Politik

Arztpraxen dürfen nur noch 30 Prozent ihrer Kapazität für Videosprechstunden nutzen. Das ist CSU und FDP in Bayern zu wenig. (Foto: dpa/Monika Skolimowska)

30.09.2022

Streit um Online-Sprechstunden

Viele Menschen wollen Arzt- oder Psychotherapiepraxen digital besuchen – werden aber von der Politik ausgebremst

Fortbildungen per Videokonferenz, ein Führungszeugnis online beantragen, mit dem Laptop im eigenen Wohnzimmer arbeiten – dass Corona das Tempo in Sachen Digitalisierung beschleunigt hat, belegen etliche Studien. Auch viele Arzt- und Psychotherapiepraxen bieten inzwischen telemedizinische Sprechstunden an, die sie dank einer Sonderregelung während der Pandemie unbegrenzt über die Krankenkassen abrechnen konnten. Doch das ist vorbei. Denn seit April gilt für Videotermine in der vertragsärztlichen Versorgung eine Beschränkung auf 30 Prozent der Praxiskapazität. Das beschloss der Bewertungsausschuss, bestehend aus Vertretern der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenversicherungen. 

Zum Unwillen mancher Kassen. Diese Vorgabe baue Schranken auf und bremse die Digitalisierung des Gesundheitssystems, moniert etwa Claudia Wöhler, Landesgeschäftsführerin der Barmer in Bayern. Dominik Spitzer, gesundheitspolitische Sprecher der FDP-Landtagsfraktion, sieht das ähnlich. „Ich sehe diese Begrenzung sehr kritisch.“ Er verweist auf den volkswirtschaftlichen Schaden, wenn Patient*innen eine weite Anfahrt in Kauf nehmen oder stundenlang in Wartezimmern ausharrten müssten – obwohl sie nur ein oder zwei Fragen hätten, die ohne Weiteres auf digitalen Wegen geklärt werden könnten. „Muss man das wirklich limitieren?“, fragt der Abgeordnete. „Ich sehe den Sinn darin nicht.“ 

 Jegliche Beschränkung aufheben? So weit würde er nicht gehen, sagt hingegen Bernhard Seidenath, Vorsitzender des Arbeitskreises Gesundheit und Pflege der CSU-Landtagsfraktion. Der persönliche Kontakt sei schließlich „der Goldstandard“. Aber mit der Absenkung auf 30 Prozent kann er sich ebenfalls nicht anfreunden: „Vielleicht wäre eine Begrenzung auf 50 bis 60 Prozent sinnvoller.“ Zurückhaltender äußern sich Gesundheitsexpert*innen von Grünen, SPD und Freien Wählern: Derartige Regelungen seien durchaus sinnvoll, sie müssten aber im Einvernehmen mit dem ärztlichen und psychotherapeutischen Fachpersonal getroffen werden, wobei grundsätzlich das Wohl der Patient*innen im Vordergrund stehen müsse. Auch KBV-Pressesprecher Roland Stahl verteidigt die Limitierung. Denn die Videosprechstunde habe ihre Grenzen: „Selbst einfache Untersuchungen wie das Abhören mit dem Stethoskop sind beispielsweise nicht möglich. Sie ist ein ergänzendes Tool, kein allgemeiner Ersatz des persönlichen Arzt-Patienten-Kontakts.“ 

 Unbestritten ist, dass es während der Pandemie einen Boom in Sachen Telemedizin gab. Während die KBV im gesamten Jahr 2019 gerade mal rund 3000 Videosprechstunden bei den niedergelassenen Vertragsarztpraxen in ganz Deutschland registrierte, waren es im ersten Halbjahr 2020 schon 1,4 Millionen. Allerdings seien hier auch Wellenbewegungen zu beobachten, sagt Stahl, je nachdem, wie schlimm das Virus gerade wütete: Wurden im ersten Quartal 2021 noch 1,2 Millionen Videokonsultationen abgerechnet, waren es im dritten Quartal nur noch rund 600 000. „Die Erfahrungen während der Corona-Pandemie belegen, dass auch viele Patienten den direkten persönlichen Kontakt zum Arzt bevorzugen“, resümiert der KBV-Sprecher.
Dennoch biete die digitale Variante Vorteile, räumt Stahl ein – etwa im Bereich der „sprechenden Medizin“, insbesondere in der Psychotherapie. Hier regt sich bereits Unmut am Vorgehen des Bewertungsausschusses. Eine Therapeutin aus Münster startete sogar eine Petition – mit dem Ziel, Online-Konsultationen wieder ohne Einschränkungen nutzen zu dürfen.

Sorge vor unseriösen Anbietern aus dem Ausland

Ein Vorstoß, der unter der Kollegschaft jedoch umstritten ist. Denn etliche zu behandelnde Personen hätten inzwischen festgestellt, dass ihnen Videokontakte allein nicht genügten, sagt die Münchner Psychotherapeutin Claudia Ritter-Rupp, die auch als zweite Vorsitzende der KVB fungiert. Sich auf jemanden einzulassen, der nur auf dem Bildschirm auftaucht, zu dem man keinen richtigen Augenkontakt haben kann – das sei schließlich alles andere als einfach. Umso wichtiger sei es, die Möglichkeit offenzuhalten, jederzeit in Präsenztermine zu wechseln. Deshalb müsse das therapeutische Fachpersonal in erreichbarer Nähe sein. Vor diesem Hintergrund sähen die meisten ihrer Kolleginnen und Kollegen eine Limitierung der Telemedizin als durchaus sinnvoll an. 

Zu ihnen gehört auch Nikolaus Melcop, Präsident der bayerischen Psychotherapeutenkammer (PTK). „Videosprechstunden sind eine gute Ergänzung, aber sie können Präsenz nicht ersetzen“, urteilt er. Zumal sich Online-Termine ohnehin nur für einen bestimmten Patientenkreis eigneten. Was nicht nur daran liegt, dass stabile Internetverbindungen in manchen Regionen immer noch ein Wunschtraum sind. Wer sich schwertut im Umgang mit Computern oder keinen geschützten Raum in seiner Wohnung hat, für den komme eine Therapie per Video kaum infrage, gibt Melcop zu bedenken. Bei einer generellen Freigabe wären solche Menschen benachteiligt.

Noch eine Sorge treibt ihn und Ritter-Rupp um: Online-Unternehmen, die im Bereich Medizin und Psychotherapie lukrative Geschäfte wittern könnten. Vor einigen Wochen sorgte beispielsweise der Internet-Riese Amazon für Aufsehen, als er ankündigte, dass er in den USA ein Unternehmen für telemedizinische und stationäre Behandlungen kaufen wolle. Auch in Europa streckten Anbieter von Online-Therapien bereits ihre Fühler aus, sagt der PTK-Präsident. Die Gefahr dabei: Sitzen diese Firmen im Ausland, könne man die Qualität der Behandlungen nicht mehr kontrollieren. „Wenn wir diese Türe einmal offen haben, wird es schwer, das wieder zurückzufahren“, warnt auch die zweite KVB-Vorsitzende. „Wir tun uns keinen Gefallen damit, wenn wir hier zu schnell vorgehen. Die 30-Prozent-Regelung ist deshalb ein guter Mittelweg.“ (Brigitte Degelmann)
 

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