Politik

1200 Menschen demonstrierten vergangene Woche in Kassel nach dem Tod des dortigen Regierungspräsidenten gegen rechte Gewalt. (Foto: dpa/Uwe Zucchi)

28.06.2019

„Sucht euch einen anderen Deppen“

Auch wegen der zunehmenden Pöbeleien und Drohungen streben immer weniger Menschen in die Kommunalpolitik

Für Titus Schüller war es ein Schock. „Auf Facebook hatte jemand eine gefälschte Todesanzeige von mir erstellt“, erinnert sich der 33-jährige Nürnberger Linken-Stadtrat an jenen Vorfall im November 2015. Mehrfach hatte er in den vergangenen Jahren Morddrohungen erhalten, mehrfach wurden die Scheiben des Parteibüros eingeschmissen. Der Linke engagiert sich in seiner Heimatstadt seit Langem gegen Rechtsradikalismus.

Schüller ist kein Einzelfall. „Pöbeleien und Drohungen gegen Kommunalpolitiker haben in den vergangenen Jahren massiv zugenommen“, sagt Wilfried Schober, Sprecher des bayerischen Gemeindetags. Dessen Präsident Uwe Brandl (CSU), Bürgermeister von Abensberg, sah sich vor mehreren Jahren mit einer angedrohten Entführung seiner Familie konfrontiert. Letztendlich entpuppte sich die Drohung als schlechter Scherz.

Doch manchmal bleibt es nicht bei verbaler Gewalt. In einer Umfrage der Zeitschrift Kommunal antworteten fast acht Prozent der befragten Bürgermeister, in ihren Kommunen seien seit 2015 Lokalpolitiker oder Verwaltungsmitarbeiter körperlich angegriffen worden. Jeder 50. Bürgermeister gab an, selbst Opfer von Gewalt geworden zu sein. In einer Umfrage unter 258 bayerischen Bürgermeistern berichtete mehr als jeder zweite von persönlichen Beleidigungen. So wurde Erdings Rathauschef Max Gotz (CSU) nach eigener Aussage wegen einer Baumfällung als „Baummörder“ beschimpft. „Nicht selten sind die Pöbler unzufriedene Bürger, die nicht ihren Willen bekommen haben“, so Gemeindetagssprecher Schober.

Zivilcourage zeigen wird schwieriger

Hinter den Drohungen stehen aber oft auch Rechtsextreme – so wie wohl auch im Fall des Münchner CSU-Stadtrats Marian Offman. Der 71-Jährige jüdischen Glaubens wurde zuletzt im Internet zum Volksverhetzer erklärt. „Natürlich hofft man, dass diese Leute keine gefährlichen Verwirrten sind“, sagt er und fügt hinzu: „Doch dass die Gefahr real ist, zeigt der Fall Lübcke.“ Der Kasseler Regierungspräsident wurde Anfang Juni mutmaßlich von einem Rechtsterroristen per Kopfschuss getötet.

In Bayern gingen im Jahr 2018 laut Innenministerium 50 von 173 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger auf das Konto rechtsmotivierter Verdächtiger. Mutmaßlich linksterroristisch motiviert waren 29 – doppelt so viele wie noch im Vorjahr. Deren Opfer sind etwa AfD-Politiker.

Wegen der sich häufenden Attacken wollen sich laut Brandl immer weniger Menschen in der Kommunalpolitik engagieren. In mehr als 100 Gemeinden in Bayern gebe es für die Kommunalwahlen im März 2020 noch keinen Kandidaten. Gemeindetagssprecher Schober zufolge hängen „wegen der seit einigen Jahren massiv zunehmenden Beleidigungen und Bedrohungen in den sozialen Medien wie Facebook zudem immer mehr Bürgermeister ihr Amt an den Nagel“. Der Gemeindetag rechnet damit, dass nach den Wahlen im Frühjahr 2020 weit mehr Rathauschefs aus dem Amt ausscheiden werden als bei früheren bayerischen Kommunalwahlen. Immer mehr Bürgermeister, aber auch Stadt- und Gemeinderäte dächten angesichts der Pöbeleien: „Dann sucht euch halt einen anderen Deppen.“

Meist geschieht der Abgang leise. Schlagzeilen machte jedoch der Fall des Bürgermeisters von Tröglitz (Sachsen-Anhalt), der nach Morddrohungen von Nazis zurücktrat.

Politologe warnt: "Man engagiert sich dann eben in anderen Feldern, die weniger gefährlich erscheinen"

Der Münchner Politik-Professer Werner Weidenfeld sieht in der hohen Zahl an Pöbeleien und Übergriffen gegen Politiker nicht nur eine Gefahr für die Demokratie vor Ort. Generell zögerten immer mehr Menschen, ein politisches Amt anzustreben. Der Ex-Kanzlerberater analysiert: „Man möchte die Gefahr vermeiden und engagiert sich dann eben in anderen Feldern, die weniger gefährlich erscheinen.“ Sprich: Junge Menschen gehen lieber in den Sportverein oder feiern, als in eine Partei einzutreten. Dabei haben die meisten Parteien ohnehin massive Probleme, Nachwuchs zu finden.

Politologe Weidenfeld sieht noch eine andere Gefahr. „Zum Kern der Demokratie gehört der offene Disput.“ Doch wird etwa ein Befürworter von Merkels Flüchtlingspolitik seine Meinung auch künftig noch sagen, wenn er weiß, dass Lübcke für seinen Standpunkt mit dem Leben bezahlte? (Tobias Lill)

Kommentare (1)

  1. Bicik am 28.06.2019
    Nazis sterben nicht aus weil das Volk einfache Gleichungen liebt, die nicht stimmen
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