Schon im Kindergarten lernen Mädchen und Buben, auf Beleidigungen und fiese Wortspiele möglichst zu verzichten. Später in der Arbeitswelt kann unflätiges Schimpfen schnell zur Kündigung führen. In der Politik dagegen sind deftige Attacken auf den politischen Gegner insbesondere im Wahlkampf eine unrühmliche Tradition. Herbert Wehner, früherer Chef der SPD-Bundestagsfraktion, schmähte den CDU-Abgeordneten Jürgen Todenhöfer als „Hodentöter“. Legendär sind auch die verbalen Entgleisungen der CSU-Ikone Franz Josef Strauß. Er keilte in Richtung eines KPD-Abgeordneten: „Schnauze, Iwan!“ Und Grünen-Urgestein Joschka Fischer bepöbelte einst den Bundestagspräsidenten als „Arschloch“.
Doch in diesem Wahlkampf sollte alles anders werden. Die Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien wollten Vorbilder sein. Im Dezember gaben sich CDU, CSU, SPD, Grüne, FDP und Linke deshalb in einem Fairness-Abkommen verbindliche Regeln für den Wahlkampf. Sie versprachen, auf persönliche Herabwürdigungen oder Angriffe auf das persönliche Umfeld von Politikern zu verzichten und respektvoll miteinander zu debattieren. Auch sollte auf falsche Tatsachenbehauptungen verzichtet werden.
Doch wie sieht es knapp zwei Monate später aus? Sind die Dreckschleudern abgebaut, die Schmähungen verstummt? Mitnichten. Nur wenige Tage, nachdem die Tinte des Fairness-Abkommens getrocknet war, pöbelte die Grünen-Bundestagsabgeordnete Paula Piechotta in Richtung Kanzler: „Jeder in der SPD weiß, dass Olaf Scholz ein Arschloch ist.“ Und vergangene Woche ätzte die SPD-Vorsitzende Saskia Esken in Richtung des Unionsspitzenkandidaten Friedrich Merz: „Unser Kanzleramt ist in diesen Zeiten aber nicht für einen Praktikantenjob geeignet.“
Politologe Oberreuter: „Ich habe sehr lange keinen so unfairen Wahlkampf erlebt“
Der Passauer Politikprofessor Heinrich Oberreuter verfolgt den Politikbetrieb seit Jahrzehnten. Er konstatiert: „Ich habe schon sehr lange keinen Wahlkampf mehr erlebt, der so unfair und grenzüberschreitend geführt wird wie dieser.“ Für den Experten ist klar: „Das Fairness-Abkommen ist überflüssig wie ein Kropf. Offensichtlich hält sich niemand daran.“ Oberreuter urteilt: „Spitzenpolitiker beschimpfen sich als doof oder versetzen ihren politischen Kontrahenten in Märchenschlösser – eine Grenzüberschreitung folgt derzeit auf die andere.“ Das Fairness-Abkommen sei „in der Praxis nur ein symbolischer Akt“. Der CSU-nahe Politologe ärgert sich auch über die Attacken auf die Union im Zuge der jüngst zunehmend aggressiv geführten Migrationsdebatte.
Dafür, dass die AfD dem von der Unionsfraktion im Bundestag eingebrachten Zustrombegrenzungsgesetz zugestimmt hat, könnten doch CSU und CDU nichts. Oberreuter sagt: „Die Union hat nicht darum gebeten.“
Zuletzt habe Kanzler Scholz „mit haltlosen Unterstellungen Wahlkampf gemacht“. Oberreuter: „Es ist einfach unfair, dass er behauptet, Merz will sich mit Stimmen der AfD zum Regierungschef wählen lassen. Merz hat mehrfach glaubhaft versichert, dass er das nicht machen wird.“ Scholz und seine Unterstützer im rot-grünen Lager missbrauchten „die Zeitgeschichte für ihre Wahlkampfstrategie“.
Im Ton vergreifen
Zu Recht stört er sich an diversen Nazi-Vergleichen infolge der Abstimmung über das Zustrombegrenzungsgesetz. So hatte der Co-Chef der Grünen Jugend, Jakob Blasel, über CDU und CSU gesagt: „Konservative, die Steigbügelhalter für Nazis sind, können keine Koalitionspartner werden.“
Nicht nur Spitzenpolitiker vergreifen sich im Ton. Bayerns ehemaliger Juso-Chef Thomas Asböck kommentierte vor einigen Tagen auf der Facebook-Seite der BSZ einen Artikel, in dem Merz die „Brandmauer“ gegen die AfD beschwört, mit dem Wort „Lügenbande“. Doch auch die Union verstößt gegen das Abkommen. Der frühere CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn nannte Scholz vergangene Woche den „größten Sprücheklopfer des Landes“. Respektvoller Wahlkampf sieht anders aus.
Für Bayerns Grünen-Chefin Gisela Sengl ist das Fairness-Abkommen dennoch „ein wichtiges Signal“ – sie konstatiert allerdings, dass sich einzelne Mitbewerber nicht an das Abkommen gehalten hätten. „Der Ton im Wahlkampf ist rau, die Angriffe gegen Robert Habeck und andere grüne Politikerinnen und Politiker sind zahlreich und oft unter der Gürtellinie.“ Auch ein Sprecher der bayerischen FDP begrüßt das Abkommen nach wie vor.
Derweil sieht sich Kanzler Scholz einem Shitstorm ausgesetzt: Er nannte einen dunkelhäutigen CDU-Politiker „Hofnarr“. Eine nicht angemessene Bemerkung. Doch rassistisch, wie sich manche nun echauffieren, ist das nicht.
(Tobias Lill)
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