Politik

Der 2016 verstorbene Holocaust-Überlebende Max Mannheimer 2015 im Bayerischen Landtag. (Foto: Andreas Gebert/dpa)

06.02.2020

"Vergessen kann man es nie"

Er war ein Mahner gegen das Vergessen: Der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer hatte sich den Kampf gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus zur Lebensaufgabe gemacht. Nun wäre er 100 Jahre alt geworden. Die Erinnerung an ihn ist ungebrochen

Den Enkeln erzählte er, die auf seinem linken Arm tätowierte Zahl 99728 sei eine Telefonnummer. Nachts aber kamen die Alpträume: Max Mannheimer hat lange gebraucht, ehe er über das sprechen konnte, was er unter den Nazis erlitten hatte. Während fast seine gesamte Familie in Auschwitz starb, überlebte er die Gräuel des Holocaust. "Vergessen kann man es nie", sagte er einmal.

Spät erst begann er zu reden. Umso intensiver widmete er sich dann dem Kampf gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus. Erinnern wurde sein Lebensziel. Unermüdlich berichtete der langjährige Vorsitzende der Lagergemeinschaft Dachau an Schulen, Universitäten und bei vielen Anlässen über das, was er unter den Nazis durchleben musste. Noch hochbetagt besuchte er Schulklassen. Die jungen Menschen hätten ein überraschendes Interesse an der Nazi-Zeit: "Die Urenkel möchten wissen, weshalb ihre Urgroßeltern so lange einem Massenmörder die Treue halten konnten."

Am heutigen Donnerstag wäre Mannheimer 100 Jahre alt geworden. "Max Mannheimer war als Überlebender und Zeitzeuge eine der wichtigen und lautesten Stimmen gegen das Vergessen in unserem Land. Für mich persönlich war er über viele Jahrzehnte ein treuer Freund und Wegbegleiter", sagt Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. "Gerade heute, da seine klaren Worte so dringend nötig wären, spüren wir, wie groß der Verlust ist. Sein unermüdliches Eintreten für das Gedenken, seine Besuche in Schulen und seine Fähigkeit, mit Witz und Charme und zugleich mit großer Bestimmtheit Missstände zu benennen: All das fehlt uns heute. Es ist an uns allen, sein Andenken zu ehren - indem wir seinen Einsatz für das "Nie wieder" fortsetzen."

Mannheimers Nachfolger als Vorsitzender der Lagergemeinschaft, der 87-jährige NS-Verfolgte Ernst Grube, sagt: "Er war in seinem ganzen Handeln und Auftreten ein Mann, der Vorbild für unsere Arbeit gegen Rechtsextremismus und für die Erinnerungsarbeit war."

Mannheimer sah sich stets als Zeitzeuge, nie als Ankläger

Mannheimer sah sich stets als Zeitzeuge, nie als Ankläger. "Der ganze Zweck meiner Arbeit ist es, zu den nachfolgenden Generationen zu sprechen und sie vor den Gefahren einer Diktatur zu warnen", sagte er zu seinem 90. Geburtstag. "Es leben viele - aber wenige können darüber reden ohne Hass", sagte er in einem Film-Porträt namens "Der weiße Rabe" - so bezeichnete sich Mannheimer selbst.

In München ist der Platz vor dem NS-Dokumentationszentrum nach ihm benannt. Er hatte sich mit großer Energie für die Errichtung des Zentrums eingesetzt, das 2015 als weißer Würfel an der Stelle des früheren Braunen Hauses, der NSDAP-Parteizentrale, eröffnet wurde. Das Zentrum sei ein wichtiges Signal gegen das Wiederaufleben von Rassismus und Ausgrenzung, sagte Mannheimer, der im Rollstuhl an der Eröffnung teilnahm. "Es ist gerade die richtige Zeit", sagte er - während mit Megafonen eine Handvoll Rechter Radau machte. Die Stadt hatte es nicht verhindern können.

Seit dem 1. Januar trägt das Gymnasium Grafing (Landkreis Ebersberg), zu dem er bis zu seinem Tod engen Kontakt hatte, seinen Namen. Bei mehr als 30 Besuchen berichtete er den Schülern über seine Erlebnisse und lud sie ein, für die Achtung der Menschenwürde einzutreten. Schüler hatten selbst die Initiative zu der Namensgebung ergriffen - und dennoch kam es Ende 2019 just dort zu Ermittlungen wegen des Verdachts auf Volksverhetzung: In einem Klassenchat waren laut Polizei menschenverachtende rassistische Äußerungen gepostet worden.

Er wollte nie wieder nach Deutschland, dann aber verliebte er sich

Die jüdische Familie Mannheimer stammte aus Neutitschein im heutigen Tschechien. Sie geriet trotz Flucht in die Hände der Nazis und wurde ins Konzentrationslager Theresienstadt und von dort nach Auschwitz-Birkenau gebracht. Von acht Mitgliedern der Familie starben sechs: Ein Bruder wurde schon 1942 verhaftet. Auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau sah Max Mannheimer 1943 zum letzten Mal seine Eltern, seine Schwester und seine Frau, die er wenige Monate zuvor geheiratet hatte. Die Angehörigen wurden vergast. Mit zwei Brüdern wurde er zur Arbeit ausgewählt - einer von ihnen überlebte Auschwitz ebenfalls nicht: Ernst Mannheimer erkrankte und geriet in die "Selektion": Wer krank war, wurde ermordet.

Nur Mannheimer und sein jüngerer Bruder Edgar überstehen den Holocaust. Die Brüder kommen über Warschau in das KZ Dachau vor den Toren Münchens, werden 1945 in das Außenkommando Mühldorf verlegt und auf einem Evakuierungstransport am 30. April 1945 von den Amerikanern befreit. "Als ich bei Tutzing befreit wurde, war ich eine halbe Leiche. Damals habe ich gesagt: Wenn ich 40 Jahre alt werde, bin ich zufrieden - und jetzt bin ich 90!", sagte Mannheimer vor zehn Jahren.

Mannheimer verließ Deutschland - und war sicher, nie wiederzukehren. Doch er verliebte sich ausgerechnet in eine Deutsche: Elfriede Eiselt, Tochter einer sozialdemokratischen Familie. Ihre Familie hatte Juden versteckt und das eigene Leben riskiert. Schon Ende 1946 war Mannheimer zurück in dem Land, "dessen Boden ich nie wieder betreten wollte". Als seine Frau Mitte der 1960er Jahre an Krebs stirbt und er selbst glaubt, krank zu sein, schreibt er seine Erinnerungen auf - für seine Tochter. Erst spät erfuhren die Enkel, was die Nummer an seinem Unterarm bedeutete.

Mitte der 1980er Jahre wurden seine Erinnerungen in den Dachauer Heften veröffentlicht, er begann mit Führungen durch das frühere KZ. Teils schaffte er das nur mit Medikamenten. Beim Malen versuchte er schon seit den 1950er Jahren, die Schrecken aufzuarbeiten. Geholfen habe "das Malen, das Erzählen - und die Tabletten", sagte er einmal. Wirklich vergessen konnte er nie. "Das ist unmöglich."
(Sabine Dobel, dpa)

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