen ziehen lassen - und keine
Berührungsängste haben, wenn ein Ex-Soldat sich bei ihnen bewirbt.
Auch Karl-Friedrich Schwagmeyer hat soeben sein Gelöbnis abgelegt.
Der 62-Jährige ist Vorsitzender der Geschäftsleitung der Commerzbank
Köln. "In der freien Wirtschaft werden gerne Soldaten eingestellt",
meint er. "Sie zeichnen sich aus durch Genauigkeit, gelebte
Geradlinigkeit, Personalerfahrung und Organisationstalent."
So sehen das am nächsten Abend auch die Teilnehmer des
"Netzwerkstammtisches" des Landeskommandos Bayern. Im Kasino der
Münchner Ernst-von-Bergmann-Kaserne duftet es nach Grillfleisch und
Kartoffelsalat. Viele Offiziere sind da und stoßen mit den Gästen an.
Zum Beispiel mit Klaus Schmidt, Public Policy Manager bei Amazon. Bis
2009 war er aktiver Soldat, jetzt meldet er sich als Oberstleutnant
der Reserve jedes Jahr etwa vier Wochen beim Bund. "Ich habe viel an
Förderung erfahren und möchte jetzt einen Teil zurückgeben", sagt der
37-Jährige. Reservisten seien wichtige Mittler zwischen Bundeswehr
und Gesellschaft. "Da ist noch viel Spielraum, um für sie attraktiver
zu werden."
(Bernward Loheide, dpa)

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