Politik

Öfter sind ausreisepflichtige Asylbewerber*innen nicht anzutreffen, wenn sie abgeholt werden sollen. Nicht selten haben sie vorher Tipps bekommen. (Foto: dpa/Armin Weigel)

06.09.2024

Zoff um Abschiebetipps

Flüchtlingsorganisationen und Internetseiten geben Ausreisepflichtigen Tipps gegen Abschiebungen. An dieser Praxis wird nach dem Anschlag von Solingen Kritik laut. Vor allem ein Online-Angebot, das mit öffentlichen Geldern finanziert wird, sorgt für Diskussionen

Es war eine vollmundige Ankündigung, die Kanzler Olaf Scholz im vergangenen Oktober machte. Der SPD-Mann sagte: „Wir müssen schneller und mehr abschieben.“ Doch die Realität ist noch immer eine andere: Im ersten Halbjahr 2024 wurden nur knapp 9500 Menschen aus Deutschland abgeschoben – rund ein Fünftel mehr als im Vorjahreszeitraum. Dabei könnten weit mehr illegal eingereiste Migranten abgeschoben werden.

In der ersten Hälfte dieses Jahres sind laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 40.000 Übernahmeersuchen aufgrund des Dublin-Abkommens an andere EU-Länder gestellt worden. Das Abkommen sieht vor, dass das Land, über das ein Flüchtling in die EU einreist, für ihn zuständig ist. In 25.000 Fällen stimmten diese zu. Zu Überstellungen kam es aber nur in gut 3500 Fällen – davon 540 Mal in Bayern.

Die Gründe sind vielfältig. Eine wesentliche Ursache für die Misere ist der Personalmangel in den für die Abschiebungen zuständigen Ämtern. „Viele Ausländerbehörden haben zu wenig Personal und sind durch die enormen Herausforderungen der hohen Zuwanderungszahlen überlastet“, sagt eine Sprecherin des Bayerischen Landkreistags. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz und das neue Staatsbürgerschaftsrecht verschärften die Situation. Laut der Stadt München gab es allein beim Aufenthaltsgesetz 18 Novellen zwischen 2020 und 2023. Auch der Bayerische Städtetag spricht von einer „angespannten Personalsituation“. Und so verstreicht die sechsmonatige Überstellungsfrist bei Dublin-Fällen oft ungenutzt. Im Fall des Syrers, der in Solingen zuletzt drei Menschen tötete, hatte die zuständige Ausländerbehörde den 26-Jährigen am Abschiebetag nicht in der Unterkunft angetroffen. Nur wenige Tage nach Ablaufen der Frist meldete er sich schließlich bei den Behörden.

Offenbar sehr gut informiert

Der Syrer war offenbar sehr gut informiert, wie er einer Abschiebung entgehen kann. Wer mit Behördenmitarbeiter*innen spricht, hört immer wieder, dass sich selbst illegal eingereiste Migrant*innen mit kaum einer Schulausbildung oft bestens mit den Fallstricken des deutschen Ausländerrechts auskennen würden. Klar ist: Diverse Organisationen wie Flüchtlingsräte beraten zu geeigneten Strategien, um Rückführungen zu verhindern.

Der Bayerische Flüchtlingsrat lehnt Abschiebungen nach eigener Aussage „strikt ab“ – selbst bei Straftätern. Auf seiner Webseite verlinkt der Rat unter der Rubrik „Was tun bei drohender Abschiebung“ auf die Seite „Abschiebungen stoppen. Bleiberecht für alle“. Das Netzwerk rät dort, Menschen könnten „sich selbst gegen ihre Abschiebung wehren, indem sie sich im Flugzeug nicht hinsetzen und klarmachen, dass sie nicht freiwillig fliegen“. Unterstützende könnten zudem Passagiere zum Protest auffordern.

Mitunter fließen an die Flüchtlingsorganisationen auch öffentliche Gelder. Bundestagsanfragen der AfD zufolge bekamen Flüchtlingsräte deutschlandweit allein im Jahr 2019 einen niedrigen Millionenbetrag aus Mitteln des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF) der EU über das BAMF zugewiesen. Auch das Bundessozialministerium bezuschusst Integrationsprojekte von Flüchtlingsräten. Eine Anfrage zur Höhe aktueller Fördergelder der BSZ bei mehreren Ministerien blieb bis Redaktionsschluss unbeantwortet.

Beratungen auf rechtsstaatlichen Grundsätzen

Ein Sprecher des Bayerischen Flüchtlingsrats sagt, Beratungen des Rates erfolgten „stets auf rechtsstaatlichen Grundsätze“. Man finanziere sich über Spenden, Mitgliedsbeiträge und Zuschüsse. „Weitere Finanzierungen kommen aus Projekten, unter anderem vom Bundesarbeits- und Sozialministerium zur Integration Geflüchteter in Arbeit und Ausbildung.“ Pikant: Auch die mit Mitteln von EU und Bund geförderte Webseite „Handbook Germany“ gibt Anti-Abschiebe-Tipps. „Wenn ein minderjähriges Kind zum Zeitpunkt der Abschiebung nicht auffindbar ist, darf die restliche Familie nicht ohne das Kind abgeschoben werden“, heißt es dort in diversen Sprachen – von Paschtu bis Arabisch. Die Überstellungsfristen werden genau erklärt. Ebenso heißt es auf der Seite, der Flüchtling könne gegen das BAMF klagen. „Sie können nicht abgeschoben werden, während Ihre Klage läuft.“ Der Hinweis auf die Prozesskosten fehlt nicht. Tipps gibt es auch zum Kirchenasyl. Bereits Abgeschobenen rät man: „Kontaktieren Sie Ihre Anwaltskanzlei.“

Und unter dem Punkt "Was kann ich tun, wenn ich abgeschoben werde?" wird im Handbook Germany geraten: "Informieren Sie die Abschiebungsbeobachtung und bitten Sie sie um Hilfe." Um Kontakte von Abschiebungsbeobachter*innen zu finden, wird der betroffene Flüchtling per Link zur Seite „Abschiebungen stoppen. Bleiberecht für alle“ gelotst.

Unbestritten ist, dass Handbook Germany und Flüchtlingsräte für die Integration wichtige Hinweise geben. Doch sollten staatlich bezuschusste oder finanzierte Angebote auch Tipps gegen Abschiebungen geben? Die Neuen deutschen Medienmacher, die das Handbook Germany verantworten, ließen eine Anfrage unbeantwortet. Das Kanzleramt teilt mit: „Die Formulierungen des Zuwendungsempfängers Handbook Germany sind darauf ausgerichtet, Betroffene über ihre rechtlichen Möglichkeiten aufzuklären. Das ist in einem Rechtsstaat selbstverständlich.“ Für die Inhalte der verlinkten Seiten sei man nicht verantwortlich.

Mit Steuermitteln dürfe „nicht beraten werden, wie sich Menschen geltendem Recht widersetzen könnten“, sagt dagegen Gerd Mannes. Der bayerische AfD-Landtagsabgeordnete fordert eine Streichung der Mittel – auch für Flüchtlingsräte. Der CSU-Bundestagsabgeordnete Max Straubinger hält die derzeitige Förderpolitik für nicht zielführend. Wenn die Regierung tatsächlich mehr abschieben wolle, dürfe sie keine solchen Angebote unterstützen. Er wünscht sich eine Mittelkürzung: „Indirekte Rechtsberatung mit Steuergeldern geht nicht.“ Auch bei den Flüchtlingsräten müsse gespart werden.
(Tobias Lill)

 

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