Politik

Nicht erst seit Corona nehmen in Bayern antisemitische Vorfälle zu – neu ist aber, wie jüdische Symbole unsäglich missbraucht werden. (Foto: dpa/Christophe Gateau)

30.04.2021

Sehschwäche in Bayerns Justiz

Die Corona-Krise befeuert Antisemitismus

Da ist der Jugendtrainer eines jüdischen Sportvereins, der beim Spaziergang in seiner Vereinsjacke von einem Mann unflätig beleidigt wird: „Ihr jüdischen Schweine seid schuld! Ihr Juden habt das mit Corona gemacht!“ Da ist der Rabbiner, der in der Münchner Innenstadt von vier Männern verfolgt und wüst antisemitisch bepöbelt wird. Und da sind die Bilder von „Querdenker“-Demonstrationen: von Parolen wie „Impfen macht frei“ und von gelben Sternen mit der Aufschrift „Ungeimpft“, die an die berüchtigten „Judensterne“ während der Zeit des Nationalsozialismus erinnern –  eine zynische Verharmlosung der Schoah.

All das kennt Nikolai Schreiter nur zu gut. Er ist Mitarbeiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern, die vor zwei Jahren ihre Arbeit aufgenommen hat. Die Zahl der Fälle steige, sagt er. Auch jüngste Daten belegen das. 2018 wurden im Freistaat 219 Delikte registriert, im vergangenen Jahr waren es nach Angaben des bayerischen Innenministeriums hingegen schon 353, darunter Beleidigungen, Bedrohungen und sogar Körperverletzungen. Meist hätten die Täter aus rechtsextremistischen Motiven gehandelt, so das Ministerium.

Dass die Delikte zunehmen, hänge auch mit den Kundgebungen gegen die Corona-Beschränkungen zusammen, sagt Schreiter. 58 antisemitische Vorfälle mit einem verschwörungsideologischen Hintergrund dokumentierte RIAS Bayern zwischen Anfang Januar und Ende Oktober 2020, den Großteil davon entdeckte man bei Demonstrationen von „Querdenkern“, „Corona-Rebellen“ und ähnlichen Gruppierungen. Da wurde etwa herumspekuliert, dass die Familie Rothschild hinter den Ausgangsbeschränkungen stecke. Und es wurden Feindbilder verbreitet: „Zionisten“, „globale Eliten“ oder George Soros steckten hinter der Pandemie oder nutzten diese für ihre Zwecke – alles Chiffren für „die Juden“.

Holocaust-Vergleich: Justiz- Entscheidung in der Kritik

Ein Phänomen, dessen Wurzeln weit zurückreichen: Schon im Mittelalter wurden Juden als „Brunnenvergifter“ gebrandmarkt, als Schuldige für Pest-Ausbrüche. „In Situationen, die als gesellschaftlich kritisch wahrgenommen werden, in denen Routinen, vielleicht auch die eigene Existenz infrage gestellt sind, werden gerne einfache Erklärungen und auch Verschwörungsideologien genutzt. Diese sind entweder antisemitisch oder sehr nah dran“, sagt Nikolai Schreiter.

Josef Schuster, Vorsitzender des Landesverbands der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern, sieht das ebenso. Das sei aber nicht der einzige Grund für die Zunahme der Fälle, sagt er. Eine Rolle spiele hier auch die AfD, deren Mitglieder immer wieder durch Tabubrüche auf sich aufmerksam machten. Wie der einstige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland, der die NS-Zeit als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte relativierte. Die Folge solcher Grenzüberschreitungen: „Man traut sich inzwischen, Dinge zu sagen, die man vor 20 oder 30 Jahren so nicht gesagt hätte“, resümiert Schuster. Ähnlich sieht das Ludwig Spaenle, Antisemitismusbeauftragter der bayerischen Staatsregierung: Die AfD sei ein „negativer Beschleunigungsmechanismus“ in Sachen Antisemitismus, sagt er.

Was man dagegen unternehmen kann? Da sind sich Schuster und Spaenle weitgehend einig: „Hinschauen“ müsse man und Verfehlungen „klar benennen“. Was beileibe nicht selbstverständlich sei. „Es gibt hier Defizite, auch in der bayerischen Justiz“, kritisiert der Präsident der Israelitischen Kultusgemeinden in Bayern. „Wir haben immer wieder das Gefühl, dass es hier eine deutliche Sehschwäche auf dem rechten Auge gibt.“ Das habe sich erst kürzlich wieder gezeigt, als die Staatsanwaltschaft Würzburg die Ermittlungen gegen einen Corona-Leugner einstellte – obwohl dieser bei einer öffentlichen Kundgebung die Impfungen in einem Atemzug mit dem Holocaust genannt hatte. Die Begründung der Juristen: Der Mann habe den Holocaust ja nicht geleugnet und auch nicht relativiert, sondern er habe nur einen Vergleich gezogen. Doch genau darin liege ja die Verharmlosung, empört sich Schuster – dass der Redner die Impfungen mit dem Massenmord an den Juden gleichgesetzt habe: „Wie geschichtsvergessen muss man sein?“

Auch Spaenle spricht von „widerwärtigen“ Aussagen des Corona-Leugners: „Da wird das Leid der Opfer mit Füßen getreten. Das ist zutiefst verwerflich.“ Juristisch sei der Fall jedoch schwierig zu bewerten, deshalb wolle er keine Justizschelte betreiben, schränkt er ein. Gefordert sei vielmehr die ganze Gesellschaft, hier Position zu beziehen: „Das geht schon bei einem blöden Witz los.“ Und noch etwas sei im Kampf gegen Antisemitismus wichtig: Bildung. Deshalb hat der frühere bayerische Kultusminister vor Kurzem eine 48-seitige Publikation veröffentlicht, unter anderem mit Handlungsbeispielen für Schule und Ehrenamt. Deren Titel ist Programm: „Wissen gegen Judenhass“.
(Brigitte Degelmann)

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