Politik

Auf Landesebene möglich, auf Bundesebene aber nicht: Volksentscheide. (Foto: dpa)

14.07.2017

Spielplatz für Populisten

Die Forderung nach Volksentscheiden auf Bundesebene wird immer populärer – doch sind sie wirklich sinnvoll?

Für Philip Kovce ist der Fall klar: „Die gegenwärtigen Herausforderungen – angefangen bei der Armutsbekämpfung bis hin zur Zukunft der Arbeit – sind längst unparteiisch, überparteiisch geworden.“ Und der mündige Bürger sei das auch: „Er will nicht bloß alle paar Jahre seine Erziehungsberechtigten wählen, sondern Sachfragen frei entscheiden und sich selbstbestimmt vertreten lassen“, sagte der Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler dem Deutschlandfunk und fügte hinzu: „Genau deshalb ist es an der Zeit, dass wir auch auf Bundesebene endlich volljährig werden und Volksabstimmungen einführen.“ Er spricht gar von einer „Entmündigung der Bürger“. Kovce, der dem renommierten Club of Rome angehört, argumentiert zwar besonders radikal für Volksentscheide auf Bundesebene, doch die Forderung, die er vertritt, wird immer populärer.

Bereits Anfang 2015 hatten sich fast drei Viertel der Bürger bei einer Umfrage für Volksbegehren und Volksentscheide auch auf Bundesebene ausgesprochen. Und seit sich Ende vergangenen Jahres auch mehr als zwei Drittel der CSU-Mitglieder für Volksentscheide auf Bundesebene ausgesprochen haben, hat die Debatte massiv an Fahrt aufgenommen. Horst Seehofer ist schon länger ein Fan deutschlandweiter Plebiszite. „Bürgerbeteiligung ist der Kern moderner Politik“, so das Argument des CSU-Chefs. Das gelte auch für große Fragen wie eine Änderung des Grundgesetzes oder in der Europapolitik.

Widerstand kommt jedoch nach wie vor von Seiten der CDU. Die SPD konnte sich mit ihrer Forderung nach mehr direkter Demokratie in der Großen Koalition nicht gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel und CDU-Parteigranden durchsetzen. Die Genossen hatten sich bereits 2011 auf einem Parteitag für Volksentscheide auf Bundesebene ausgesprochen. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) ist überzeugt, direkte Demokratie führe zu einem besseren Dialog zwischen Politikern und Bürgern. Und der sei „dringend notwendig“. Grüne und Linke hatten in der Vergangenheit mehrfach erfolglos im Bundestag die Einführung von bundesweiten Volksentscheiden gefordert, hatten dafür jedoch die erforderliche Mehrheit nicht erreicht. Bei der AfD steht der Wunsch nach Einführung von „Volksentscheiden nach Schweizer Modell“ im Grundsatzprogramm. Doch viele Experten sehen derlei Forderungen kritisch. „Das Problem ist, dass es in der Regel um komplizierte Gesetzesvorhaben geht, bei denen man oft nicht schlicht mit Ja oder Nein antworten kann“, sagt der renommierte Historiker Horst Möller. So sei etwa die Frage des Brexit „so kompliziert, dass selbst Experten Probleme haben, die milliardenschweren Folgen für Großbritannien vernünftig zu erfassen“. Auch gehe es bei den „Debatten vor Volksentscheiden mitunter nicht um das eigentliche Thema“. Beispielsweise sei etwa in Frankreich der EU-Vertrag von Lissabon 2005 „vor allem deshalb abgelehnt worden, weil der unbeliebte Staatschef Jacques Chirac dafür war“, sagt der frühere Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte der Staatszeitung.

Möller begründet seine Ablehnung auch damit, dass Volksentscheide in der Weimarer Republik stets „agitatorisch und antidemokratisch“ eingesetzt worden seien. Er vergleicht zwar Berlin nicht mit Weimar, doch er sagt auch: „Die Gefahr populistischer Meinungsmache ist in Europa noch immer sehr hoch. Das haben wir gerade beim Brexit wieder gesehen.“

Auch Ursula Münch, Direktorin der Akademie für Politische Bildung, übt Kritik: „Ich halte eine Stärkung der direkten Demokratie auf Bundesebene für völlig kontraproduktiv, weil das die repräsentative Demokratie noch weiter schädigen würde.“ 20 Prozent der Wähler entschieden erst am Vormittag der Bundestagswahl, bei welcher Partei sie ihr Kreuz machen. „Wollen wir diesen Leuten zumuten, sich mit so komplexen Themen wie der europäischen Integration oder der griechischen Schuldenpolitik zu beschäftigen?“

Die Schweiz als Vorbild?

Laut dem Politologen Möller würden solche Abstimmungen auch nicht nicht die Demokratieverdrossenheit abmildern. CSU-Chef Seehofer hofft jedoch, dass Entscheidungen durch die Bürger große Themen „befrieden“ könnten. Dass dies tatsächlich funktionieren kann, zeigt das Beispiel Stuttgart 21. Aufgrund der heftigen Proteste sah es lange so aus, als sei die baden-württembergische Bevölkerung mehrheitlich gegen das Mega-Projekt, das für das Land von großer Bedeutung ist. Dann stimmte eine Mehrheit dafür, der Streit ist seither weitgehend beigelegt. Möller warnt allerdings: Die Politiker könnten durch Volksentscheide auf Bundesebene unangenehme Entscheidungen aus ihrem Bereich abschieben: „Später können sie dann, wenn es schiefgeht, sagen: Wir waren ja dagegen, aber das Volk hat sich anders entschieden.“

Allerdings: Die Schweiz praktiziert seit Jahrhunderten erfolgreich direkte Demokratie –  und doch gilt das Land als Hort der Stabilität. Möller lässt das nicht gelten: „Die Schweiz lässt sich mit großen Flächenstaaten wie Deutschland, in denen heterogene Industriegesellschaften existieren, nicht vergleichen.“

Die Liberalen sind in Bayern in der Frage der Volksentscheide auf Bundesebene derweil gespalten. Bereits 2012 hatte die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger deren Einführung gefordert. Der bayerische FDP-Chef Albert Duin aber sagte jüngst der BSZ, er sei skeptisch. „Da gehen Leute hin, die etwas verhindern wollen, die anderen, die dafür sind, bleiben daheim.“ Er halte die parlamentarische Demokratie, „bei der Politiker Verantwortung übernehmen, für eine perfekte Regierungsform“.

Würde im Herbst eine schwarz-gelbe Koalition die Mehrheit im Bund erringen, würden die Liberalen jedoch mehrheitlich zu den Befürwortern von mehr direkter Demokratie gehören. Ein Umdenken von CDU-Chefin Merkel ist dann durchaus möglich – mehrmals hatte sie in den vergangenen Jahren für die CDU lange identitätsstiftende Positionen wie die Wehrpflicht und das Nein zur Homo-Ehe gekippt.

Allerdings glauben auch viele Befürworter direkter Demokratie nicht, dass sich damit die Gesetzesfindung wesentlich ändern dürfte. Nur einer von fünf Deutschen gab 2015 bei einer Umfrage an, die Bürger hätten durch Volksentscheide auf Bundesebene „sehr viel mehr Einfluss auf politische Entscheidungen“. (Tobias Lill)

Kommentare (3)

  1. Stefan Bauer am 14.07.2017
    Leider folgen die im Artikel genannten Gegenargumente den üblichen, oberflächlichen Betrachtungsweisen. Die Qualität direkter Demokratie wird stark durch die Verfahrensregeln geprägt. Bei Volksentscheiden, die durch Bürgerinnen und Bürger initiiert werden, entfallen weitgehend die taktischen Motivationen wie sie beim Brexit oder beim EU-Vertrag vorlagen und von den Wählenden auch durchschaut wurden. Es geht dann tatsächlich um die Klärung einer strittigen oder von der etablierten Politik vernachlässigten Frage.
    Zudem wird dann der Vorschlag erst dem zuständigen Parlament vorgelegt. Das kann nicht nur zustimmen oder ablehnen, sondern zusätzlich dem Wahlvolk einen besseren Alternativvorschlag vorlegen und so die ganze parlamentarische Kompetenz zur Wirkung bringen. Allzu einseitige oder minderheitsorientierte Vorschläge können damit qualifiziert gekontert werden.
    Die Brexitabstimmung war regierungsveranlasst und bot im übrigen einen viel zu geringen Zeitraum für die öffentliche Diskussion. Volksinitiierte Abstimmungen haben einen viel längeren Vorlauf und es findet dadurch eine viel fundiertere öffentliche Meinungsbildung statt.
    Bei allen Unzulänglichkeiten der Brexit-Abstimmung: Warum kann eigentlich eine britische Regierung noch nicht einmal die Hälfte der Abstimmenden vom Sinn der bestehenden EU-Mitgliedschaft überzeugen? Das ist die Frage, der sich sowohl die Regierenden in UK als auch die EU-Verantwortlichen stellen sollten! Das würde zu substantiellen Verbesserungen führen - statt dessen bevorzugt man die Vermeidung demokratischer Entscheidungen (nicht nur von direktdemokratischen) und vergrößert so die Distanz zwischen Regierenden und Regierten.
  2. Stephan am 14.07.2017
    Horst Möller sollte es als Historiker besser wissen und für seine Thesen nicht Beispiele von pervertierter direkter Demokratie anführen: Sowohl die französische Abstimmung als auch der Brexit waren nicht vom Volk initiierte Abstimmungen (Referenden oder Initiativen), sondern "von oben" angeordnete und befohlene Entscheide, welche mit der Absicht - cui bono? - eingesetzt wurden, die eigene Macht zu stärken. Herr Cameron meinte, mit einer Abstimmung "seine" EU-skeptischen Torys zu zähmen bzw. seine interne Macht auszubauen. Frau May übrigens versuchte dasselbe mit taktisch angesetzten Neuwahlen. - Beide Vorgänge mit desaströsem Ausgang im Vgl. zur ursprünglichen Absicht.

    Mit der Weimarer Republik zu wedeln (und damit indirekt mit dem Dritten Reich) ist ebenso unlauter, geradezu falsch von Herrn Möller: Hitler kam gerade durch ein parlamentarisches, repräsentatives System (mit einem zusätzlichen, unglücklichen Präsidenten) an die Macht (der später dann Volksabstimmungen ebenso missbrauchte).

    Wenn man sich schon nach Erfahrungen mit der direkten Demokratie umschauen will, dann ist ein Blick in die Schweiz unerlässlich. Warum weigert sich der "Experte" das zu machen? Herr Möller macht zwei Fehler: Er sollte wissen, dass (gerade heute!) nicht Distanzen oder Größe ("Flächenstaaten") über Heterogenität entscheiden, sondern Kulturunterschiede, und die könnten in der Schweiz mit sehr urbanen und sehr ländlichen Gebieten, vier Sprachen, mehreren geografischen Hindernissen (und früher sehr unterschiedlichen Konfessionen) etc. nicht größer sein. Zudem - sein eigentlicher Fehler - direkte Demokratie (zusammen mit Föderalismus und Subsidiarität) ist eben gerade für heterogene "Gebilde" geeignet. Die Schweiz hatte vielmals das Potential, ein zerstrittener Vielvölkerstaat zu werden...

    Und tatsächlich sind bei den Abstimmungen die Diskussionen in der Schweiz wirklich sachlich, und es geht nicht um Personen oder Parteien oder die in Deutschland unerträgliche Dauer-Wahlkampfshow. - Beweise gefällig? - Oft werden die beiden Positionen von informell, zeitlich begrenzten Komitees vertreten; darin findet man oft, Exponenten oder Mandatsträger gleicher Parteien in unterschiedlichen Lagern bzw. man findet Vertreter gegensätzlicher Parteien im gleichen Lager... Oder Minister kämpfen für "Ihre" Vorlagen und gleichzeitige gegen die Position ihrer Partei.

    Damit wären wir auch bei der Kritik von Frau Münch angelangt, die ich sehr gerne aufnehme: Frau Münch sollte sich man anschauen, wie die repräsentative Demokratie de facto heute funktioniert: Kanzler(in) bzw. Ministerpräsident = Parteichef = informeller Fraktionschef. Damit ist die Gewaltenteilung tatsächlich ausgehebelt, und die Mandate tatsächlich ganz und gar nicht frei: Der einfache Abgeordnete wird doch nicht gegen die Parteilinie stimmen, wenn die Jobs (Listenplätze! Staatssekretäre! Vorsitzende! Ausschüsse!) zentral vergeben werden.

    Direkte Demokratie stärkt die repräsentative Demokratie, da sie den Abgeordneten jederzeit mit einem *sachbezogenen* Eingriff "droht" und sie so zu besseren, im Sinne von: mehrheitsfähigen und repräsentativen Entscheidungen anhält. Sie erhöht die Motivation der Abgeordneten, die Meinung des Volkes zu repräsentieren statt der Chef-Parteilinie zu folgen!

    Ich weiß auch nicht, welche Partei unter pseudo-monarchistischer Führung eines sog. "Spitzenkandidaten" ich wählen würde. Ich mag grüne Umweltpolitik, gelbe Wirtschaftspolitik, rote sozial Politik und schwarze Werte. (Oder in beliebiger Permutation). - Wenn soll ich wählen, Frau Münch?

    Ich sag's Ihnen: Ich entscheide am Morgen vor der Wahl.
  3. Trouver am 14.07.2017
    Die Schweiz hat bewiesen, daß Direkte Demokratie funktioniert.

    Hr. Möller hat seine Meinung, daß DDu speziell in Deutschland nicht funktioniert bisweilen nicht bewiesen. SOlli ihm man aufs Wort glauben? Ich glaube lieber an die Erfahrung der Schweizer.
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