Politik

Agnes Becker (43) ist seit 2022 Landesvorsitzende der ÖDP in Bayern. (Foto: dpa/Armin Weigel)

12.07.2024

ÖDP-Chefin: „Das finde ich unverschämt!“

ÖDP-Landeschefin Agnes Becker über den Vorwurf, dass Bürgerbegehren eine Bremse für erneuerbare Energien sind, eigene Reformvorschläge und die Rolle ihrer Partei in Bayern

BSZ: Frau Becker, die ÖDP ist ein großer Verfechter von Bürgerbegehren. Aber immer wieder gründen sich Initiativen gegen Bauten, die der Allgemeinheit dienen sollen, weil sie diese nicht vor der eigenen Haustür haben wollen. Wie wollen Sie diesen Widerspruch auflösen?
Agnes Becker: Das Schöne an der direkten Demokratie und speziell bei Bürgerbegehren ist, dass es um Dinge geht, die ganz konkret was mit der eigenen Lebenssituation zu tun haben. Jede Bürgerbeteiligung könnte ein Startschuss für etwas sein, das wir in unserer Gesellschaft noch viel häufiger bräuchten: miteinander zu reden und gemeinsam um die beste Idee zu ringen.

BSZ: Seit Einführung auf kommunaler Ebene gab es in Bayern 2805 Bürgerbegehren – das ist bundesweit spitze. Häufigstes Ziel war es zuletzt, Windräder zu verhindern. Können Sie vor diesem Hintergrund verstehen, dass Ministerpräsident Markus Söder die Bürgerbegehren reformieren will?
Becker: Das kann ich auf gar keinen Fall nachvollziehen und verstehen.

BSZ: Warum nicht?
Becker: Weil die CSU mit der Einführung der 10H-Abstandsregelung und mit der Art, wie sie über erneuerbare Energien, insbesondere Windkraft, in den letzten 20 Jahren gesprochen hat, in der Bevölkerung genau dieses Klima unter dem Motto „not in my backyard“ gesät hat. Jetzt zu sagen, dass die Bürgerbeteiligung der Hemmschuh für den Aufbau der erneuerbaren Energien ist, finde ich schon fast unverschämt. Im Übrigen: Zwei Drittel der Bürgerbegehren in den letzten zehn Jahren, die mit Klimaschutzprojekten zu tun hatten, haben sich für mehr Klimaschutz eingesetzt.

BSZ: Viele Akteure klagen aber darüber, dass die Umsetzung von Großprojekten in Deutschland viel zu lange dauert, viel zu teuer wird. Die Verzögerungen durch Bürgerbegehren, vielleicht noch gefolgt von einer Klage, wenn man nicht erfolgreich war, sind da ein Faktor.
Becker: Nicht die Bürgerbeteiligung verzögert die Prozesse, sondern die Bürokratie. Der Ministerpräsident kündigt Entbürokratisierung an und weil die CSU auf dem Gebiet noch nie etwas zerrissen hat, packt er den Abbau der lokalen Bürgerbeteiligung gleich dazu. Das eine hat aber mit dem anderen gar nichts zu tun. Ich glaube nicht, dass Herr Söder damit die Politikverdrossenheit reduziert. Wissen Sie, was ich mich schon immer mal gefragt habe?

BSZ: Nein, was?
Becker: Warum gehen denn nicht öfter die Regierenden auf die Leute zu und sagen: Das ist das geplante Projekt, wir stellen euch das Pro und das Kontra vor, danach lasst uns diskutieren – und dann stimmen wir ab. Das ginge relativ schnell. Das Problem ist ja, dass hinter so einem Bürgerentscheid in 99 Prozent der Fälle ehrenamtliche Laien stehen, die das in ihrer Freizeit machen müssen und einen Riesenvorlauf benötigen. Du musst erst mal die Frage formulieren, die so gestaltet sein muss, dass sie auch der Prüfung durch Juristen standhält. Dann musst du Unterschriften sammeln. Dann muss man das alles einreichen.

BSZ: Ex-Ministerpräsident Günther Beckstein, der als Leiter eines Runden Tisches Vorschläge für eine Reform erarbeiten soll, hat eine Überarbeitung jetzt so begründet: „Kann es richtig sein, dass ein kleiner Ort allein über die Zukunft einer ganzen Region entscheidet?“
Becker: Bestes aktuelles Beispiel dafür ist der Bürgerentscheid zum Bau des BMW-Batteriewerks in Straßkirchen-Irlbach. Der ist ja im Sinne derer ausgegangen, die in München regieren. Wenn es wirklich ein übergeordnetes allgemeines Interesse gibt, dann kann das eine kleine Gemeinde mit einem Bürgerbegehren gar nicht verhindern. Da sieht der Gesetzgeber sogar als letzte Möglichkeit Enteignungen vor. Doch dieses übergeordnete allgemeine Interesse muss halt erst mal in einem ordentlichen Planungsverfahren festgestellt werden. Da ist der Gesetzgeber Gott sei Dank auch sehr strikt. Hier wird eine Problemlage entworfen, die es gar nicht gibt.

BSZ: Was erwarten Sie vom Runden Tisch?
Becker: (lacht) Zunächst einmal erwarten wir natürlich eine Einladung. Wir sind schon so selbstbewusst, dass wir denken, dass ein Runder Tisch zum Thema direkte Demokratie ohne die ÖDP keinen Sinn ergibt. Wir könnten da schon einigen inhaltlichen Input bringen.

BSZ: Welchen?
Becker: Einerseits ist es uns ein Anliegen, dieses Instrument zu verteidigen. Ich kann mich gut an die Diskussion von 1995 erinnern, als die Bürgerbegehren auf kommunaler Ebene eingeführt wurden. Da hat die CSU den Untergang des Abendlands heraufbeschworen. Das ist nicht passiert. Ich bin überzeugt davon, dass es der Befriedung der Allgemeinlage dient, wenn man immer wieder solche Diskussionen und Entscheide auf lokaler Ebene hat.

BSZ: Und wo sehen Sie Verbesserungsbedarf?
Becker: Es sind vier wichtige Punkte: Der erste Punkt ist die Absenkung der Hürden in den Großstädten. Wie viele Unterschriften ich sammeln muss, ist ja nach Einwohnern gestaffelt. In großen Kommunen ist das ein Wahnsinn. In München muss ich rund 35 000 Unterschriften sammeln – das ist so viel mehr, als ich in der ersten Phase eines Volksbegehrens in ganz Bayern sammeln muss. Das ist unverhältnismäßig.

BSZ: Und die drei anderen Punkte?
Becker: Die Bindungswirkung eines Entscheids von einem Jahr ist angesichts des Aufwands viel zu kurz. Danach könnte der Stadt- oder Gemeinderat ja theoretisch genau das Gegenteil unternehmen. Der dritte Punkt ist die fehlende Chancengleichheit: Informationstechnisch sind die Ehrenamtlichen ganz oft auf sich allein gestellt. Das muss sich ändern. Und zu guter Letzt müsste man die Unterschriftensammlung ins digitale Zeitalter überführen. Mit dem Klemmbrett rumzulaufen, ist vorsintflutlich.

BSZ: Wieso ist eigentlich die ÖDP bei der direkten Demokratie so erfolgreich, aber wenn es um den Einzug in Parlamente geht, unter ferner liefen?
Becker: (lacht) Das ist eine gute Frage. Ich habe leider keine Antwort. Wir wollen natürlich rein in den Landtag und sind überzeugt davon, dass wir da gute Arbeit leisten würden. Aber wir haben auch nicht ohne Freude die Aufgabe angenommen, die uns die bayerische Bevölkerung zugedacht hat: die außerparlamentarische Opposition zu sein, die im Zweifelsfall mit direktdemokratischen Mitteln Gesetze durchbringt – gegen den Willen der CSU. Das macht nämlich sonst keiner. (Interview: Thorsten Stark)

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