Politik

Einer von zwölf beispielgebenden Orten: das Alte Rathaus in Regensburg, wo es ab 1595 eine Vorform des modernen Parlamentarismus gab. (Foto: dpa/Weigel)

30.10.2020

Leuchtende Vorbilder

Künftig soll sich Erinnerungsarbeit in Bayern nicht nur auf die Schrecknisse fokussieren, sondern Positivbeispiele hervorheben

Der Landtag will Bayerns „Orte der Demokratie“ sichtbar machen und in das Konzept einer Erinnerungskultur integrieren, dessen Schwerpunkt bislang Gedenkstätten für die Gräuel der Nazi-Diktatur sind. Ein wissenschaftlicher Beirat unter der Leitung von Ferdinand Kramer, dem Vorsitzenden der Kommission für bayerische Landesgeschichte, und Ludwig Spaenle (CSU), dem Beauftragten der Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe, hat dazu unter 75 Vorschlägen zunächst zwölf beispielgebende Orte ausgewählt. Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) nannte sie bei der Vorstellung „Schauplätze der bayerischen Demokratie, die Aufmerksamkeit verdienen“.

Ausgangspunkt ist das Maximilianeum in München, der Sitz des Landtags seit 1949. Aufgenommen wurde aber auch die Münchner Prannerstraße 8, wo der Landtag vorher von 1819 bis 1933 beheimatet war, sowie der Spiegelsaal der Harmonie in Bamberg, in dem 1919 nach den Revolutionswirren in München der Exil-Landtag zusammenkam und die erste demokratische Verfassung Bayerns verabschiedete. Der Blick richtet sich aber zurück bis ins ausgehende Mittelalter. Als Ort der Demokratie gilt deshalb auch das Haus der Kramerzunft in Memmingen. Dort verfassten rund 50 Bauernvertreter in den Jahren 1524 bis 1526 zwölf Artikel mit Forderungen zu Menschen- und Freiheitsrechten. Zudem wurde das Alte Rathaus in Regensburg ausgewählt, weil in diesem von 1595 bis 1663 der „immerwährende Reichstag“ als Vorform des modernen Parlamentarismus zusammengetreten war.

Der Beirat entschied sich aber auch für weniger bekannte oder auf den ersten Blick weniger markante Ereignisse. Beispiele dafür sind der Politische Aschermittwoch in Vilshofen als Ort außergewöhnlicher Debattenkultur, das kleine Dorf Wohlmuthshüll in der Fränkischen Schweiz, in dem im Juli 1945 die ersten demokratischen Wahlen Bayerns nach der NS-Diktatur stattfanden, und das unterfränkische Gaibach, in dem 1832 mehrere Tausend Teilnehmer liberale und demokratische Reformen gefordert hatten. Als Beispiel für zivilgesellschaftlichen Protest zählt künftig Ermershausen im Landkreis Haßberge zu den Orten der Demokratie. Dort wehrten sich die Bewohner in den 1970er- und 1980er-Jahren erfolgreich mit Barrikaden und Rathausbesetzungen gegen die Eingemeindung ins benachbarte Maroldsweisach. Weitere Orte der Demokratie befinden sich in Nürnberg, Passau und auf der Insel Herrenchiemsee.

Aigner erklärte, mit der Ausweisung der „Orte der Demokratie“ wolle man einen neuen Weg der Erinnerungskultur beschreiten. „Die vielleicht größte Gefahr für unsere Demokratie liegt in ihrer vermeintlichen Selbstverständlichkeit“, sagte Aigner. Deshalb solle die Geschichte der Demokratie in Bayern an diesen Orten konkret fassbar werden. Sie erhoffe sich vor allem, dass junge Menschen über die in ganz Bayern verteilten Orte einen Zugang dazu fänden, wie die Demokratie im Freistaat erarbeitet und erstritten worden sei. Ab Herbst 2021 sollen die Orte der Reihe nach eine Gedenkstätte erhalten. Geplant seien ein von Künstler*innen gestaltetes Objekt sowie erläuternde Informationstafeln. Außerdem sollen die Orte virtuell besucht werden können. Eine begleitende Wanderausstellung wird das Programm abrunden.

Namen von NS-Verbrechern sind Schülern geläufiger als die überzeugter Demokraten

Der Beiratsvorsitzende Kramer begrüßte das Projekt. Es gebe in Bayern bislang nur wenige Erinnerungsorte der Demokratie. „Die Namen perverser NS-Verbrecher sind Schülern heute geläufiger als die von Menschen, die die Demokratie in Bayern vorangebracht haben“, erkannte er als Defizit in der Erinnerungskultur. Deshalb sei die Liste mit der Auswahl der ersten zwölf Orte auch nicht abgeschlossen. Zur Debatte stehe unter anderem auch Wackersdorf in der Oberpfalz wegen der Bürgerproteste gegen die dort geplante atomare Wiederaufarbeitungsanlage (WAA). Für die Ernennung habe sich im Auswahlgremium aber noch kein Einvernehmen erzielen lassen, berichtete Kramer. Grund dafür sei gewesen, dass der Widerstand dort nicht nur friedlich verlaufen sei. (Jürgen Umlauft)

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