Politik

10.06.2021

Soll die 'drohende Gefahr' aus dem Polizeiaufgabengesetz gestrichen werden?

Die bayerische Staatsregierung hat das umstrittene Polizeiaufgabengesetz (PAG) entschärft, die Änderungen sollen zum Sommer in Kraft treten. Im Entwurf weiterhin enthalten ist der Begriff einer "drohenden Gefahr". Das sei nicht nur verfassungswidrig, sondern einer modernen Bürgerpolizei unwürdig, kritisiert der Strafrechtler Mark A. Zöller. Landespolizeipräsident Wilhelm Schmidbauer widerspricht: Mit einer Streichung setze man vor allem den Schutz der Menschen aufs Spiel

JA

Mark A. Zöller, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches, Europäisches und Internationales Strafrecht und Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und das Recht der Digitalisierung an der LMU

Mit der nahezu flächendeckenden Einführung der drohenden Gefahr als Eingriffsschwelle für ein präventivpolizeiliches Tätigwerden nach dem Polizeiaufgabengesetz hat sich die bayerische Staatsregierung juristisch wie politisch in eine Sackgasse manövriert.

Die Wahrheit ist: Das Bundesverfassungsgericht hat die drohende Gefahr bislang weder gefordert noch bestätigt. Wer das nicht glaubt oder wahrhaben will, den möchte ich herzlich bitten, die einschlägigen Judikate aus Karlsruhe zum BKA-Gesetz und zur Bestandsdatenauskunft II einmal selbst nachzuschlagen.

Die zahlreichen Verfassungsklagen gegen das neue PAG sind nach wie vor nicht entschieden. Es ist schon ein Gebot der Höflichkeit und des Respekts gegenüber den Gerichten, deren Votum hierzu abzuwarten.

Besonders ärgerlich ist, dass nun vonseiten des Innenministeriums und der Polizeiführung – wie so häufig, wenn Verschärfungen legitimiert werden sollen – behauptet wird, der Wegfall der drohenden Gefahr setze den Schutz der Bürgerinnen und Bürger aufs Spiel. Dieses peinliche Spiel mit der Angst der Bürger ist schon deshalb albern, weil Bayern bereits vor Einführung der drohenden Gefahr statistisch gesehen das sicherste Bundesland war. Zudem geht auch in allen anderen Bundesländern, die die drohende Gefahr aus guten Gründen entweder überhaupt nicht oder allenfalls punktuell eingeführt haben, der Rechtsstaat nicht unter.

Natürlich wirkt die drohende Gefahr auf den ersten Blick des Polizeipraktikers als Geschenk des Himmels. Sie bedeutet maximale Flexibilität bei minimalem Rechtfertigungsdruck. Das ist aber nicht nur wegen Unbestimmtheit und Unverhältnismäßigkeit verfassungswidrig, sondern einer modernen Bürgerpolizei unwürdig. Unsere Beamten können nie sicher sein, dass ihre auf wackeliger verfassungsrechtlicher Grundlage getroffenen Anordnungen vor Gericht wirklich Bestand haben. Sie und wir alle haben Besseres verdient.


NEIN

Wilhelm Schmidbauer, Bayerischer Landespolizeipräsident

Der Bürgermeister, der immer wieder anonyme Mails erhält, wonach ihm sein „dämliches Grinsen bombensicher bald vergehen“ wird.

Die gepeinigte Frau, die sich von ihrem gewalttätigen Gatten trennt, wobei er ankündigt: „Unser nächstes Treffen wird dir für immer ins Gesicht gebrannt sein.“ Diese Menschen befinden sich in drohender Gefahr, das heißt, bei ungehindertem Geschehensablauf können sie an ihrer Gesundheit geschädigt oder gar getötet werden; aber wo, wann und wie jemand Schaden nehmen wird, das kann die Polizei noch nicht sagen! Und dennoch darf der Staat hier nicht wegsehen.

Das Bundesverfassungsgericht hat die drohende Gefahr erstmals 2016 beschrieben und zugleich die konkrete Gefahr eingeschränkt: Auch wenn die Polizei Ort, Zeit und Art und Weise des Schadenseintritts nicht kennt, lag nach der bis dahin herrschenden Meinung in Literatur und Rechtsprechung eine konkrete Gefahr vor. Das Bundesverfassungsgericht akzeptierte es nicht mehr, dass ein polizeiliches Einschreiten im oben beschriebenen Gefahrenvorfeld weiter auf die konkrete Gefahr gestützt wird. In diesem Bereich müsse der Gesetzgeber spezielle Regeln entwerfen.

Der Bayerische Landtag hat 2017 diesen Auftrag des Bundesverfassungsgerichts angenommen. Damit keine Schutzlücke entsteht, hat er für diese Fälle im Polizeiaufgabengesetz die drohende Gefahr und klare Eingriffsschwellen für die Polizei gesetzlich definiert.

Mittlerweile ist die drohende Gefahr vom Bundesverfassungsgericht 2020 in zwei Entscheidungen bestätigt worden. Auch ist die neue Gefahrenkategorie inhaltlich von fast allen Polizeigesetzgebern in Deutschland aufgegriffen worden. Die politische Forderung nach einer Streichung der drohenden Gefahr missachtet also nicht nur Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, sondern setzt vor allem den Schutz der Menschen in unserem Land aufs Spiel.

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