Politik

Wunsiedel leidet besonders unter dem Bevölkerungsschwund. Foto: ddp

09.04.2010

Stadt, Land, Flucht

Weite Teile Nord- und Ostbayerns drohen zu vergreisen

Es war ein hehres Ziel, das die Väter der bayerischen Verfassung dem Gesetzgeber nach dem Krieg mit auf den Weg gaben: Die Regierung müsse dafür Sorge tragen, dass für alle Menschen im Freistaat möglichst gleiche Lebensbedingungen herrschten. Doch die Realität sieht auch nach mehr als fünf Jahrzehnten anders aus. In kaum einem westlichen Bundesland sind die wirtschaftlichen Verhältnisse regional so unterschiedlich wie in Bayern. So ist die Arbeitslosenquote in Teilen Frankens doppelt so hoch wie in vielen oberbayerischen Landkreisen.
Und das hat Folgen. Immer mehr junge Menschen stimmen mit den Füßen ab und verlassen ihre Heimat in Richtung prosperierender Regionen wie dem Großraum München. Derzeit leben in ländlichen Regionen des Freistaats laut Statistischem Landesamt noch etwa 7,7 Millionen Menschen. In zwei Jahrzehnten werden es nach Prognosen der Statistiker rund 200 000 Menschen weniger sein. Dabei fällt die Landflucht regional extrem unterschiedlich aus. Während manche oberbayerischen Orte auf dem flachen Land regen Zulauf junger Menschen erfahren, bleiben in vielen Gegenden Frankens sowie der Oberpfalz oftmals nur mehr die Alten ihrer Heimat treu. In der Oberpfalz werden im Jahr 2028 voraussichtlich 3,1 Prozent weniger Menschen leben als noch 2008, in Unterfranken beträgt das Minus sogar 5,6 Prozent.
Doch keine Region ist so vom Bevölkerungsschwund betroffen wie Oberfranken. Ende des nächsten Jahrzehnts werden dort fast zehn Prozent weniger Menschen wohnen als noch 2008. Lebten im Jahr 1991 noch rund 100 000 Menschen im Alter von 19 bis 24 Jahren in dem nordöstlichsten Bezirk des Freistaats, waren es 2008 nur mehr 76 000. Und im Jahr 2028 sollen es den Prognosen zufolge nur mehr etwa 55 000 sein. Die Region vergreist. Bereits in einem Jahrzehnt ist voraussichtlich ein Drittel der Oberfranken älter als 60 Jahre.
„Wenn die Politik nicht gegensteuert, droht das Ausbluten des ländlichen Raums“, prophezeit die SPD-Bundestagsabgeordnete Petra Ernstberger. Die Folgen kann sie regelmäßig beobachten, wenn sie durch ihren Wahlkreis Hof/Wunsiedel fährt. „Allein in der örtlichen Porzellanindustrie gingen in nur einem Jahrzehnt in der Region 15 000 Stellen verloren“, sagt sie. Zugleich entstanden kaum neue Jobs. „Die jungen Leute finden keine geeigneten Arbeitsplätze in der Region und gehen fort“, bedauert Ernstberger. So verliert der Landkreis Wunsiedel bis Ende des nächsten Jahrzehnts wohl mehr als ein Fünftel der Bevölkerung.
Als Folge des Exodus müssen in vielen der betroffenen Regionen Schulen oder Schwimmbäder schließen. Auch der Ärztemangel auf dem Land verschärft sich zusehends.Nur leer stehende Häuser gibt es zuhauf. Der FDP-Landtagsabgeordnete Thomas Dechant aus Regenstauf in der Oberpfalz fürchtet eine Abwärtsspirale: „Wer bleibt schon gerne in einer Region, in der viele Häuser leer stehen?“, fragt er. „Es droht ein Teufelskreis. Denn die Fixkosten – etwa für die Abwasserentsorgung – bleiben trotz des Bevölkerungsrückgangs gleich hoch“, sagt Dechant. Die Kämmerer müssten als Folge an der Gebührenschraube drehen. Für die im Ort bleibenden Menschen bedeutet das: höhere Abgaben. Nach Ansicht Dechants hat die CSU das Problem bisher verschlafen. Damit die Menschen im ländlichen Raum blieben, müssten sich vor allem neue Firmen ansiedeln. „Hier ist die Staatsregierung auf einem guten Weg – etwa durch die gezielte Mittelstandsförderung“, so der Liberale. Er mahnt aber eine bessere Verkehrsanbindung an. Wichtig seien zudem die weichen Standortfaktoren. „Wenn die Kinder mit dem Schulbus eine Stunde hin und eine zurück brauchen, erhöht das nicht gerade die Attraktivität eines Orts“, sagt er. Der Oberpfälzer hält die vom Freistaat eingeführten Mittelschulen nur für eine Zwischenlösung. Mittelfristig seien Kooperationschulen, also Haupt- und Realschulen unter einem Dach, der richtige Weg.
Tanja Schweiger, Parlamentarische Geschäftsführerin der FW-Fraktion, fordert derweil „eine regionale Schulentwicklung“. Sie würde in ländlichen Schulen am liebsten die fünften und sechsten Klassen zusammenlegen, um so die Wegzeiten für die Schüler zu verringern. Zudem müsse die DSL-Anbindung schneller vorangetrieben werden. Schweiger wirft der Staatsregierung vor, das flache Land bewusst zu vernachlässigen. „Viele junge Polizisten und Finanzbeamte werden gezwungen, in die großen Städte zu gehen, obwohl sie gerne in ihrer Heimat bleiben würden“, sagt die FW-Frau. Sie ist überzeugt: „Eine Steuerklärung kann statt in München auch in Tirschenreuth bearbeitet werden.“ Im Regierungslager erntet sie für ihren Vorschlag Kopfschütteln. Ein Sprecher der Staatskanzlei verweist darauf, dass die Verlagerung von Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst in die ländlichen Räume „seit Langem wesentlicher Teil der Strukturpolitik der Staatsregierung“ sei. Ein Beispiel hierfür sei der Umzug des Landesamts für Umwelt nach Hof. Auch aus dem Bereich der Finanzverwaltung seien seit den 90er Jahren über 600 Arbeitsplätze aus München in den ländlichen Raum verlagert worden. Bei der Polizei sei das Potenzial wegen der höheren Kriminalitätsrate in den Großstädten dagegen äußerst begrenzt.
Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) hat die Förderung der Peripherie inzwischen zur „Chefsache“ erklärt. Mit einer „breit aufgestellten Politik für den ländlichen Raum“ will er sicherstellen, „dass jeder Teil Bayerns gute Zukunftsperspektiven hat“. Das Kabinett befasst sich auf Wunsch Seehofers einmal im Monat mit dem Thema ländlicher Raum. Ein Staatssekretärs-Ausschuss soll Probleme wie den Ärztemangel auf dem Land angehen. „Es ist gut, dass Seehofer aufs Tempo drückt“, lobt deshalb Alexander König, Experte für den ländlichen Raum in der CSU-Fraktion.
Die SPD-Landtagsabgeordnete Annette Karl wirft Seehofer dagegen vor, „leere Versprechungen zu machen“. Sie fordert die Abschaffung des Staatssekretärs-Ausschusses, der bislang nichts bewegt habe. Statt dessen solle eine zentrale Stelle in der Staatskanzlei die Aktivitäten bündeln. Als zweiter Schritt müsse dann ein eigenes Ministerium geschaffen werden. (TOBIAS LILL)

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