Maria Fischer (Name von der Redaktion geändert) hat es nicht leicht. Wegen einer beginnenden Altersdemenz kann sich die 77-Jährige nicht mehr allein versorgen und lebt seit anderthalb Jahren in einem Pflegeheim. Allerdings hat ihr die gesetzliche Pflegekasse nur Pflegegrad 1 zuerkannt. Deshalb muss sie jeden Monat einen erklecklichen Betrag aus eigener Tasche zahlen. Ein Unding, finden nicht nur die behandelnden Ärzte und Pfleger, sondern auch der VdK Bayern, bei dem Maria Fischer Mitglied ist: Ihr stehe mindestens Pflegegrad 3 zu, mit entsprechend höheren Leistungen. Statt eines Zuschusses bis zu 125 Euro pro Monat würden dann 1262 Euro fließen – eine gewaltige Erleichterung für die Seniorin.
Ihr Pech: Sie hatte ein bisschen Geld gespart
Einen entsprechenden Widerspruch lehnte die Pflegekasse jedoch ab. So reichte der VdK Bayern im April 2019 im Namen Maria Fischers beim zuständigen Sozialgericht eine Klage gegen die Versicherung ein. Normalerweise, sagt Mathias Hochmuth, stellvertretender Leiter der Rechtsabteilung im VdK Bayern, dauerten solche Verfahren durchschnittlich ein knappes Jahr. Die 77-Jährige aber wartet immer noch auf eine Entscheidung der Sozialrichter, obwohl in ihrem Fall schon 16 Monate vergangen sind. Der Grund für die Verzögerung: die Corona-Pandemie, die ab Mitte März das öffentliche Leben in ganz Deutschland für mehrere Wochen nahezu lahmlegte.
Das war auch in etlichen Behörden zu merken. Rathäuser und Bürgerämter öffneten nur noch eingeschränkt oder ließen ihre Türen ganz zu, waren höchstens per Telefon oder E-Mail erreichbar. Verfahren, etwa für Baugenehmigungen, zogen sich in die Länge. Zwar hat sich der Betrieb in vielen Ämtern inzwischen wieder halbwegs normalisiert, aber nicht in allen. Etliche Kfz-Zulassungsstellen etwa haben bis jetzt nur eingeschränkt geöffnet. Das führt schon mal zu Wartezeiten von ein bis zwei Wochen – sehr zum Ärger des bayerischen Kraftfahrzeuggewerbes. „Die Zulassungsstellen bremsen den wirtschaftlichen Neustart unserer mittelständischen Kfz-Händler komplett aus“, klagte dessen Präsident Albert Vetterl kürzlich per Pressemitteilung.
Die bayerischen Sozialgerichte haben ebenfalls mit den Folgen der Corona-Pandemie zu kämpfen. Etwa 2850 geplante Verhandlungen seien deshalb vertagt worden, informiert das bayerische Landessozialgericht. Trotz dieser Verschiebungen habe man die Herausforderungen der Pandemie „bestens gemeistert“, auch dank Homeoffice, lobte Landessozialgerichts-Präsident Günther Kolbe, als er kürzlich nach einem halben Jahr Corona-Krise eine Zwischenbilanz zog.
Eine Einschätzung, die Mathias Hochmuth nur bedingt teilt. Vor allem deshalb, weil er täglich mit den kleineren und größeren menschlichen Dramen zu tun hat, die sich hinter den nüchternen Zahlen verbergen. Nicht nur in Rentenfragen, sondern auch im Hinblick auf Pflege und medizinische Versorgung. Muss eine Krankenkasse etwa für ein neues Hörgerät oder einen neuen Rollstuhl aufkommen? Oder für den Einbau eines Treppenlifts? „Das berührt auch die Grund- und Freiheitsrechte“, sagt der VdK-Rechtsexperte. „Bei uns geht’s immer um existenzielle Fragen: Bin ich am Monatsende noch gut genug medizinisch versorgt? Habe ich noch genug zu essen?“ Entsprechend groß sei der psychische Druck, der auf den Betroffenen laste. Die Gerichtsverfahren, die schon in normalen Zeiten oft monate- oder gar jahrelang dauern, dehnten sich nun wegen der Corona-Pandemie noch weiter – was zuweilen zu handfesten finanziellen Problemen führt.
Wie im Fall von Maria Fischer. Trotz niedrigen Einkommens und schmaler Rente hatte sie es geschafft, ein kleines Sparvermögen beiseitezulegen. Ihr Pech: Die Summe lag etwas oberhalb der geltenden Freibeträge im Sozialhilferecht. Deshalb hatte sie keinen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen, als sie aus ihrer kleinen Eigentumswohnung ins Pflegeheim umzog. Inzwischen ist ihr mühsam Erspartes praktisch aufgebraucht, weshalb die 77-Jährige in immer größere finanzielle Bedrängnis gerate, sagt Mathias Hochmuth. Sogar der Verkauf ihrer Wohnung sei deshalb schon in Erwägung gezogen worden.
Vor dem Hintergrund solcher Schicksale hat die SPD-Fraktion im Bayerischen Landtag kürzlich eine zügige Bearbeitung der Sozialgerichtsverfahren angemahnt. Dafür brauche es mehr Personal und eine ausreichende digitalisierte Ausstattung. Auch deshalb, weil es im Herbst eine Klagewelle geben dürfte. „Wegen der deutlichen wirtschaftlichen Eintrübung wird bald mit erheblich höheren Verfahrenseingängen zu rechnen sein“, teilt das bayerische Landessozialgericht dazu mit.
Mehr Personal an den bayerischen Sozialgerichten, das hält Till Bender vom Büro Bamberg in der Rechtsschutzabteilung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) ebenfalls für dringend notwendig: „Man merkt, dass hier sehr viele Verfahren sehr lange dauern.“ Immerhin hat er den Eindruck, dass die Sozialgerichte zumindest die Corona-Krise relativ gut im Griff haben: etwa durch regelmäßiges Lüften der Sitzungsräume, durch Abstands- und Hygieneregelungen und auch dadurch, dass Prozesstermine weniger knapp getaktet sind, um Menschenansammlungen zu vermeiden. Das ändere aber nichts an der langen Dauer vieler Verfahren, sagt er: „Man hat den Eindruck, dass manche Dinge über Jahre vor sich hin dümpeln. Die personelle Ausstattung an den Sozialgerichten ist nicht adäquat.“
Immerhin: Alle Richter haben jetzt Laptops
Im bayerischen Sozialministerium verweist man darauf, dass man die bayerische Sozialgerichtsbarkeit mit dem Nachtragshaushalt 2019/20 um zehn zusätzliche Richterstellen verstärkt habe. Außerdem seien in der ersten Hälfte dieses Jahres alle Richterarbeitsplätze mit Laptops sowie zwei großen Bildschirmen ausgestattet worden. Darüber hinaus würden die Geschäftsstellen gerade mit Zweitbildschirmen ausgestattet.
Ob das reicht, um die während der Corona-Pandemie vertagten Verfahren zügig abzuschließen? Das hofft VdK-Rechtsexperte Mathias Hochmuth nicht nur für den Fall von Maria Fischer. Hier liegt seit Juli immerhin ein gerichtliches Sachverständigengutachten vor. Dessen Resümee: Die Pflegekasse müsste der 77-Jährigen rückwirkend ab der Antragstellung, die im Dezember 2018 erfolgte, Pflegegrad 3 zuerkennen, sodass sie ihr kleines Sparvermögen wieder zurückbekommen und vielleicht auch die Wohnung retten könnte. Die Chancen dafür, dass sich das Sozialgericht dieser Auffassung anschließt, stehen gut. Schließlich, sagt Hochmuth, liege die Erfolgsquote des Sozialverbands bei derartigen Pflegerechtsverfahren bei mehr als 50 Prozent. (Brigitte Degelmann)
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