Politik

Sie schweigt seit dem ersten Prozesstag: die Angeklagte Beate Zschäpe. (Foto: dpa)

06.05.2014

Puzzle mit Tausenden Teilen

Ein Jahr NSU-Prozess: Es geht nicht nur um Recht und Gerechtigkeit. Es geht nicht nur um die Aufarbeitung der brutalen Neonazi-Mordserie, sondern auch um den Schmerz der Angehörigen und um das Versagen der Behörden. Eine Zwischenbilanz.

Am 80. Verhandlungstag passierte im NSU-Prozess etwas Neues, Ungewöhnliches: Beate Zschäpes Stimme war zu hören. Es war das
erste Mal überhaupt, dass die 39-Jährige auf eine Frage des
Vorsitzenden Richters Manfred Götzl direkt antwortete. Der wollte
wissen, ob sie noch fit sei. "Sie haben zeitweise die Augen
geschlossen."  Auf der Pressetribüne war dann zu hören, dass Zschäpe
sprach - nur nicht was. Ihr Mikrofon war ausgeschaltet.
Ansonsten aber schweigt Zschäpe. Auch nach einem Jahr Prozessdauer,
auch nach inzwischen 109 Verhandlungstagen. Am 6. Mai 2013 hatte der
Prozess vor dem Münchner Oberlandesgericht begonnen. 246 Zeugen und
Sachverständige wurden bereits befragt. Ein Ende ist nicht absehbar.
Weil Zschäpe nicht redet, muss der Staatsschutzsenat unter Leitung
Götzls in mühevoller und langwieriger Kleinarbeit versuchen, ein
Puzzle mit Tausenden Teilen zusammenzusetzen. Wusste Zschäpe von den
Morden und Anschlägen des "Nationalsozialistischen Untergrunds"
(NSU)? War sie im juristischen Sinne tatsächlich Mittäterin, wie es
ihr die Bundesanwaltschaft vorwirft, etwa weil sie für die jahrelang
funktionierende Tarnung der Terrorzelle sorgte?
Dann könnte Zschäpe als Mörderin bestraft werden - auch wenn es ihre
Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos gewesen sein sollen, die
zwischen 2000 und 2007 neun Geschäftsleute ausländischer Herkunft und
eine deutsche Polizistin erschossen haben.

Die einzige Überlebende des NSU-Trios schweigt

Fest steht: Im Brandschutt der letzten gemeinsamen Wohnung in Zwickau
lagen zwölf Waffen und Munition - darunter auch jene Pistole der
Marke Ceska, mit der neun der zehn Menschen ermordet wurden.
Böhnhardt und Mundlos sind tot - sie brachten sich im November 2011
selbst um, um nach einem Banküberfall der unmittelbar bevorstehenden
Festnahme durch die Polizei zu entgehen.
Nun muss sich Zschäpe als einzige Überlebende für sämtliche
Gräueltaten des NSU verantworten. Mit vier Mitangeklagten: dem
Ex-NPD-Funktionär Ralf Wohlleben, André E., Holger G. und Carsten S.,
denen in der Anklageschrift entweder Beihilfe zum Mord oder die
Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird -
weil sie die Mordwaffe besorgt oder dem Neonazi-Trio mit gefälschten
Papieren geholfen haben sollen.
An jedem Verhandlungstag, Stunde um Stunde, Zeuge um Zeuge, setzt das
Gericht weitere Puzzleteile zusammen. Es wird erkennbar, wie die
Thüringer Neonazi-Szene damals tickte, und wie - so eine
Zeugenaussage - "eingeschworen" das Trio viele Jahre war. Und es
entsteht zumindest ein gewisses Bild, wie die Gruppe nach dem
Untertauchen 1998 bis zum Auffliegen 2011 lebte. Zwar behaupten viele
ehemalige Nachbarn, sich an vieles nicht mehr zu erinnern. Redete
Zschäpe einmal abfällig über Ausländer oder nicht? Da gehen die
Aussagen einzelner Zeugen beispielsweise auseinander.
Die Ex-Nachbarn beschreiben, dass "Lisa" oder "Susann" - unter dem
Namen war Zschäpe dort bekannt - immer freundlich und nett gewesen
sei. Dass von den beiden Männern kaum etwas zu sehen gewesen sei. Und
dass die drei immer mit einem Wohnmobil in den Urlaub gefahren seien.
Auch ehemalige Urlaubsbekanntschaften sagen vor Gericht aus: wie nett
es mit den Dreien beim Camping auf Fehmarn gewesen sei. Dass "Liese"
eine Art "Mama" des Trios gewesen sei. Und mehrere Zeugen nennen
dieses Detail: dass Zschäpe damals die Urlaubskasse verwaltet habe.
Das ist einer der zentralen Punkte der Anklage: Zschäpe soll nicht
nur die Urlaubskasse, sie soll das gesamte Geld des Trios, die Beute
aus den vielen Banküberfällen, verwaltet haben. Sie sei also
gleichberechtigtes Mitglied gewesen, habe alles mitgemacht.

Keine ernsthafte Zweifel an Zschäpes Täterschaft

In einem Fall ist die Täterschaft Zschäpes ziemlich unbestritten: Sie
hat, daran gibt es keine ernsthaften Zweifel, im November 2011 die
letzte gemeinsame Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße in Brand
gesteckt. Aber auch diese Tat muss das Gericht möglichst bis ins
Detail klären: Hat Zschäpe, bevor sie das Feuer legte und das Haus
zusammen mit ihren Katzen verließ, noch an der Wohnungstür der alten
Nachbarin geklingelt? Oder nahm sie bewusst und billigend deren Tod
in Kauf - und den zweier Handwerker, die im Haus beschäftigt und nur
zufällig zum Zeitpunkt der Explosion nicht anwesend waren? Die
Anklage wirft ihr jedenfalls versuchten dreifachen Mord vor. Das
dürfte am Ende dann eine Frage der rechtlichen Bewertung sein.
All diese kleinen Details, all diese Mosaiksteine werden am Ende
entscheidend sein, wenn es für das Gericht darum geht, ein Urteil zu
sprechen. Vermutlich irgendwann im kommenden Jahr.
Für die Familien der Opfer des NSU ist die Frage, wann das Urteil
gesprochen wird, oder auch, wie es ausfällt, am Ende aber vielleicht
gar nicht so wichtig. Sie haben ja schon so lange gewartet. Darauf,
dass ihnen jemand zuhört - und dass ihnen jemand glaubt. Dass sie
nicht mehr - wie über so viele Jahre hinweg - selbst Verdächtigungen
ausgesetzt werden. Damit klar ist und jedermann endlich weiß, dass
sie Opfer und nicht Täter sind.
"Ich bin Ismail Yozgat, der Vater des 21-jährigen Halit Yozgat, des
Märtyrers, der am 6. April 2006 durch zwei Schüsse erschossen wurde
und in meinen Armen gestorben ist", ruft der Vater des Kasseler
Mordopfers am 1. Oktober 2013 auf Türkisch in den Gerichtssaal. Es
ist einer der Momente des Prozesses, die lange in Erinnerung bleiben.
Das Leid, die Wut, der Schmerz und die Empörung der Eltern und
Verwandten der Opfer, sie werden in solchen Momenten spürbar und
greifbar. Die blutigen Fotos der Toten, die bei der Aufarbeitung der
Morde an die Wand projiziert werden, die detaillierten Vorträge der
Sachverständigen über die Geschosse und die damit verursachten
tödlichen Verletzungen - all das handelt das Gericht, bei aller
Grausamkeit der Bilder, fast technisch ab. Aber die Gefühle der
Angehörigen, die lassen sich nicht so einfach abhandeln.

Gratwanderung: Ist das Versagen der Behörden Gegenstand des Prozesses?

Das ist das zweite große Anliegen, das der NSU-Prozess versuchen muss
zu befriedigen: der Wunsch der Nebenkläger nach weiterer Aufarbeitung
von Hintergründen dieser unfassbaren Verbrechensserie - und vor allem
des Versagens der Behörden. Auch wenn vieles davon für die
juristischen Bewertungen am Ende vielleicht ohne Belang ist: Es
spielen in diesem außergewöhnlichen Prozess auch politische Fragen
eine Rolle, Fragen nach dem Grund für die jahrelang erfolglosen
Ermittlungen. Auch wenn es in einem Strafprozess streng genommen
eigentlich nur um eines geht: Schuld oder Unschuld der Angeklagten.
Für den Vorsitzenden Richter ist dies eine Gratwanderung: Was muss
tatsächlich juristisch aufgearbeitet werden - und was hat mit dem
Prozessgegenstand nichts oder fast nichts mehr zu tun, muss aber doch
irgendwie in dem Verfahren zur Sprache kommen dürfen? Wortgefechte
darüber mit den Verteidigern sind fast schon an der Tagesordnung.
Ein Zeuge, den Götzl mehrfach kommen lässt, steht beispielhaft für
diese Gratwanderung: Der ehemalige hessische Verfassungsschützer
Andreas T. saß 2006 während des Mordes an Halit Yozgat im hinteren
Raum von dessen Internetcafé in Kassel. Er behauptet aber bis heute,
von der Tat nichts mitbekommen und den Getöteten nicht gesehen zu
haben. Ermittlungen gegen ihn wurden eingestellt - doch seine Rolle
wirft weiter Fragen auf. Fragen, die möglicherweise aber nie geklärt
werden - T. ist mittlerweile aus dem Zeugenstand entlassen worden.
Die zehn Morde, der Brand in Zwickau, und auch das frühere Umfeld der
Angeklagten: All das ist im Prozess in den vergangenen 109
Verhandlungstagen einigermaßen gründlich beleuchtet worden. Auch wenn
zahllose Zeugen aus der rechten Szene auffällige Erinnerungslücken
geltend machten. Und auch wenn einige zentrale Zeugen noch kommen,
etwa der frühere Thüringer Neonazi und Verfassungsschutz-V-Mann Tino
Brandt. Doch als nächstes soll es nun erst einmal um die zwei
Bombenanschläge in Köln gehen und um die Banküberfälle.
Auch die Eltern der drei mutmaßlichen Terroristen haben bereits
ausgesagt, darunter Siegfried Mundlos, der den Richter beschimpfte.
Und die Aussagen der Eltern ähnelten sich: Sie gaben an, trotz
offensichtlicher Zeichen nichts vom immer tieferen Abdriften ihrer
Kinder in die Neonazi-Szene gewusst zu haben. Und die Bomberjacke,
die Springerstiefel? «Aber das ist zu der Zeit normal gewesen, das
haben alle Leute gehabt», sagte Vater Jürgen Böhnhardt - der den
Opferfamilien allerdings ausdrücklich sein Mitgefühl aussprach.
Beate Zschäpe schweigt derweil weiter - und wird dies wohl auch
künftig tun. Der ergreifende Appell der Mutter des toten Halit Yozgat
wird vermutlich ohne Wirkung bleiben. «Ich bitte Sie um Aufklärung»,
sagte Ayze Yozgat bereits im Oktober, direkt an Zschäpe gewandt. Seit
dem Mord im April 2006 habe sie nie mehr als zwei Stunden schlafen
können. "Denken Sie bitte immer an mich, wenn Sie sich ins Bett
legen. Denken Sie daran, dass ich nicht schlafen kann." (Christoph Trost, dpa)

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