Politik

Ein Mitglied der Klimaschutz-Protestgruppe Letzte Generation steht mit einem Schild mit der Aufschrift „Let’s Gooooo Tempolimit!“ vor dem Bundesverkehrsministerium. Auch die Evangelische Kirche Deutschland setzt sich für ein Tempolimit ein. (Foto: dpa/Paul Zinken)

08.12.2022

„Tempo 100 auf Autobahnen ist kein Unsinn“

Anna-Nicole Heinrich, Präses der Synode der Evangelischen Kirche Deutschland, über Tempolimits, Klimaziele – und wie man mit der „Letzten Generation“ umgehen sollte

Dieser Beschluss der Synode der Evangelischen Kirche Deutschland vor rund einem Monat in Magdeburg hat für viel Aufregung gesorgt – innerhalb der Kirche und außerhalb: Das Kirchenparlament beschloss, für Dienstfahrten im kirchlichen Kontext ein Tempolimit von 100 auf Autobahnen und 80 auf Landstraßen vorzugeben. Dass auch der Letzten Generation eine Bühne geboten wurde, rief weiteren Widerstand hervor. Anna-Nicole Heinrich (kleines Foto), Präses der Synode, geht im Interview mit der Kritik ganz gelassen um.

BSZ: Frau Heinrich, Bayerns Vizeministerpräsident Hubert Aiwanger hat, nachdem er vom Beschluss Ihrer Kirche zum Tempolimit bei Dienstreisen der Mitarbeitenden erfahren hatte, getwittert: „#100AufDerAutobahn ist Unsinn“. Sind Sie überrascht von dieser und vielen anderen teils heftigen Reaktionen?
Anna-Nicole Heinrich: Erst mal: Tempo 100 auf Autobahnen ist kein Unsinn, sondern spart für den Verkehrssektor eine nicht unerhebliche Summe an CO2 ein. Aber ich war schon überrascht, wie überspitzt diese Sache wahrgenommen worden ist.

BSZ: Inwiefern überspitzt?
Heinrich: Wir haben eine Selbstverpflichtung beschlossen und fangen somit bei uns selbst an. Wir wollen befördern, dass alle, die für die Kirche unterwegs sind, nur so schnell wie nötig und nicht so schnell wie möglich fahren. Und wir haben beschlossen, dass wir politische Prozesse unterstützen, die sich für ein generelles Tempolimit einsetzen. Das tun wir aber auch nicht erst seit gestern.

BSZ: Dennoch gab es auch intern viel Kritik an diesem Synoden-Beschluss.
Heinrich: Der Beschluss ist mit sehr großer Mehrheit verabschiedet worden. Es gab nur wenige Enthaltungen und Gegenstimmen.

BSZ: Sabine Kropf-Brandau, Pröpstin des Sprengels Hanau-Hersfeld, erklärte nach der Synode öffentlich, sie trage den Beschluss nicht mit und werde ihn auch nicht umsetzen. „Manchmal verstehe ich meine Kirche nicht mehr“, schrieb sie.
Heinrich: Erst einmal darf jeder Christ oder jede Christin, egal ob ehrenamtlich oder hauptberuflich, seine oder ihre Meinung äußern und auch für sich entscheiden, ob er oder sie der Bitte um Selbstbegrenzung folgt. Wir haben ja auch einen klaren Standpunkt kommuniziert. Genau darin liegt auch die Chance in unserer Kirche: miteinander ins Gespräch zu kommen.

BSZ: Haben Sie denn schon mit Kritikern des Beschlusses gesprochen?
Heinrich: Ja, und zumindest in den Gesprächen, die ich dazu geführt habe, hat sich das gut einordnen lassen.

BSZ: Wie?
Heinrich: Wer die Debatte nicht mitverfolgt und nur die Überschriften zum Thema wahrgenommen hat, fühlte sich gleich getriggert. Nach dem Motto: Jetzt schreibt mir meine Kirche auch noch vor, wie ich zu fahren habe. Einige kritische Rückfragen gingen auch in die Richtung: Das Tempolimit ist die Sache, mit der ihr jetzt die Welt retten wollt? Nein. Der Beschluss zur Selbstverpflichtung ist nur ein ganz kleiner Teil der Beschlüsse und der Bemühungen zum Klimaschutz.

BSZ: Welche Beschlüsse waren das?
Heinrich: Ganz zentral ist die Klimaschutzrichtlinie, die alle Bereiche betrifft, in denen wir zum Klimaschutz beitragen können, wie etwa Gebäudemanagement oder auch Fragen der Bildung. Auch den ganzen Mobilitätssektor nimmt sie viel intensiver in den Blick und regelt ganz klar: ÖPNV first und Autofahren nur als Ausnahme. Außerdem ging es auf der Synode um die Themen Schöpfungsglaube und Schöpfungsverantwortung. Wir brauchen ein Bewusstsein, wie dringlich die Situation ist und dass wir mit mehr Genügsamkeit einen großen Impact haben können.

BSZ: Haben Sie vielleicht auch unterschätzt, welche Emotionen Diskussionen um Tempolimits auf deutschen Straßen auslösen? Bei manchen dürfte Ihr Beschluss vor allem eine Blockadehaltung auslösen.
Heinrich: Das ist eine recht emotionale Debatte, aber wir sind wahrlich nicht die Ersten, die so was machen. Die Bundeswehr hat auch ein Tempolimit für ihre Dienstfahrzeuge. Es steht jedem frei, so was für sich selbst festzulegen. Natürlich spielt die Bewahrung der Schöpfung für uns die größte Rolle. Aber es gibt ja auch andere positive Effekte. Bei Tempo 100 auf Autobahnen würde es deutlich weniger tödliche Verkehrsunfälle geben. Und die Selbstbegrenzung bietet auch Sparpotenzial: Langsamer fahren schont den Geldbeutel. Ich glaube, dass wir kein bisschen Freiheit einbüßen, wenn wir ein bisschen langsamer unterwegs sind.

BSZ: Was meinen Sie: Wie viele Beschäftigte werden sich an diese Selbstverpflichtung halten?
Heinrich: Teil des Beschlusses ist, das in unsere begleitende Kommunikation zur Bewahrung der Schöpfung aufzunehmen. Das wird dann hoffentlich auch noch mal zur Einordnung – wie ja auch unser Gespräch heute – beitragen. Dann werden wir sehen, wie viele sich anschließen. Ich bin ganz zuversichtlich.

BSZ: Wie schnell fahren Sie Auto?
Heinrich: Ich fahre eigentlich immer nur Zug oder Fahrrad. Wenn ich aber das Auto nutze, achte ich tatsächlich auf die Geschwindigkeit.

BSZ: Wo steht die evangelische Kirche beim Thema Klimaschutz?
Heinrich: Wir haben im Oktober eine Klimaschutzrichtlinie beschlossen, die vorgibt, bis 2035 90 Prozent Treibhausgasemissionen einzusparen und bis 2045 treibhausgasneutral zu sein. Dabei geht es um Mobilität, Gebäude, Bildung, Energiewirtschaft. Auf der Synode kam dann noch eine nachhaltige Finanzwirtschaft hinzu. Parallel dazu haben wir eine Roadmap beschlossen, die auch vorsieht, dass die Landeskirchen über Schritte hin zum Ziel berichten.

BSZ: Die eingangs erwähnte Pröpstin Kropf-Brandau kritisiert auch die Solidarisierung der evangelischen Kirche mit den Straßenklebe-Aktionen der Letzten Generation. Will sich die evangelische Kirche damit anbiedern, wie die Pröpstin schreibt?
Heinrich: Nein, wir biedern uns nicht an. Wir haben auf der Synode einer Sprecherin der Letzten Generation einen zehnminütigen Zeitslot eingeräumt, weil wir zuhören wollen, was junge Menschen bewegt. Da hat sie, wie ich finde, sehr eindrücklich die Dringlichkeit der Situation dargelegt.

BSZ: In einem Video sieht man, wie sie nach ihrem Vortrag Standing Ovations erhielt.
Heinrich: Es ist sehr nachvollziehbar, dass man einer jungen Frau, die sich sowohl inhaltlich fundiert als auch auf einer Ebene der persönlichen Betroffenheit äußert, Respekt entgegenbringt. Salopp formuliert: Sie hat sich nicht einfach bei uns auf die Bühne geklebt, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen, sondern hat unser Gesprächsangebot angenommen. Daher kam auch unser Aufruf an Politik und Gesellschaft: Stellt diese Menschen nicht in eine Ecke, wo sie nicht hingehören! Das sind keine Extremisten, die den Staat bekämpfen. Das sind Menschen, die an die Politik, an die Verantwortlichen appellieren, auf das zu reagieren, was das Bundesverfassungsgericht letztes Jahr festgestellt hat: Die deutschen Klimaschutzziele sind zu unambitioniert.

BSZ: Und so haben Sie sich solidarisiert.
Heinrich: Ich finde es gut, dass wir auf der Synode in ein offenes Gespräch gegangen sind. Und wenn dabei der Eindruck entstanden ist, wir hätten uns solidarisiert, muss ich sagen: lieber Solidarisierung als Distanzierung. Es geht darum, mit Menschen im Gespräch zu bleiben, Brücken zu bauen und die ganze Debatte zu entemotionalisieren, um sie auf die Kernfragen Klimaschutz und Klimagerechtigkeit zurückzuführen.

BSZ: Wie verfolgen Sie auch als Bewohnerin Bayerns den Umgang mit den Klimaaktivist*innen im Freistaat?
Heinrich: Wir haben einen Rechtsstaat, der auch Mittel hat, einzugreifen, wenn Grenzen überschritten werden. Diese Gruppe von Aktivist*innen überschreitet Grenzen, ganz klar. Sie stehen aber auch mit Namen und Gesicht dafür ein und nehmen Strafen in Kauf. Sie präventiv für Taten, die in keiner Weise mit diesem Strafmaß belegt werden würden, tagelang festzuhalten, finde ich tatsächlich sehr problematisch und vor allem unverhältnismäßig. Wir werden beim Klimaschutz und der Klimagerechtigkeit nur weiterkommen, wenn wir alle Kräfte bündeln und im Gespräch bleiben. (Interview: Thorsten Stark)

Zur Person: Seit 2021 ist Anna-Nicole Heinrich, 26, Präses der Synode der Evangelischen Kirche – als bisher jüngste Vertreterin. Sie lebt mit ihrem Mann in Regensburg. 
 

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