Politik

Ein aktives Vereinsleben bindet junge Menschen und verhindert Landflucht. Doch viele Dorfgemeinschaften sind eingeschlafen. (Foto: dpa)

27.07.2018

Vereinsleben als Marketingtool

Das soziale Gefüge in Bayerns Dörfern ist durcheinandergeraten – wie Politiker im Freistaat gegensteuern können

Jugendarbeit, lebendige Dorfkerne und ein attraktives Vereinsleben: Um die Abwanderung junger Menschen in die Städte zu verhindern, sind auch sogenannte weiche Standortfaktoren entscheidend. „Soziale Infrastrukturen sind auch Teil der ländlichen Gerechtigkeitsidee“, erklärt Holger Magel, Präsident der Bayerischen Akademie Ländlicher Raum. Er setzt sich seit Jahrzehnten für gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land ein. Doch Bayerns Dörfer haben sich in den letzten Dekaden stark verändert. Inzwischen arbeitet nicht mehr nur der Mann. Arbeitsplätze sind oft weit entfernt. Und die Zahl der Großfamilien, die sich um die Kinder der arbeitenden Eltern kümmern können, nimmt ab. Dadurch ist das soziale Gefüge durcheinandergeraten. Und obwohl viele Bürgermeister gegensteuern wollen, wissen sie oft nicht wie. Antworten geben soll das von Magel gemeinsam mit der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung organisierte Sommerkoloquium „Tragfähigkeit sozialer Infrastrukturen auf dem Land“.

„Die Veränderungen der Lebensstile und Gesellschaft merkt man auch im ländlichen Raum“, bestätigt Ministerialrat Leonhard Rill vom Landwirtschaftsministerium. Dadurch seien die Dorfgemeinschaften häufig eingeschlafen – was junge Menschen zunehmend in die Städte treibt. Ein Teufelskreis. „Wenn sie abwandern, sind die Dörfer zum Sterben verdammt“, sagt Rill. Das Ministerium versucht daher, sich stärker um das Zusammenleben der Menschen im ländlichen Raum zu kümmern. Zum einen, indem die aktiven Bürger besser miteinander vernetzt werden. Zum anderen, indem Dorfstraßen und -plätze umgebaut werden. Durch verkehrsberuhigte Zonen und den behindertengerechten Ausbau will das Ministerium die Ortskerne wieder zu einem Bürgertreffpunkt machen. Wo es keine Dorfwirtshäuser mehr gibt, sollen stattdessen Mehrgenerationenhäuser entstehen, wo es keine Einkaufsmöglichkeiten mehr gibt, Dorfläden. „Und Jugendliche können sich mit Angeboten wie der Nachbarschaftshilfe ein Taschengeld hinzuverdienen“, sagt Rill.

Früher nur in Städten, jetzt auf dem Land: Streetworker

„Geschichten, die es früher nur im urbanen Raum gab, sind in den ländlichen Raum übergeschwappt“, versichert auch Klaus Schulenburg, Direktor beim Bayerischen Landkreistag. Früher habe es zum Beispiel keine Streetworker gebraucht. Auch die Ausgaben für die Jugendhilfe seien von wenigen 100 Millionen Euro auf annähernd zwei Milliarden Euro gestiegen. „Wir haben so einen hohen Bedarf an Sozialpädagogen an den Landratsämtern, das ist Wahnsinn“, sagt Schulenburg. Viele Familien kämen einfach nicht mehr mit sich klar. Warum, das konnte ihm bisher noch kein Experte beantworten. Das Problem: Wenn das Geld in den Kommunen knapp wird, wird als erstes an der Sozialarbeit gespart. Schulenburg fordert daher mehr staatliche Unterstützung und mehr Investitionen in Bildung. „Wenn das rechtzeitig geschieht, können wir uns so viele Soziallasten sparen.“ Um das zivilgesellschaftliche Engagement zu fördern, sollten außerdem die bürokratischen Belastungen abgebaut werden.

„Es wird immer schwieriger, Menschen zu finden, die sich sozial engagieren“, bestätigt die Sozialwissenschaftlerin Doris Rosenkranz von der Technischen Hochschule Nürnberg. Sie ist auch Vorstandsmitglied der Zukunftsstiftung Ehrenamt Bayern. Zwar engagieren sich 46 Prozent der Menschen über 14 Jahren in Bayern – im ländlichen Raum sogar noch etwas mehr. Aber fast alle bayerischen Vereine verzeichnen sinkende Mitgliederzahlen, einige werden mangels Nachwuchs sogar nur noch kommissarisch geführt. Hauptgrund für die Unlust laut Rosenkranz’ Studien: die Angst, sich fest zu binden. Menschen wollen flexibel bleiben. „Das Ehrenamt muss sich daher stärker an den Motiven der Menschen orientieren, die sich engagieren wollen“, erklärt die Wissenschaftlerin. Sie fordert eine Netzwerkstruktur wie ein Spinnennetz: im Zentrum ein Hauptamtlicher, der die Ehrenamtlichen unterstützt. Das Geld ist laut Rosenkranz gut investiert: Vereinsleben sei ein Garant für Lebensqualität und damit ein Marketingtool im Wettbewerb um junge Fachkräfte. Auch Nachbarschaftshilfe und Seniorengenossenschaften seien Zukunftsmodelle. Klar müsse aber sein: „Ehrenamt ist nicht der billige Jakob für alles, was Staat und Kommunen nicht finanzieren können oder wollen.“

Wie Sozialarbeit und Landwirtschaft zum Vorteil für beide Seiten miteinander kombiniert werden können, zeigt der neugegründete Verein Soziale Landwirtschaft Bayern. Das Modell kommt aus Österreich. Dabei bieten die Landwirte entweder selber soziale Arbeit an – zum Beispiel in Form von Jugendhilfeeinrichtungen oder der Pflege von Senioren. Oder soziale Träger machen sich auf die Suche nach Landwirten, die zum Beispiel in Behindertenwerkstätten mit den Menschen zusammenarbeiten. Vereinsvorsitzende Michaela Weiß hält Kooperationsprojekte zwischen landwirtschaftlichen Betrieben und sozialen Anbietern für die beste Variante. Dabei baut der Landwirt ungenutzte Flächen auf seinem Hof zum Beispiel seniorengerecht um, während ein Dienst aus dem Nachbarort die Pflege übernimmt. Das schafft Arbeit für junge Menschen, zusätzliches Einkommen für Landwirte, verhindert Leerstand und den Umzug von älteren Menschen, erklärt Weiß.

Akademie-Präsident Magel verspricht, die vielen Hinweise für die zukünftige Arbeit mit aufzunehmen. Er fordert vom Freistaat, bei der Bestandsaufnahme und Weiterentwicklung der sozialen Infrastrukturen stärker Sozialwissenschaftler mit einzubinden. Sie hätten die Kompetenz, Organismen wie Dörfer oder kleine Städte zu verstehen. Natürlich sei neben der sozialen auch die technische Infrastruktur wichtig. „Die Digitalisierung kommt aber irgendwann“, sagt Magel. „Soziales hingegen kann man nicht mit Geld erledigen.“ (David Lohmann)

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