Politik

15.01.2016

System des Schreckens

Ein Kommentar von André Paul

Der Leipziger Thomanerchor ist das ostdeutsche Äquivalent zu den Regensburger Domspatzen. Auch dort wurden immer wieder Fälle von Gewalt und sexuellem Missbrauch bekannt. Ebenso gerieten die Wiener Sängerknaben mit derlei Skandalen in die Schlagzeilen. Anders als die jungen Oberpfälzer befinden sich diese beiden Chöre in der Trägerschaft der Stadt beziehungsweise eines privaten Vereins – was die Kinder am Ende leider auch nicht schützte. Die Ursache für die Regensburger Übergriffe primär aus einem „System“ der für den Chor zuständigen katholischen Diözese Regensburg herzuleiten, greift also zu kurz. Nichtsdestrotz: Die Kleriker haben Schuld auf sich geladen oder, wie der frühere Chef Georg Ratzinger, einfach weggeschaut.

Systemimmanente Gefahren aufzeigen

Die Gründe für die schlimmen Geschehnisse dürften auch in der sozialen Binnenstruktur der Organisationen liegen. Im Mittelpunkt steht ein starker Leistungsgedanke. Es gilt, dauerhaft ein sehr hohes künstlerisches Niveau zu halten. Das erzeugt massiven Druck – bei den leicht manipulierbaren Kindern, aber auch bei den Verantwortlichen. Das knallharte Ausleseprinzip – wer qualitativ den Ansprüchen nicht (mehr) genügt, kann ausgewechselt werden, es drängen genügend andere nach – tut ein Übriges. Hinzu kommt die starke emotionale Abhängigkeit der jungen Sänger von den Betreuern. Viele leben im Internat, sehen ihre Familien selten. Über Monate, manchmal Jahre hinweg sind die Ausbilder ihre wichtigsten Bezugspersonen. Doch anders als „normale“ Lehrer sind diese Leiter oft nur fachlich, seltener auch pädagogisch geschult, viele wohl obendrein mit ihrer psychologischen Verantwortung für die Kinder überfordert. Gleichzeitig zieht die Möglichkeit, Macht über Abhängige auszuüben, häufig labile Persönlichkeiten an. Das gilt nicht nur für künstlerische Ensembles. Die traurige Reihe ließe sich fortsetzen bei den brutalen Sport-Kaderschmieden in der ehemaligen DDR und im heutigen China. Häufig bleiben außer blauen Flecken auch seelische Wunden zurück.

Immerhin, es soll in Regensburg konsequent aufgeklärt werden. Es wäre gut, wenn der damit beauftragte Anwalt sich nicht nur auf die Ermittlung individueller Schuld beschränkt, sondern auch die systemimmanenten Gefahren transparent macht. Denn eine Garantie, dass sich solche Fälle nicht wiederholen, gibt es nicht.

Kommentare (4)

  1. André Paul am 17.01.2016
    Sehr geehrter "Fan",
    bezüglich Ihrer Kritik verweise ich unter anderem auf den Beitrag "Engel im Kasten" von Peter Wensierski, erschienen am 15.12.2008 im "Spiegel", der sich detailliert mit Gewalt und sexuellem Missbrauch im Leipziger Thomanerchor vor und nach der Wende beschäftigt.
    Mit freundlichen Grüßen
    André Paul,
    Redakteur
  2. Fan am 15.01.2016
    Als langjähriger Thomanerfan reibe ich mir verwundert die Augen über "Immer wieder Gewalt" und sexueller Missbrauch". Der Thomanerchor ist gerade der Chor wo so etwas nicht vorkam! Und das Singen bei Hinrichtungen im Mittelalter werden die Verfasser doch wohl nicht ernsthaft meinen... Oder die strenge Hausordnung bis vor 20 Jahren. Der Artikelverfasser sollte dies schnellstmöglich korrigieren - sofern er keine belastbaren Quellen dazu verfügt.
  3. hhh am 15.01.2016
    Wenn Sie den Leipziger Thomanerchor ins Spiel bringen , müssen Sie der Gerechtigkeit
    halber auch hinzufügen , dass sich deren Leitung mit der Aufarbeitung echt Mühe gibt .
    Als ich vor vielen Jahren unserern Partnerchor in Leipzig besuchte , sah ich eine
    öffentliche Ausstellung des Thomanerchores . Da kam ich aus dem Staunen nicht mehr herraus .
    Ich sah Kupferstiche und Zeichnungen von Hinrichtungen aus dem Mittelalter , bei denen
    der Chor singen mußte . Stolz sind die Thomaner bestimmt nicht darauf , aber sie Vertuschen
    nichts . Deshalb kann ich ihnen vergeben .
    Aber was die RKK seit 1995 in meinem Fall unternimmt ist jämmerlich .
    ein ehem. Regensburger Domspatz aus Etterzhausen 1962 - 1964
  4. Dino am 15.01.2016
    Abgesehen, dass der Kommentar sich positiv von den meisten Pressemitteilungen abhebt, ist festzustellen, dass es bei den Domspatzen seit Jahrzehnten keine, wie man dem Kommentar aber entnehmen könnte, systemimmanente Gefahren mehr gibt. Die "Leiter", vor allem der Chöre sind alles andere als "labile Persönlichkeiten" sondern vergleichbar mit Jugendtrainern, die ihre Spieler kompetent und ohne Druck ausbilden und dadurch fit für den sportlichen Erfolg respektive das sehr hohe künstlerische machen. Wer keine Lust zum Training hat, sollte nicht zu einem Sportverein gehen.
    Übrigens gibt es bei den Domspatzen eine Musikalische Früherziehung und seit 2013 eine Grundschule quasi zum Ausprobieren.
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