Politik

Jugendliche leiden besonders unter den Kontaktbeschränkungen – mit der Corona-Impfung würden sie ein Stück weit Normalität zurückgewinnen. (Foto: dpa/Robert Michael)

04.06.2021

Sehnsucht nach der Freiheit

Während Fachleute und Eltern noch überlegen, rufen viele Jugendliche nach der Impfung – sie wollen ihr Leben zurück

Otto Laub hat schon viel gesehen. Seit mehr als 20 Jahren leitet er eine Kinder- und Jugendarztpraxis in Rosenheim, er ist Allergologe und Kinderlungenfacharzt. Dennoch musste er in den vergangenen Monaten manchmal schlucken, wenn ihm wieder ein niedergeschlagener Jugendlicher gegenübersaß, an den Kontaktbeschränkungen wegen der Corona-Pandemie verzweifelnd, mit Essstörungen oder Depressionen kämpfend – oder dem Drang, sich selbst zu verletzen: „Da wird einem das Herz schwer.“

Auch vor diesem Hintergrund muss er nicht lang überlegen, wenn er nach möglichen Corona-Impfungen für Minderjährige gefragt wird. Natürlich müssten Zwölf- bis 15-Jährige immunisiert werden, sagt Laub, der bis vor Kurzem als Vorsitzender des Paednetzes Bayern fungierte, einem Netzwerk von rund 750 niedergelassenen Kinder- und Jugendärzt*innen im Freistaat. Zumal diese Jugendlichen oft körperlich schon sehr weit und deshalb durchaus mit Erwachsenen vergleichbar seien.

Anders sehe das bei Kindern unter zwölf Jahren aus: Bei ihnen sei die Datenlage noch zu widersprüchlich, weshalb sich der Pädiater mit einer Impfempfehlung für sie zurückhält. Ausnahme: Kinder mit schweren Grunderkrankungen oder chronischen Leiden.

Nach einem Beschluss des Impfgipfels der Kanzlerin mit den Ministerpräsident*innen Ende Mai können sich Kinder ab zwölf Jahren vom 7. Juni an gegen Corona impfen lassen. Möglich ist das, weil die EU-Kommission jetzt eine entsprechende Zulassung für das Vakzin von Biontech-Pfizer ausgesprochen hat.

Dennoch sind nicht alle Medizinerinnen und Mediziner von der Entscheidung begeistert. Wegen der momentan unzureichenden Datenlage könne er Eltern nicht raten, ihre Kinder grundsätzlich impfen zu lassen, sagte kürzlich Bundesärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt in einem Interview. Ähnlich äußerte sich der Erlanger Immunologe Christian Bogdan, Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko).

Die einen sind geimpft, die anderen getestet – so kann Schule funktionieren

Und auch die Stiko selbst ließ bereits durchblicken, dass sie wohl keine generelle Impfempfehlung für Minderjährige aussprechen wird, sondern nur für diejenigen mit Vorerkrankungen.

Warum aber, fragt sich Otto Laub, unterschieden die Skeptiker nicht zwischen jüngeren Kindern und Jugendlichen über zwölf Jahren, die zumindest körperlich oft schon Erwachsenen ähnelten, etwa in Hinsicht auf das Gewicht? Und warum machten sie sich nicht die Mühe, das Thema aus der Warte letzterer zu betrachten? „Die Diskussion geht zum Teil völlig an den Jugendlichen vorbei“, sagt der Pädiater. Für die meisten Teenager sei die Sache längst klar: Sie wollen die Impfung, unbedingt. „Ich will mein Leben zurück“, diesen Satz hat Laub in den vergangenen Wochen nicht nur einmal gehört.

Im bayerischen Gesundheitsministerium hält man sich beim Thema Impfungen für Minderjährige eher bedeckt. Man erarbeite derzeit ein Konzept, um diese Immunisierungen so schnell wie möglich nach der Zulassung zu starten, heißt es. Im Kultusministerium verweist man darauf, dass eine möglichst hohe Impfquote in der Bevölkerung „ein Schlüssel im Kampf gegen Corona“ sei. Daher begrüße man es grundsätzlich, wenn auch Schüler immunisiert würden. „Eine Impfung ist aber keine Voraussetzung für die Teilnahme am Präsenzunterricht“, betont ein Ministeriumssprecher. Für vollständig geimpfte Schüler*innen entfalle jedoch die Testnachweispflicht.

Wie sich das Schulleben nach den Sommerferien gestaltet, wenn Geimpfte und Nichtgeimpfte in den Klassenzimmern aufeinandertreffen, vermag momentan niemand zu sagen. Henrike Paede, stellvertretende Landesvorsitzende des Bayerischen Elternverbands, sieht das gelassen. Ein Chaos befürchtet sie nicht: „Diejenigen, die nicht geimpft sind, können ja regelmäßig getestet werden“, sagt sie. „Das ist eine reine Organisationsfrage, damit kann man leben.“

Der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) fordert dafür hingegen klare Vorgaben der Staatsregierung in einem „bildungspolitischen Logbuch“ für das nächste Schuljahr, wie es BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann formuliert. Grundsätzlich stehe man möglichen Impfungen von Minderjährigen aufgeschlossen gegenüber. Allerdings dürften dafür nicht die Schulen verantwortlich gemacht werden, sagt Fleischmann: „Das kann nicht Aufgabe der Lehrkräfte sein.“ Überlegungen, Impfmobile vor Klassenzimmern aufzustellen oder in Schulgebäuden Impfstraßen zu organisieren, erteilt sie deshalb eine Absage. Schließlich seien viele Lehrkräfte längst überlastet – unter anderem deshalb, weil sie immer wieder von Eltern attackiert würden, etwa wegen der Masken- und Testpflicht. „Wir sind permanent der Prellbock vor Ort“, klagt Fleischmann. „Wir können nicht mehr.“

„Ich kann nicht mehr“, diesen Satz hat der Kinderarzt Otto Laub kürzlich auch von einem jungen Mädchen gehört, das unter schweren Depressionen leidet. „Für unsere Wohlstands-Jugendlichen ist die Pandemie wie Krieg“, sagt er – mit schwerwiegenden Folgen, vor allem psychisch. Umso wichtiger sei es, sie nun endlich durch Impfungen zu schützen.
(Brigitte Degelmann)

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