So etwas hat Titus Schüller noch nie erlebt. „Das ist eine einzigartige Eintrittswelle“, sagt der Linken-Politiker, der seit 2014 für seine Partei im Nürnberger Stadtrat sitzt, der Staatszeitung. Vor Beginn des Bundestagswahlkampfs Ende Oktober habe die Linke im Kreisverband Nürnberg Stadt und Land nur rund 280 Mitglieder gehabt, mittlerweile seien es gut 800. „Von der Verkäuferin über den Handwerker bis zum Akademiker ist alles bei den Neuzugängen dabei“, sagt Schüller. Weit überrepräsentiert unter den Neuen seien Studenten und Auszubildende – „aber selbst ein Bauunternehmer ist beigetreten“.
Viele seien von den sozialen Themen wie Mieterschutz, für die die Linke stehe, angetan, berichtet Schüller. „Nicht wenige sehen die Aufrüstung kritisch, wieder andere hat das Erstarken der AfD politisiert.“ Viele, die früher noch den Grünen beigetreten wären, träten heute in die noch immer pazifistisch orientierte Linke ein, glaubt Schüller. Durch die vielen Neuzugänge sei auch der laut Schüller zuletzt inaktive Ortsverband Nürnberg-Ost wiederbelebt worden.
„Wir kümmern uns um die Alltagssorgen der Leute“
Nicht nur in Mittelfranken kommt die Linke mit der Bearbeitung der Mitgliedsanträge kaum hinterher. Landeschef Martin Bauhof spricht von einem „nie da gewesenen Boom“. Seinen Angaben zufolge kletterte die Zahl der Mitglieder von etwas weniger als 2700 Ende Februar 2024 auf exakt 8402 am 4. Mai. Das ist eine Verdreifachung in 14 Monaten.
„Damit haben wir in Bayern mehr Mitglieder als die FDP“, behauptet Bauhof im Gespräch mit der Staatszeitung. Letztere hatte Anfang Januar im Freistaat rund 7600 Mitglieder. Allerdings liegt man noch immer knapp hinter der AfD. Denn aufgrund des Erstarkens an beiden politischen Rändern hatte auch die in Teilen rechtsextreme Partei zuletzt kräftigen Zulauf. 8561 Mitglieder zählte die AfD nach eigenen Angaben am 1. April im Freistaat – Tendenz steigend.
Bei der Linken sind es in Bayern laut Bauhof besonders viele Jüngere und mehr Frauen als Männer, die der Partei beitreten. „Es sind alle gesellschaftlichen Schichten dabei.“ Dies merke man im Parteivorstand auch bei der Höhe der Mitgliedsbeiträge. „Manche zahlen den Sozialbeitrag, andere haben große Einkommen“, berichtet der Landesvorsitzende.
Die Gründe für das satte Plus sind vielschichtig. „Viele wollen ein Zeichen gegen den Rechtsruck setzen“, sagt Bauhof. Eine Ursache für den Mitgliederboom sei auch das veränderte Klima in der Partei. „Seit dem vergangenen Parteitag streiten wir weniger.“ Dies wiederum habe eine positivere Medienberichterstattung zur Folge gehabt. Inhaltlich überzeuge die Linke mit ihren Themen. „Wir kümmern uns um die Alltagssorgen der Menschen – etwa um Lohngerechtigkeit und die explodierenden Mieten.“
Eine hohe Anziehungskraft auf Teile der Bevölkerung habe der Haustürwahlkampf gehabt. Im Januar spielte die von CDU-Chef Friedrich Merz in Kauf genommene gemeinsame Abstimmung von Union und AfD bei einem Antrag zur Migration im Bundestag der Linken massiv in die Karten. „Das hat natürlich Menschen politisiert“, sagt Bauhof.
Eine wesentliche Ursache für das satte Mitgliederplus ist aber auch die sehr gelungene Präsenz in den sozialen Medien. Insbesondere Heidi Reichinnek, Fraktionschefin im Bundestag, habe hier „einen grandiosen Job gemacht“, so Bauhof. Sie spreche vor allem die Jungen an. Reichinnek fällt durch markige Worte auf. „In den heutigen Zeiten muss man radikal sein“, findet sie. Für sie ist klar: Der Sozialstaat werde „immer weiter ausgehöhlt, der Reichtum von wenigen explodiert“. Auch dadurch sei die Demokratie „ernsthaft bedroht“. Reichinnek glaubt: „Wer dies verhindern will, der darf den Kapitalismus nicht stützen, er muss ihn stürzen. Er muss sich dagegenstemmen und die Systemfrage stellen, ganz klar.“
Ihr äußerst linker Kurs kommt bei vielen Jüngeren an. An der Spitze der Parteien mit den meisten Instagram-Followern lag Ende April die Linke vorn – mit 477 000 Followern.
Gepunktet hat die Partei zudem mit der „Aktion Silberlocke“. Die Linken-Oldies Gregor Gysi (76), Bodo Ramelow, (68) und Dietmar Bartsch (66) kämpften ab Oktober vergangenen Jahres nicht nur um Direktmandate für den Bundestag, sondern auch um mehr Aufmerksamkeit für die Partei. Viele hielten die Linke damals bereits für tot. Die breite Medienberichterstattung über die drei älteren Herren trug mit dazu bei, die Linke wieder ins Bewusstsein vieler Menschen zu bringen.
Lange war der Freistaat für die Linke außerhalb der großen Städte weitgehend Diaspora. Noch im vergangenen Herbst dachten viele, dass die Gründung des BSW die Partei im Freistaat endgültig pulverisieren könnte. Mehrere Kreisverbände waren damals in weiten Teilen zur Wagenknecht-Partei übergetreten – etwa der in Schweinfurt, Passau oder Donau- Ries. Nun also die Wiederauferstehung. „Wir verzeichnen in allen Regionen einen kräftigen Zuwachs – auch auf dem Land“, berichtet Bauhof.
Teile der Partei im Visier des Verfassungsschutzes
Doch die Linke wäre nicht die Linke, wenn es nicht immer wieder parteiinternen Ärger gäbe. So sollte der Parteitag in Maxhütte-Haidhof in der Oberpfalz eigentlich ein Zeichen des Triumphs und Aufbruchs in den restlichen Freistaat senden. Schließlich hatte die Linke bundesweit 9 Prozent und in Bayern 5,7 Prozent der Stimmen eingefahren – das sind im Freistaat gut doppelt so viele Stimmen wie noch bei der Bundestagswahl 2021. Auch der BSW-Ärger sollte vergessen werden.
Doch am Ende trübten die Rücktritte von gleich fünf Parteivorständen die Feierstimmung deutlich – unter denen die das Handtuch warfen, waren auch der bisherige Landesschatzmeister Schüller sowie eine der beiden bisherigen Vorsitzenden, Kathrin Flach Gomez. Schüller sagt, er werde sich mehr auf die Arbeit vor Ort und sein Mandat als Stadtrat konzentrieren. Weder Schüller noch Flach Gomez waren bei der Listenaufstellung für den Bundestag mit aussichtsreichen Plätzen bedacht worden – dabei hatte Flach Gomez den Landesverband gut durch schwierige Zeiten geführt, Schüller hatte bei vergangenen Wahlen mehrfach bayernweit die besten Erststimmenergebnisse eingefahren.
Kritiker monieren, dass die Franken auf der Liste bei den vorderen, aussichtsreichen Plätzen unterrepräsentiert waren. Neben der Enttäuschung über die Nichtnominierung spielten aber wohl auch andere Motive eine Rolle bei den Rücktritten. Bauhof rechnet den Ausgeschiedenen hoch an, dass sie nicht während des Wahlkampfs den öffentlichen Streit suchten, sondern die Partei im Wahlkampf unterstützten.
Finanziell steht die Partei wegen des Mitgliederbooms deutlich besser da. Sie will sich nun auch personell verstärken. Denn für die Kommunalwahl im kommenden Jahr hat man große Ziele. Rund 100 Mandate in Gemeinde-, Stadt- und Kreisräten sowie den Bezirken hat die Partei aktuell in Bayern, im kommenden Jahr peilt man mehr als doppelt so viele Sitze an.
Bauhof ist optimistisch. „Wir können in viel mehr Orten antreten und vollständige Listen aufstellen.“ Man wolle für jeden Kreisrat und für jeden Stadtrat einer kreisfreien Stadt eine Liste aufstellen. Zudem will die Partei 2028 erstmals in den Landtag einziehen. „Wir werden Politik für die Mieter machen.“ Die Bayern zahlten so hohe Mieten wie nirgends sonst in Deutschland.
Lange Zeit konnte es insbesondere im öffentlichen Dienst mit möglichen Nachteilen verbunden sein, in die Linke einzutreten. Denn die Partei wurde im Freistaat jahrelang vom Verfassungsschutz beobachtet. Im aktuellen Bericht der bayerischen Schlapphüte für 2024 heißt es noch immer: „Innerhalb der Partei Die Linke gibt es mehrere offen extremistische Strukturen, die auf eine Überwindung der freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung abzielen.“ Diese stellten teilweise die parlamentarische Demokratie infrage und würden der rechtsstaatlichen Ordnung die Legitimation absprechen. Auch gebe es Kontakte zu gewaltorientierten Autonomen.
Bei den Jugendorganisationen wird, anders als noch im Verfassungsschutzbericht 2022, die Linksjugend solid nicht mehr aufgeführt, sondern nur mehr der Sozialistisch-demokratische Studierendenverband (SDS). Bauhof kritisiert: „Das ist ein Unding. Die Linke ist eine demokratische Partei.“ (Tobias Lill)
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