Politik

Künftig könnten es noch mehr Parteien in den Bundestag schaffen, sagen Experten. Der nächste Umbau ist also vorprogrammiert. (Foto: dpa)

08.12.2017

"Längerfristig mehr als sieben Parteien im Bundestag"

Das Parteiensystem befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel: Wie führende Politologen die wachsende Zersplitterung beurteilen

Die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen könnten nur ein Vorgeschmack sein – namhafte Politologen sehen das Parteiensystem in einem massiven Wandel. Der Passauer Professor Heinrich Oberreuter geht sogar davon aus, dass es neben Linken, Grünen, FDP und AfD möglicherweise noch weitere kleinere Parteien in den Bundestag schaffen könnten. Mehrere Politologen fürchten auch um die Stabilität künftiger Regierungen. Für die Volksparteien war die jüngste Bundestagswahl ein Desaster. Selbst die sonst eher nüchterne Frankfurter Allgemeine Zeitung sah das politische System „unter Schock“. SPD und vor allem die Union verloren deutlich, kamen zusammen nur noch auf etwas mehr als die Hälfte der Wählerstimmen. Zum Vergleich: 1998 hatten noch mehr als drei Viertel der Wähler ihr Kreuz bei einer der drei Volksparteien gemacht. 1983 belief sich dieser Wert sogar noch auf 87 Prozent.

Von einem „dramatischen Rückgang“ spricht deshalb der Mainzer Politik-Professor Gerd Mielke. Sein Passauer Kollege Heinrich Oberreuter sieht gar ein „Erodieren der Volksparteien“.

Und der Trend könnte anhalten: Mehrere renommierte Politikforscher gehen im Gespräch mit der Staatszeitung davon aus, dass sich das Parteiensystem dauerhaft massiv verändern könnte. Die Parteienlandschaft werde weiter zersplittern, prophezeien sie – als Folge würden die Regierungsbildung und das Regieren künftig spürbar schwieriger werden.

Kleine Parteien profitieren vom Wegbrechen der Stammwähler

Klar ist: Erstmals seit gut sechs Jahrzehnten sitzen wieder sechs Parteien im Bundestag. Und nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen galt vorübergehend etwas beinahe Undenkbares als wahrscheinlichste Variante: Neuwahlen nur kurze Zeit nach dem eigentlichen Wahltermin. Nun sieht es zwar so aus, als ob die SPD ihr Nein zu einer großen Koalition überdenkt.

Glaubt man namhaften Politologen, wird das Schmieden von Regierungen künftig sogar noch schwieriger werden. Aus Sicht von Mielke sowie dem Münchner Politik-Professor Werner Weidenfeld zeigen die Ergebnisse der Bundestagswahl einmal mehr, dass sich das Wahlverhalten seit einigen Jahren grundlegend verändert. Über Jahrzehnte beinahe selbstverständliche Automatismen, etwa dass Arbeiter zumeist SPD oder Katholiken Union wählen, gelten nur noch sehr eingeschränkt. So waren laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) unter den berufstätigen SPD-Anhängern nur noch 17 Prozent Arbeiter. Im Jahr 2000 lag dieser Wert noch bei 44 Prozent. Zwar hat der Anteil der Arbeiterschaft an der Gesamtbevölkerung zwischen 2000 und 2016 ebenfalls abgenommen – jedoch in einem weit geringeren Tempo.
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Doch auch für CDU und CSU bleibt das Wegbrechen traditioneller Bindungen nicht folgenlos: Während bei den Bundestagswahlen 2013 noch mehr als jeder zweite Katholik die Union wählte, waren es laut Forschungsgruppe Wahlen diesmal nur 44 Prozent. Aufgrund des Wegbrechens klassischer Wählermilieus nimmt die Zahl der Wechselwähler seit Jahren beständig zu, analysiert Weidenfeld, Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung. In der Folge werde das Parteiensystem „fluider und bunter“.

Was der ehemalige Berater der Regierungen Kohl und Schröder meint: Das in den Parlamenten vertretene Parteienspektrum wird breiter, und als Folge werden die in den Landtagen und im Bundestag vertretenen Positionen ausgefallener.

Für Heinrich Oberreuter, der viele Jahre die Akademie für Politische Bildung in Tutzing leitete, ist ebenfalls klar: „In der Wahl drückt sich die zunehmende Individualisierung und Pluralisierung der Gesellschaft politisch aus.“ Die Folge dieser Entwicklung sei eine weitere Differenzierung des Parteiensystems. „Die Großen nehmen ab, die Kleinen stabilisieren und vermehren sich neben ihnen.“ Die Stabilität der Volksparteien erodiere, so der Politikprofessor.

Tatsächlich legten die kleineren Parteien, die in der Regel sehr unterschiedliche Interessen vertreten, zuletzt kräftig zu: Grüne und Linke kamen auf ihre zweitbesten Ergebnisse überhaupt bei Bundestagswahlen. Und neben der in Teilen völkischen AfD kam auch die FDP. Mehrere Politologen trauen der AfD zu, auf Bundesebene durchaus zu einer festen Größe im Politikbetrieb zu werden.
„Sollte die AfD sich nicht selbst zerstören, wird sie im rechten Bereich das werden, was erst die Grünen, später die Linke im linken Bereich waren, und zwar auf Landes- wie auf Bundesebene“ – davon ist der konservative Dresdner Politikforscher Werner Patzelt überzeugt. Die Partei habe die Möglichkeit, sich sowohl im Osten als auch im Westen dauerhaft zu etablieren, sagt auch Oberreuter. Grundsätzlich sei „für eine Partei der politischen Rechten Raum im Parteiensystem“.

Koalitionsbildungen werden künftig wohl immer schwieriger

Oberreuter geht davon aus, dass die kleineren Parteien auch in den kommenden Wahlen weiter von der Schwäche der Volksparteien profitieren. „Auf lange Sicht könnten unter Umständen sogar mehr als sieben Parteien auf Bundesebene eine Rolle spielen“, prophezeit er. „Heute ist es die AfD, morgen vielleicht schon eine andere Partei, die einem Anliegen oder einer Lebensstilgruppe Ausdruck verleiht.“ Für ihn ist klar: „Je mehr Parteien ins Parlament kommen, und je kleiner die großen Parteien werden, umso schwieriger werden Koalitionsbildungen.“ Auch die Stabilität künftiger Regierungsbündnisse werde dadurch wohl in Mitleidenschaft gezogen.

Patzelt hat dieselbe Befürchtung. Der eher SPD-nahe Politologe Mielke spricht ebenfalls von einer „Zersplitterung des Parteiensystems“. Sowohl rot-grüne Mehrheiten als auch schwarz-gelbe Bündnisse sind durch das Auftauchen der AfD und durch die Stärke der Linkspartei immer seltener geworden. Immer öfter müssen deshalb auch Parteien, die eigentlich politische Gegner sind, miteinander zusammenarbeiten. Aus Sicht Mielkes ein Problem. Koalitionsverhandlungen zwischen Parteien, „die verschiedenen ideologischen Lagern angehören, sind weit schwieriger als die zwischen Union und FDP oder SPD und Grünen“.

Das gilt auch bei großen Koalitionen. Während es bei den rot-grünen Bündnissen 1998 und 2002 sowie bei der Koalition aus Union und FDP 2009 nach dem Wahltag nur einen Monat bis zur Vereidigung der Regierung dauerte, vergingen bei der GroKo 2005 gut zwei und bei der Wiederauflage 2013 sogar gut drei Monate.

Und sind drei Fraktionen oder gar vier teils verfeindete Parteien an der Regierung beteiligt, „könnte es schwieriger werden, Kompromisse zu finden“, sagt Mielke. Dies gelte für mögliche rot-rot-grüne, rot-gelb-grüne (SPD, FDP und Grüne) wie eben auch für Jamaika-Bündnisse.

Eine Zusammenarbeit mit der AfD wäre für die Konservativen fatal

Eine Koalition müsse in der Praxis den Interessen verschiedener Strömungen innerhalb der Bundestagsfraktionen gerecht werden. Und die fielen bei Bündnissen dreier Fraktionen oft sehr gegensätzlich aus. „In einer rot-rot-grünen Koalition müssten etwa die Interessen des eher konservativen Seeheimer Kreises der SPD mit denen einer kommunistischen Plattform innerhalb der Linken unter ein Dach gebracht werden.“

Hinzu komme, so Mielke, dass bei sehr wichtigen Beschlüssen mehr Parteigremien mitreden – und gerade bei kleineren Parteien mitunter Sonderparteitage oder Mitgliederentscheide der Entscheidungsfindung vorausgehen könnten. Immerhin dürften Dreier-Koalitionen im besten Fall die Interessen breiterer Bevölkerungsschichten abbilden.

Neu sind Vierer-Bündnisse ohnehin nicht. In den 1950er-Jahren hatten CDU und CSU auf Bundesebene eine Koalition mit der rechten Deutschen Partei (DP) nicht gescheut. Nach der Wahl 1953 hatte die Regierung mit CDU, CSU, FDP, DP und einer Heimatvertriebenen-Partei sogar aus fünf Lagern bestanden. In den Folgejahren gelang es der Union jedoch erfolgreich, die rechte Konkurrenz von der bundespolitischen Bildfläche zu verdrängen.

Dass CDU und CSU auch diesmal die Konkurrenz von rechts einfach aufsaugen, hoffen so manche in der Union. Aus Sicht Weidenfelds undenkbar ist dagegen, dass die Konservativen irgendwann mit der AfD koalieren könnten: „Sie würde damit ihre Glaubwürdigkeit verspielen.“
(Tobias Lill)

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