In Bayern führt die alleinregierende CSU schon lange eine Debatte über Sinn und Zweck der sogenannten Leitkultur. Bei der großen Schwester CDU gehen die Meinungen dazu auseinander - wie auch in der übrigen Gesellschaft. Wichtige Fragen und Antworten zu einem der umstrittensten Begriffe in der Zuwanderungspolitik.
Wo kommt der Begriff "Leitkultur" eigentlich her?
Als Erfinder gilt der Göttinger Nahostwissenschaftler Bassam Tibi. Er stammt aus Syrien, hat also auch eigene Erfahrungen mit Integration. Der Politologe hat den Begriff 1998 geprägt. Tibi plädierte damals für eine "Leitkultur", die sich dem Erbe der europäischen Aufklärung verpflichtet sieht. Der damalige Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag, Friedrich Merz, griff den Begriff 2000 auf. Er forderte, Zuwanderer sollten sich "der gewachsenen freiheitlichen deutschen Leitkultur" anpassen.
Wie hat sich der Diskurs seit den Tagen von Merz verändert?
Damals protestierten vor allem die Grünen und der Zentralrat der Juden gegen die Idee einer "Leitkultur". Kritik kam auch von einigen SPD-Politikern. Heute beteiligen auch die islamischen Verbände und Migrantenvereine aktiv an der Debatte. Sie sind jetzt besser organisiert. Viele Migranten und ihre Nachfahren lehnen den Gedanken einer "Leitkultur" ab. Verbände wie die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (Ditib) fordern von den Repräsentanten des Staates vielmehr einen Dialog "auf Augenhöhe".
Was heißt das konkret?
Das heißt, sie wollen, dass ihre Religion und die Kultur ihrer Herkunftsstaaten als gleichwertig anerkannt werden. In einem Offenen Brief, der sich gegen das aktuelle Parteiprogramm der AfD richtet, erklären muslimische Wissenschaftler, Künstler und Politiker: "Die deutsche Rechtsordnung ist der verbindliche Rahmen unseres Zusammenlebens. In ihr können sich alle Menschen mit ihren verschiedenen Überzeugungen und Lebensstilen friedlich entfalten. Gerade das macht unser Land aus." Zu den Erstunterzeichnern gehören der Comedian Abdelkarim, die CDU-Bundestagsabgeordnete Cemile Giousouf, die Theologin Tuba Isik, eine Bundeswehrsoldatin, und der Schriftsteller Feridun Zaimoglu.
Wer liefert sonst noch Argumente?
Die muslimische Religionspädagogin Lamya Kaddor bezeichnet sich selbst als "Verfassungspatriotin". In ihrem neuen Buch "Die Zerreißprobe" warnt sie vor einer um sich greifenden "Deutschomanie" und fordert: "Wir brauchen ein neues deutsches Wir". Kaddor bezeichnet sich selbst als liberale Muslimin. Sie sagt, als Reaktion auf das Buch habe sie viele Drohungen und Hassbriefe erhalten.
Was erhoffen sich die heutigen Befürworter der Leitkultur?
Für die CSU ist die Leitkultur ein Schlüssel für eine gelungene Integration von Flüchtlingen und Asylbewerbern. CSU-Chef Horst Seehofer sagte in seiner Regierungserklärung vergangene Woche: "Wer bei uns leben will, der muss mit uns leben wollen." Die CSU hat den Begriff in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen, er ist Grundlage des bayerischen Integrationsgesetzes und er soll auch in der Verfassung verankert werden. Damit liege seine Partei im Trend, meint der Vorsitzende der CSU-Grundsatzkommission Markus Blume. Er sagt: "Konservativ sein ist wieder modern und wird auch nachgefragt."
Was sagt die CDU?
Angesichts von Veränderungen in der Gesellschaft brauche es Verbindliches und Verbindendes, betonte CDU-Generalsekretär Peter Tauber vor einigen Tagen in einem Gastbeitrag für die "Welt". "Für uns Christdemokraten ist das die deutsche Leitkultur", schrieb er. "Sie ist mehr als nur das Grundgesetz. Es sind die Werte, die das Zusammenleben in unserem Land ausmachen - beispielsweise dass wir eine Aufsteigergesellschaft sind, dass sich Leistung lohnt, dass wir stolz auf Schwarz-Rot-Gold sind." Nach den Erfolgen der AfD bei den vergangenen Wahlen hat die Zahl der Befürworter eines konservativeren Kurses der CDU zugenommen. Es ist eine Gegenbewegung zum Kurs von CDU-Chefin Angela Merkel, die CDU weiter in die Mitte bewegen zu wollen. (
Marco Hadem und Anne-Beatrice Clasmann, dpa)
Hintergrund: CSU und Sachsen-CDU setzen mit Leitkultur auf konservatives Profil
Nach den Wahlerfolgen der rechtspopulistischen AfD wollen die CSU und die sächsische CDU das konservative Profil der Union schärfen. Dafür stellten sie am vergangenen Freitag in Berlin einen "Aufruf zu einer Leit- und Rahmenkultur" vor, in dem es um gelebten Patriotismus und Heimatliebe geht. Das Papier sei "ein klares Signal, was das Profil der Union insgesamt angeht", sagte der Vorsitzende der CSU-Grundsatzkommission und Mitverfasser, Markus Blume.
Zur Leitkultur gehörten nicht nur Werte und Rechtsnormen der demokratischen Grundordnung, heißt es in dem Papier. "Zu ihr gehören auch Übereinkünfte, die von der Regelung des Alltagslebens bis zur Ausgestaltung der Rolle Deutschlands in Europa und der Welt reichen." Dazu zählten etwa ein abendländisches Wertefundament, der Gebrauch der deutschen Sprache im öffentlichen Raum und "Stolz auf unsere Nation". Die schwarz-rot-goldene Fahne und die Nationalhymne seien wichtige Symbole Deutschlands.
Mit dem Papier wollen die Verfasser nach eigener Aussage auch den "wertehaltigen Patriotismus" nicht den "Falschen" überlassen. Das seien Gruppierungen, die Patriotismus in Richtung Nationalismus missverstehen, sagte Johannes Singhammer, Vizepräsident des Deutschen Bundestages. "Wir wollen in einer Zeit des Umbruchs Orientierung geben, weil wir glauben, dass die Menschen das von uns erwarten."
Patriotismus sei gleichzeitig eine Basis für die Integration von Zuwanderern. "Das alles sind sehr konkrete Wege für Zuwanderer, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren", schreiben die Autoren mit Blick auf ihr Verständnis von Leitkultur. "Wir erwarten, dass diese Wege auch beschritten werden." Ob es für Zuwanderer, die sich dieser Leitkultur nicht verschreiben möchten, Konsequenzen geben sollte, wollten die Verfasser nicht konkretisieren. Das Papier sei als eine "offene Einladung" auf Basis der Rechtsordnung zu verstehen. (dpa)
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