Verbrannte Kinderschuhe, Blut auf Boden und an Wänden, verkohlte Stühle, zerborstene Fenster, ausgebombte Räume und je nach Windrichtung übler Verwesungsgestank: Sollte Markus Söder selbst auch nur den leisesten Hauch eines Zweifels am international kritisierten Vorgehen Israels im Gaza-Krieg gehabt haben, nach seinem Gang durch den massiv zerstörten Kibbuz Nir Oz im Süden des Landes sind sie vergessen. Sichtlich bewegt stellt er sich demonstrativ wie nie hinter den Kampf gegen die islamistische Hamas: "Hier ist der Beleg dafür, was brutaler Terrorismus stattfinden lässt und was er ausmacht. Und deswegen ist diese Solidarität so unglaublich wichtig."
Keine Frage, die gut zwei Stunden im Kibbuz haben Söder beeindruckt, er beschreibt seine Gefühlslage als "extrem bedrückend". Wer ihn bei seinem Rundgang beobachtet, sieht immer wieder wie Söder den Kopf schüttelt und tief durchatmet. "Krass", hört man ihn immer wieder sagen. Begleitet wird er auf der vom israelischen Militär organisierten Tour nicht nur von Soldaten und Journalisten. Allen voran geht ein hagerer Mann mit Sonnenbrille im grauen Haar. Sein Name ist Amit Rubin und er erzählt zu jedem Haus eine Geschichte.
In einem vollkommen zerstörten Haus wird seine Erzählung besonders emotional. Pausenlos reibt Rubin seine Finger aneinander, so lange bis sie ganz weiß sind. Währenddessen erzählt er von einem älteren Ehepaar, welches hier lebte und sich beim Angriff am 7. Oktober im Schutzraum für Luftangriffe versteckte. Nur mit viel Glück und dank der Hilfe einer jungen Frau konnten sie überleben und vor Feuer und Rauch flüchten. "Der Mann und die Frau sind meine Eltern und die junge Frau ist meine Tochter", sagt Rubin und kämpft mit Gefühlen.
Andere Menschen im Kibbuz hatten weniger Glück als Rubins Eltern. Von den 400 Bewohnern wurde mehr als ein Viertel getötet oder verschleppt. Darunter viele Alte und Kinder, die bis heute nicht zurück sind.
Nir Oz und seine Bewohner sind - genau wie viele andere Kibbuzim im Land - für immer mit dem Ausbruch des Gaza-Krieges verbunden. Die Siedlung, deren Name übersetzt so viel wie "neu gebrochenes Land" oder "Neuland der Kraft" bedeutet, wurde 1955 gegründet und liegt rund 25 Kilometer südwestlich der Stadt Sderot in der Negev-Wüste. Katzen streunen zwischen Palmen und Kakteen herum, immer wieder fliegen grüne Papageien laut kreischend umher. Der Kibbuz war einer der ersten Orte, den Terroristen der Hamas am 7. Oktober überfielen. Sie richteten hier wie in anderen Orten Massaker an.
Mehr als 1200 Menschen wurden bei den beispiellosen Angriffen im Grenzgebiet zum Gazastreifen getötet. Israel begann daraufhin mit massiven Luftangriffen und seit Ende Oktober mit einer Bodenoffensive in dem nahe gelegenen Gebiet. Auch während Söders Besuch ist der Krieg in dem abgeriegelten Küstenstreifen zu hören. Hubschrauber fliegen entlang der Grenze, immer wieder lassen Detonationen die Mitglieder aus Söders Delegation zusammenzucken. Denn, und das ist auch für Laien unmissverständlich, die Einschläge werden, je länger der Besuch dauert, lauter. Kommen also näher. "Rund drei Kilometer", schätzt ein mitgereister Polizist die Entfernung.
Wie es nun im Kibbuz weitergeht, ist offen. Vereinzelt sind Bewohner zurückgekehrt, wollen es wieder aufbauen. Andere wollen, so heißt es, nie wieder kommen. Ob der Ort und die vielen übrigen Siedlungen eine Zukunft haben, hänge auch direkt mit dem Ausgang des Krieges zusammen, sagt eine Soldatin. Es brauche neues Vertrauen. Bis zum Angriff lebten etwa vier Prozent der Israelis in Kibbuzim. Etwa 270 gibt es im gesamten Land.
Und genau an dieser Stelle kann sich Rubin auch mit Kritik an Israel nicht zurückhalten. Es sei ein Versagen gewesen, dass das Militär nach dem Überfall acht Stunden gebraucht habe, um den Überlebenden zu helfen. Auch Armeesprecher Arye Sharuz Shalicar äußert sich sehr kritisch zum Versagen der Sicherheitsbehörden auf allen Ebenen. Man habe zwei Fehler begangen, zum einen habe Israel die Brutalität der Hamas unterschätzt und ihr zum anderen nicht einen gut organisierten Angriff zugetraut. Auch Söder kann das angesichts der inzwischen allerorten im Land sichtbaren militärischen Präsenz nicht verstehen.
Zur schwierigen Lage in Israel gehört aber auch das Leid der Menschen im nur knapp 1,5 Kilometer von Nir Oz entfernten Gazastreifen. Jenem Ort, der militärisch abgeriegelt, derzeit ebenfalls Schauplatz von grauenvollen Situationen ist: Nach UN-Angaben wurden dort bereits mehr als 37 000 Gebäude zerstört, die humanitäre und medizinische Versorgung der Menschen wird als verheerend beschrieben. In dem Gebiet, das ungefähr so groß wie München ist, lebten vor Kriegsbeginn rund zwei Millionen Menschen. Die Hamas-Gesundheitsbehörde spricht längst von mehr als 18.600 Toten und 50.000 Verletzten.
International hat das israelische Vorgehen im Gazastreifen jede Menge Kritik ausgelöst. Söder äußert sich dazu nur knapp. "Wir haben natürlich auch Mitgefühl mit den Menschen im Gazastreifen, mit den zivilen Opfern", sagt er. "Trotzdem glauben wir, dass Israel ein Recht auf Selbstverteidigung hat und dass es notwendig ist, die Sicherheit jetzt in den Vordergrund zu stellen."
Zwar seien Forderungen nach einem Waffenstillstand wie von den Vereinten Nationen grundsätzlich gut, es brauche aber einen sinnvollen Zeitpunkt für die Umsetzung, so Söder. "Blauäugigkeit" wäre jetzt fehl am Platze. Nach wie vor sei das Land in einem Schockzustand, niemand könne verstehen, was da passiert sei.
(Marco Hadem, dpa)
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