Politik

Beatmungsgerät im Einsatz. Nicht jeder will im Alter künstlich am Leben gehalten werden. (Foto: dpa-Zentralbild/Hans Wiedl)

23.11.2025

Leben verlängern um jeden Preis?

Der Bundesdrogenbeauftragte und Medizinprofessor Hendrik Streeck (CDU) hat mit der Frage nach zweifelhaften Behandlungen eine wichtige Debatte angestoßen

Früher hatte man sich damit abfinden müssen, in einem gewissen Lebensalter und bei schweren Krankheiten zu sterben. So einfach ist die Welt nicht mehr. Dank Hightech leben Höchstbetagte und Schwerstkranke weiter. Der Preis dafür ist oft hoch: Die Menschen leben, aber leiden. Seit Jahren wird deshalb darüber diskutiert, welche Leistungen im hohen Alter und bei lebensverkürzenden Krankheiten gewährt werden sollen. Der CDU-Abgeordnete Hendrik Streeck, Drogenbeauftragter der Bundesregierung, stieß die Debatte nun wieder an.

Chemotherapien für Hundertjährige?

Vielen Menschen fällt es schwer, für immer von ihren Eltern, von Verwandten oder guten Freunden Abschied zu nehmen. Dass dieser Abschied technisch immer weiter herausgezögert werden kann, führte bereits vor 30 Jahren zu kontroversen Diskussionen. So richtete die Deutsche Sektion der Internationalen Juristen-Kommission 1994 eine Jahrestagung dazu aus: „Lebensverlängerung aus medizinischer, ethischer und rechtlicher Sicht“, lautete das Thema. Medizintechnologische Innovationen, etwa digitalisierte Medizinprodukte, erwecken heute mehr denn je die Hoffnung, womöglich bald ad infinitum leben zu können.

Vor allem im Silicon Valley wird an der Unsterblichkeit geforscht – nicht zuletzt mit Blick darauf, was mit entsprechenden Technologien verdient werden könnte. Auch deutsche Hersteller von Medizintechnik sind natürlich daran interessiert, ihre Produkte zu verkaufen. Nicht zuletzt aus diesem Lager erfährt der Medizinprofessor Streeck Gegenwind. „Die Medizintechnik-Branche arbeitet an Lösungen, um die Lebensqualität zu verbessern und um Leben zu retten“, sagt Manfred Beeres vom Bundesverband Medizintechnologie der Staatszeitung. Diese Lösungen sollten allen zugutekommen. Bedürftige Menschen sollten genauso gut versorgt werden wie Reiche. Frühgeborene genauso gut wie Hundertjährige.

Auf der Homepage des Bundesverbands findet sich ein Register mit Kennzahlen der Gesundheitswirtschaft, deren Bruttowertschöpfung 2024 bei über 490 Milliarden Euro lag. Der Verband stellt auch Fallgeschichten vor. Dort erzählt etwa Angela Jaschke, dass sie mit 80 Jahren über die minimalinvasive Transkatheter-Aortenklappenimplantation (TAVI) eine neue Herzklappe erhielt. Durch TAVI können auch Hochbetagte behandelt werden, so Manfred Beeres. TAVI könne Seniorinnen und Senioren noch viele gesunde, lebenswerte Jahre bescheren. Natürlich ist die Methodik teuer. Was der Gesellschaft dies wert sei, müsse diskutiert werden, so der Sprecher des Bundesverbands.

Der jetzt von vielen Seiten angegangene Hendrik Streeck versucht derweil, darzulegen, dass man ihm nichts Übles anhängen könne. Ihm gehe es nicht ums Sparen. „Sondern darum, Menschen etwas zu ersparen.“ Hochbetagte, meint Streeck, dürften nicht aufgrund falscher Anreize überversorgt werden. Dabei rekurriert Streeck auf eigene Erfahrungen in der letzten Lebensphase seines Vaters.

Unterdessen gibt es nicht wenige Patienten, etwa solche mit Atemwegserkrankung, die durch eine Patientenverfügung einer Lebensverlängerung um jeden Preis vorbeugen möchten. Sie wollen am Ende nicht künstlich ernährt oder künstlich beatmet werden. „In ihrer Patientenverfügung lehnen viele Menschen eine künstliche Beatmung im Notfall oder am Lebensende pauschal ab“, bestätigt der Verein COPD Deutschland. Denn viele schockiert die Vorstellung, in ein künstliches Koma versetzt, intubiert und mehrere Wochen lang an eine Beatmungsmaschine angeschlossen zu werden.

Was will man für sich persönlich bei schnell sich ausbreitendem Krebs oder nach einem desaströsen Unfall? Möchte man dann alle denkbaren Gesundheitsinnovationen für sich nutzen? Nicht nur alte Menschen, sagt Sabine Schermele, setzen sich mit der Frage nach den Grenzen medizinischer Behandlungen auseinander. Sabine Schermele leitet die Zentralstelle Patientenverfügung des Humanistischen Verbands Berlin-Brandenburg. Der erstellt seit über 30 Jahren individuelle Patientenverfügungen mit Vollmachten, um Selbstbestimmung am Lebensende zu wahren.

Sabine Schermele bekommt durch ihre Arbeit hautnah mit, dass viele Menschen am Lebensende nicht alle medizinischen Möglichkeiten ausschöpfen wollen. Sie wünschten nur dann lebensverlängernde Eingriffe, wenn dies mit dem Erhalt oder der Wiedererlangung von Lebensqualität verbunden ist: „Andernfalls soll der Fokus auf palliativen, lindernden Maßnahmen liegen.“ Gleichzeitig gehe es allerdings auch keinem Klienten der Zentralstelle darum, dem Gesundheitssystem Kosten zu sparen.

Die von Hendrik Streeck neuerlich angestoßene Debatte wird ein Dauerthema bleiben, da immer mehr medizinisch möglich wird. Darüber nachzudenken, wie Menschen das Ende ihres Lebens unter dieser Voraussetzung selbst gestalten können, findet der Humanistische Verband wichtig. Allerdings wünscht sich der Verband eine differenziertere Debatte. Das Thema umfasst nun mal unweigerlich ökonomische Seiten.

Häufiger Horror vorm Beatmungsgerät

So teilte das Statistische Bundesamt im August 2025 mit: „Mit fortschreitendem Alter nehmen die Krankheitskosten deutlich zu.“ 2023 seien mit knapp 262 Milliarden Euro über die Hälfte der Gesamtkosten bei der Bevölkerung ab 65 Jahren entstanden.

Für Sabine Schermele ist diese Debatte gefährlich: „Wenn sich eine Hundertjährige für eine Chemotherapie entscheidet, aufgrund positiver Aussichten, sollte dies nicht an der Kostenübernahme scheitern.“

Doch das hat Streeck auch nicht verlangt. Sagte er doch nur: „Nicht alles, was medizinisch möglich ist, ist auch menschlich vertretbar.“

Eigentlich besteht Konsens. Das medizinisch Mögliche sollte keine heilige Kuh sein. „Wir müssen Gesundheit vergüten statt Krankheit“, betont Streeck.

In welchem Maße de facto Krankheit vergütet wird, zeigt die Kostenexplosion bei Arzneimitteln. „Insbesondere die hochpreisigen Arzneimittel mit unzureichender Evidenz und unklarer Langzeitwirkung stellen das solidarische Gesundheitssystem zusehends vor enorme Herausforderungen“, erklärte im Juni der BKK-Dachverband. Klar ist: Hier muss man genauer hinschauen. (Pat Christ)

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