Politik

Die Bundeswehr hat mit der Evakuierung deutscher Staatsbürger und afghanischer Ortskräfte aus Kabul beginnen. (Foto: dpa/Julian Stratenschulte)

16.08.2021

Söder fordert Sondergipfel der Nato

Die Taliban haben die Hauptstadt Kabul viel schneller erreicht als erwartet. Die Evakuierung deutscher Staatsbürger und afghanischer Ortskräfte der Bundeswehr und deutscher Ministerien wird dadurch schwieriger und gefährlicher. Aber erste Schritte sind gemacht

Der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder hat wegen Afghanistan einen sofortigen Sondergipfel von Nato und EU gefordert. Die Entwicklung in dem Land sei "eine der größte Niederlagen der westlichen Politik", sagte er dem Online-Portal "Bild live". Fast kampflos kämen die für die Terroranschläge vom 11. September 2001 Mitverantwortlichen jetzt wieder zurück an die Macht. Die Hilflosigkeit gegenüber diesem Vormarsch sei "echt erschütternd".

Insbesondere die USA müssten sich stärker mit ihren europäischen Partnern absprechen, forderte Söder. "Der völlig überraschende Abzug der Amerikaner ist natürlich die Hauptursache für die Situation. Die Bundeswehr kann nicht allein dort bleiben, wenn die Amerikaner abziehen." Es sei daher "sinnvoll, jetzt eine rasche Beratung zu finden, nicht nur in der Europäischen Union, sondern vor allem in der Nato. Es braucht eine Nato-Sondersitzung", sagte der bayerische Ministerpräsident und sprach von einer "verheerenden Bilanz des Westens" in Afghanistan. Die USA seien auch in der Pflicht, Flüchtende aufzunehmen.

Angesichts der zugespitzten Lage in Afghanistan hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einen für diesen Montag geplanten Besuch der Bayreuther Wagner-Festspiele abgesagt. Das bestätigten ein Festspiel-Sprecher und das Bundespräsidialamt. Eigentlich wollte sich Steinmeier eine "Tannhäuser"-Inszenierung ansehen.

Der Bundespräsident werde im Laufe des Tages unter anderem mit Außenminister Heiko Maas (SPD) und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) sowie mit Fachleuten für die Region telefonieren, sagte die Sprecherin in Berlin. Er wolle sich ein eigenes Bild von der dramatischen Situation in Afghanistan machen.

Das Land befindet sich inzwischen faktisch in der Hand der militant-islamistischen Taliban. Der afghanische Präsident Aschraf Ghani setze sich am Sonntag ins Ausland ab. Nur wenige Stunden später nahmen die Taliban den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Kabul ein. Die Bundesregierung versucht unter Hochdruck, mit Hilfe der Bundeswehr Mitarbeiter der inzwischen geschlossenen deutschen Botschaft und andere Deutsche sowie afghanische Ortskräfte außer Landes zu bringen. In der Nacht zu Montag landeten nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur 40 Mitarbeiter der deutschen Botschaft mit einem US-Flugzeug in Doha im Golfemirat Katar. Wenige Stunden später starteten am Morgen die ersten drei Militärmaschinen der Bundeswehr mit Fallschirmjägern an Bord Richtung Kabul. Sie sollen die Evakuierung absichern.

Es ist die bislang wohl größte Mission dieser Art der Bundeswehr - und eine besonders brisante. "Fest steht: Es ist ein gefährlicher Einsatz für unsere Soldatinnen und Soldaten", schrieb das Verteidigungsministerium am Montag auf Twitter. Die Bundeswehr war erst Ende Juni nach einem 20-jährigen Einsatz aus Afghanistan abgezogen.

Die Taliban hatten in den vergangenen Tagen in einem rasanten Tempo eine Stadt nach der anderen teilweise kampflos eingenommen, waren am Sonntag auch in die Hauptstadt Kabul eingedrungen und haben bereits den Präsidentenpalast in ihrer Kontrolle. Die Bundesregierung hatte angesichts der dramatischen Lage am Freitag entschieden, das Botschaftspersonal auf ein Minimum zu reduzieren. Am Sonntag wurden bereits alle Mitarbeiter zum Flughafen gebracht, der von mehreren tausend US-Soldaten abgesichert wird.

UMFANG DER EVAKUIERUNGSAKTION NOCH UNKLAR
Der erste Evakuierungsflug wurde mit einer US-Maschine absolviert. Fortgesetzt werden soll die Aktion mit den Bundeswehrmaschinen vom Typ A400M. Sie sollen in den nächsten Tagen zentraler Bestandteil einer "Luftbrücke" sein, über die neben den Botschaftsmitarbeitern auch andere deutsche Staatsbürger sowie Ortskräfte, die für die Bundeswehr oder Bundesministerien in Afghanistan gearbeitet haben oder noch arbeiten, nach Deutschland bringen.

Die Maschinen, die Platz für 114 Passagiere bieten und über besonderen Schutz gegen Angriffe beispielsweise mit Raketen verfügen, fliegen die Betroffenen zunächst nach Taschkent im Nachbarland Usbekistan aus. Von dort geht es mit zivilen Maschinen weiter nach Deutschland.

Die Gesamtzahl deutscher Staatsbürger, die bis Sonntag noch in Kabul waren, wurde auf mehr als 100 geschätzt. Um wieviele Ortskräfte es geht, war bis zuletzt unklar. Es ist auf jeden Fall eine Zahl im vierstelligen Bereich. Alleine in der staatlichen Entwicklungshilfe waren zuletzt noch 1100 Afghanen in deutschem Auftrag tätig. Hinzu kommen tausende ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr oder der Bundesministerien.

"OPERATIVES KERNTEAM" SOLL IN KABUL BLEIBEN
Außenminister Heiko Maas (SPD) sagte bereits am Sonntag, dass die Sicherheit der deutschen Staatsangehörigen und der afghanischen Mitarbeiter der vergangenen Jahre "oberste Priorität haben. Nach seinen Angaben wird ein "operatives Kernteam" der Botschaft in Kabul am militärisch gesicherten Teil des Flughafens bleiben, um die Arbeitsfähigkeit der Botschaft zu erhalten und um die weiteren Evakuierungsmaßnahmen mit begleiten zu können. Das eigentliche Botschaftsgebäude wurde geschlossen.

"Wir setzen jetzt alles daran, unseren Staatsangehörigen und unseren ehemaligen Ortskräften eine Ausreise in den kommenden Tagen zu ermöglichen", sagte Maas. "Die Umstände, unter denen das stattfinden kann, sind aber derzeit schwer vorherzusehen." Deshalb stehe die Bundesregierung auch in einem engen Austausch mit den USA und anderen internationalen Partnern.

KABINETT LEGT MANDAT FÜR BUNDESWEHREINSATZ VOR
In der Kabinettssitzung an diesem Mittwoch soll das Mandat für den Bundeswehreinsatz beschlossen werden. Darüber unterrichtete Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Sonntagabend die Vorsitzenden der Bundestagsfraktionen telefonisch, wie die dpa aus Teilnehmerkreisen erfuhr.

In der darauffolgenden Woche soll dann der Bundestag darüber beraten und entscheiden. Am 25. August kommt das Parlament ohnehin zu einer Sondersitzung zusammen, um die Hilfen für die Hochwassergebiete zu beschließen. Dann soll auch der Evakuierungseinsatz auf die Tagesordnung kommen. Bei Gefahr im Verzug können bewaffnete Bundeswehreinsätze wie in diesem Fall auch nachträglich vom Parlament mandatiert werden.

OPPOSITION KRITISIERT SPÄTE EVAKUIERUNG
Am Tempo der Evakuierungsaktion gibt es massive Kritik aus der Opposition. Der FDP-Außenexperte Alexander Graf Lambsdorff sagte der "Welt" (Online Sonntag/Print Montag), Maas, Kramp-Karrenbauer und Innenminister Horst Seehofer (CSU) hätten "auf ganzer Linie versagt". Auch für Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter ist die Aktion zu spät angelaufen. "Man muss sich fragen, warum die Bundesregierung so überrascht wirkt vom schnellen Vorstoß der Taliban", sagte er der dpa. Die Bundesregierung müsse jetzt ganz schnell handeln.

Der Fraktionsgeschäftsführer der Linken im Bundestag, Jan Korte, nannte das Agieren vor allem von Maas "skandalös". Korte warf dem Außenminister vor, damit Menschenleben zu gefährden. AfD-Fraktionschef Alexander Gauland kritisierte in der "Welt", die Bundesregierung habe den richtigen Zeitpunkt für die Evakuierung "verschlafen".

Der Fraktionschef der SPD im Bundestag, Rolf Mützenich, hatte dagegen bereits am Sonntag Vorwürfe gegen Maas zurückgewiesen. "Heiko Maas leitet nicht nur den Einsatzstab zur Rettung der deutschen Staatsangehörigen und Botschaftskräfte, sondern hat sich in den letzten Wochen auch intensiv um die Ausreise der afghanischen Ortskräfte und weiterer Menschen, die über die Unterstützung der Bundeswehr hinaus vor Ort tätig sind, gekümmert." Zudem befinde er sich im ständigen Austausch mit den internationalen Partnern.
(dpa)

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