Leben in Bayern

Zum Glück nur eine Übung: Rettungssanitäter proben den Erstfall Terroranschlag. (Alle Fotos: Nicolas Armer, dpa)

03.04.2017

Terror, Amok und die Retter vor Ort

Ob in Berlin oder München: Nach einem Anschlag oder Amoklauf sind Rettungskräfte oft als Erste vor Ort. Ihre Herausforderung: Helfen, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Aber wie geht das? In einem speziellen Kurs üben Sanitäter und Ärzte den Ernstfall

Im Keller eines abgelegenen Hauses an einer Autobahn stehen sieben Sanitäter und Ärzte. Vor ihnen haben sich vier Männer mit Sturmhauben, Helmen, Schutzwesten und Sturmgewehren postiert. Einer von ihnen ergreift das Wort. Kurze Sätze, seine Stimme klingt gedämpft durch den Stoff vor seinem Mund. Er sagt: "Folgende Lage: Es gab einen Amoklauf in einer Schule. Gebäude ist noch nicht hundertprozentig gesichert. Erstversorgung an sicherer Stelle. Der Keller ist gesichert." Dann geht es los. Die vier vermummten Polizisten gehen aus der Tür die Treppe hoch. Geschrei und Stöhnen von Verletzten hallt von den Wänden. Schüsse knallen, Walkie-Talkies rauschen. Die Rettungskräfte stehen wie an einer Schnur gezogen hintereinander, der Hintermann hat seine Hand auf die rechte Schulter des Vordermanns gelegt. Dann setzen sie sich in Bewegung, Schritt für Schritt die Treppe hinauf - die Polizei hat das Erdgeschoss gesichert. Minuten später liegen fünf Schwerverletzte auf den braunen Kachelfliesen im Keller. Die Retter haben sie aus den oberen Stockwerken dorthin geschleppt. Wunden werden verbunden, Hosen zerschnitten, ein Tropf gelegt. Ein junger Mann stöhnt: "Mein Arm, mein Arm." Ein anderer ist ohnmächtig. So bedrückend der Anblick ist: Das Szenario ist inszeniert. Die Verletzten sind Mimen, die SEK-Beamten sind Kursinstruktoren, ihre Gewehre sind blaue Plastikreplika des Sturmgewehrs G36 von Heckler & Koch, für die knallenden Schüsse sorgen Platzpatronen.

Wie versorgt man Verletzungen durch Schüsse und Explosionen?

Die Notfallsanitäter und Ärzte jedoch sind echt. Sie lernen hier für den Ernstfall. Taktische Notfallmedizin (TECC) heißt der Kurs und Kai Langenbach leitet ihn. Er hat die kurzen, knappen Anweisungen vor der Szenarioübung gegeben. Auch sonst ist der 38-Jährige kein Mensch, der um das Wesentliche herumredet. Laut spricht er nicht, aber deutlich. Früher war Langenbach - sportliche Statur, Kurzhaarschnitt - Soldat. Nun ist er Notfallsanitäter und Ausbilder für TECC-Kurse. Mit sechs anderen Männern gibt er den zweitägigen Kurs auf einem Zeltplatz des Bayerischen Roten Kreuzes bei Geiselwind in der Nähe von Würzburg. Auf dem Programm: Praxiseinheiten, Szenarioübungen und Theorie für Einsätze bei taktischen Lagen, wie es im Fachjargon der Rettungskräfte heißt. Zwei taktische Lagen haben die Menschen vergangenes Jahr besonders bewegt. Da war der Amoklauf in München im Juli, als ein 18-Jähriger an einem Einkaufszentrum neun Menschen und sich selbst tötete. Im Dezember dann der Lastwagen-Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt an der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, bei dem zwölf Menschen getötet wurden. Wie versorgt man Verletzungen durch Schüsse und Explosionen? Wo liegen die geschützten Zonen, wo droht Gefahr? Wie bleibt man fokussiert auf den Verletzten, wenn neben einem schwer bewaffnete Polizisten stehen und im Hintergrund Schüsse knallen? Fragen, die bei Rettungskräften in der Aus- und Weiterbildung zu kurz kommen, wie Langenbach findet. Nicht nur bei Terrorattacken zählt solches Wissen. Täglich könne so etwas passieren, zum Beispiel bei SEK-Einsätzen. "Der Rettungsdienst ist gut aufgestellt, aber es ist Luft nach oben."

Terror ist längst nicht alltäglich - aber er nimmt zu

Ob der Doppel-Anschlag auf Flughafen und U-Bahn in Brüssel vor gut einem Jahr, der Lastwagen-Anschlag von Nizza im vergangenen Sommer oder die jüngste Terrorattacke in London, bei der ein Mann im Regierungsviertel drei Menschen mit einem Auto totfuhr und danach einen Polizisten erstach: Terror ist zwar längst nicht alltäglich, doch die Zahl der Angriffe in Westeuropa hat zugenommen. Das blieb auch hierzulande nicht ohne Folgen: Schon nach dem Terrorangriff in Paris im November 2015, als allein im Musikclub Bataclan drei Attentäter 90 Menschen erschossen, begannen in Deutschland Überlegungen, wie man Einsatzkräfte für derartige Lagen vorbereitet. Ministerien machten sich Gedanken, Träger hielten erste Theoriekurse. Mancherorts sind neue Konzepte in Arbeit oder schon in ihrer Umsetzung. Sie präzisieren etwa die Rollenverteilung von Polizei und Rettungskräften, widmen sich Verletzungsmustern oder beschreiben neue Einsatztaktiken. Eine einheitliche Agenda zu dem Thema gibt es nicht, was unter anderem daran liegt, dass die Rettungsdienste Ländersache sind. Konkrete Ausbildungsinhalte werden von kommunalen Trägern und Verbänden ausgearbeitet und vermittelt. Allgemein sind die Regeln für gefährliche Einsätze eigentlich klar. Die Polizei hat das Sagen und bestimmt die Bereiche, die gefährlich sind. Dort haben Sanitäter und Ärzte nichts zu suchen, betonen alle Experten, mit denen man über das Thema spricht.

Der Notruf zeigt nicht immer, wie gefährlich es werden könnte

So einfach sich so ein Grundsatz anhört, so schwer ist er manchmal umzusetzen. Beispiel Berlin: Da gingen die Einsatzkräfte, die sich auf den Weg machten, zunächst von einem Unfall aus. Was wäre gewesen, wenn in dem Laster Sprengstoff gewesen wäre? "Hat da vorher jemand reingeschaut?", fragt Robert Schmitt und gibt die Antwort selbst: Da hätten die Rettungskräfte "Glück gehabt", sagt der Präsident des Medizinischen Katastrophen-Hilfswerks. Zweitangriffe auf Helfer sind bei Terrorangriffen in anderen Ländern schon lange eine Strategie von Attentätern. "Da werden wir in Zukunft noch viel dazu lernen müssen", sagt Schmitt. Nicht immer erschließt sich aus einem Notruf, wie gefährlich ein Einsatz werden könnte. "Stellenweise laufen wir da blind rein und merken es erst in der Situation", sagt Christian Mattern vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB). Auch der Wille zu helfen kann den Sinn für Gefahr benebeln. "Vielleicht erkennt man in solchen Momenten gar nicht, wie gefährlich es gerade ist." Die Kommunikation zwischen Polizei, Rettungsleitstelle und den Krankenwagen, die zum Einsatzort rasen, ist folglich eine weitere Baustelle. Alle Beteiligten müssten sensibler werden und mit so etwas rechnen, erklärt Schmitt. Dass Rettungskräfte nach Amokläufen und Terroranschlägen ausschließlich in sicheren Zonen operieren, lässt sich in der Praxis kaum umsetzen. Das zeigte sich beim Amoklauf in München. Da stürmten Sanitäter in ein Schnellrestaurant, um zu helfen - und wurden von Polizisten wieder herausgeschickt, weil es dort nicht sicher schien. In einem Gespräch mit Instruktoren sagt ein Rotkreuz-Mann in Geiselwind: "Reine Sicherheit werden wir in einer dynamischen Lage nie haben." Die Kursteilnehmer werden damit auch im Szenario konfrontiert. Während sie im als sicher ausgewiesenen Keller die Verletzten versorgen, knallt es zweimal. Die Helfer zucken zusammen. Einer der Instruktoren hatte vor der Tür im Treppenhaus Platzpatronen gefeuert. Jetzt steht er in der Tür. "Raus hier. Wir müssen hier weg. Los!" Die Helfer heben hektisch die Verletzten an, hieven sie auf Tragetüchern ins Freie. Einer schultert einen jungen Mann allein auf dem Rücken.

Anweisungen werden gebellt, Verletzte beruhigt

Nach jedem Szenario folgt eine Besprechung. Was ist gut und was ist schlecht gelaufen? Ein Kritikpunkt diesmal: Einer der Rucksäcke mit Medikamenten und Verbandszeug wurde im Chaos im Keller vergessen und fehlte an der Sammelstelle, wo die Verletzten weiterbehandelt wurden. "Darf nicht passieren", sagt Ausbilder Langenbach. "Aber dafür üben wir es." Warum sind die Teilnehmer - alles Männer - bei dem Kurs im fränkischen Nirgendwo dabei? Die Motive sind unterschiedlich. Die neue Art von Einsätzen wie beim Terroranschlag in Berlin ist einer der Beweggründe. "Es geht darum, sich zu sensibilisieren. Das sind Lagen, über die man noch nie nachgedacht hat", sagt Marvin, Sanitäter in Berlin, während der Mittagspause. Neben ihm sitzt Andreas, Arzt in Regensburg. "Ein Kumpel hat uns gezwungen", scherzt er und zeigt auf einen Kollegen zwei Plätze neben ihm. Dann sagt er: "Wir haben einfach Bock darauf gehabt." Während der Übung sind viele der Teilnehmer in einem Tunnel. Die Blicke konzentriert, Anweisungen werden gebellt, Verletzte beruhigt und nach Schmerzen befragt. Was geht in ihnen in so einer Situation vor, wenn im Hintergrund Schüsse knallen? Andreas schmunzelt über die Frage. "Hier weiß man doch, dass es knallen wird." Der TECC-Kurs ist eine freiwillige Fortbildung, die der Deutsche Berufsverband Rettungsdienst seit 2016 anbietet. Im ersten Jahr gab es 10 Kurse, dieses Jahr rechnet der Verband mit rund 20. Die Kurse im ersten Halbjahr seien allesamt ausgebucht, so Langenbach. Diesmal sind nur Notfallsanitäter und Ärzte dabei. Bei früheren Kursen haben auch Polizisten und Personenschützer mitgemacht. Am Ende jedes Kurses folgt eine theoretische und praktische Prüfung. Wer sie besteht, erhält ein internationales Zertifikat. Die Instruktoren sind eine bunte Mischung. Einer ist Oberarzt am Aachener Universitätsklinikum, einer Soldat, einer Bundespolizist. Bei jedem der Kurse kommt auf zwei Teilnehmer ein Ausbilder. Auch der materielle Einsatz ist hoch. Um die 20 großen Plastikkisten voll mit Utensilien stehen entlang der gesamten Längsseite des Aufenthaltsraums im Erdgeschoss. Allein 40 Dekompressionsnadeln zum Entlasten von Luftansammlungen im Brustkorb haben die Instruktoren dabei. Sie haben Rettungsbretter zum Patiententransport, Beinmodelle mit Silikonbezug und Schweineköpfe mitgebracht. An denen wird geübt, pulsierende Blutungen zu stoppen. Dabei wird Kunstblut über Schläuche durch den Schweinekopf gepumpt zu einem Loch gepumpt, aus dem es stetig herausläuft. Ein martialischer Anblick. Es geht den Instruktoren um Realitätsnähe. Die Blutung stoppt erst, wenn die Teilnehmer spezielle Verbände richtig in das Loch gedrückt haben. Sonst läuft es und läuft es. Wie in der Realität bei einer verletzten Oberschenkelarterie. "Daran stirbt ein Patient in wenigen Minuten, wenn die Blutung nicht gestoppt wird", sagt Langenbach. (Tom Nebe)

INFO: Drei Länder, drei Ansätze - der Umgang mit neuen Einsatzlagen
Bereits in Folge der Terrorangriffe von Paris im November 2015 wurden bestehende Konzepte für Polizei und Rettungskräfte für solche Lagen überdacht.

In Bayern erarbeitete das Innenministerium mit Rettungskräften und Polizei ein Papier namens "Rebel" mit Handlungsempfehlungen, die Rettungskräfte in besonderen Einsatzlagen befolgen sollten. Das Land ist damit ein Vorreiter in Deutschland. Es gehe um Selbstschutz, Einsatztaktik und den Umgang mit neuen Medikamenten und Hilfsmaterialien für Verletzungsmuster nach Terroranschlägen, etwa Schusswunden, erklärte das Ministerium.

"Rebel" regelt die Zusammenarbeit von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdiensten bei solchen Lagen vor Ort. Jetzt gehe es um die praktische Umsetzung, sagt der Präsident des Medizinischen Katastrophen-Hilfswerks, Robert Schmitt. Das funktioniere nicht nur mit einer Powerpoint-Präsentation. "Das muss man üben".

Doch auch andere Länder sind aktiv. Hessen etwa setzt im ersten Halbjahr ein eigenes Konzept um - bei dem es laut Innenministerium nur um Taktiken geht, nicht um besondere Verletzungsmuster und deren Behandlung.

Andere Länder, etwa Sachsen, sehen keinen Anlass für neue Konzepte. Die Rettungskräfte seien für Einsätze bei "Großschadensereignissen" gut vorbereitet, teilt das Innenministerium auf Anfrage mit. Sachsen sei eines der Länder, in denen Gespräche über Konzeptanpassungen noch nicht in Fahrt gekommen seien, sagt Christian Mattern vom Arbeiter-Samariter-Bund (ASB).

An den drei Bespielen zeigt sich: In den Ländern gibt es keine einheitliche Agenda zu dem Thema. Ohnehin geben sie nur den Rahmen vor. Konkrete Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung konzeptionieren kommunale Träger und Rettungsdienste. Sie können Weiterbildungen zu dem Thema anbieten, ohne dass es dafür ein Dachkonzept braucht. (dpa)

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