Politik

Fotos: dpa

25.09.2022

Politologe über AfD-Potenzial: „Viele haben Angst vor dem sozialen Absturz“

Der renommierte Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter warnt vor einem massiven Rechtsruck in Europa. Der frühere Leiter der Akademie für politische Bildung in Tutzing, prophezeit, sollte sich die soziale Lage und die Flüchtlingskrise in Deutschland weiter verschärfen, werde die AfD deutlich zulegen

Heinrich Oberreuter sieht im derzeitigen massiven Rechtsruck eine "große Herausforderung für Europas Demokratien". Die Bezeichnung postfaschistisch für die Fratelli d’Italia, die in Italien stärkste Partei werden könnte, hält der Passauer Politikprofessor für "schmeichelhaft". Diese sei "neofaschistisch". Der frühere Leiter der Akademie für politische Bildung in Tutzing, der als CSU-nah gilt, sagt über Parteichefin Meloni, diese scheine "Diktator Mussolini sehr zu verehren". Sollte sich die soziale Lage und die Flüchtlingskrise in Deutschland weiter verschärfen, fürchtet Oberreuter, dass die AfD noch radikaler wird, und deutlich zulegen könnte. Der CSU spricht er die Fähigkeit ab, die AfD kleinzuhalten.

BSZ: Herr Oberreuter, in mehreren EU-Ländern haben Rechtsextreme oder Rechtspopulisten bei Wahlen zuletzt Rekordergebnisse erzielt. In Schweden gehören sie bald der Regierung an. In Italien stellt eine – wie es mitunter heißt – postfaschistische und rechtsextreme Partei Umfragen zufolge wohl bald die Ministerpräsidentin. Erlebt Europa einen Rechtsrutsch?
Heinrich Oberreuter: Europa erlebt gerade einen erheblichen Rechtsrutsch. Gleich in mehreren Ländern sitzen künftig wohl weit rechte Parteien in der Regierung oder die Findung einer Regierungsmehrheit ist dort ohne die Unterstützung dieser Kräfte nicht mehr möglich. Diese Entwicklung ist erstaunlich, da abgesehen einmal von Schweden in allen diesen Ländern ja Erfahrungen mit nazistischen oder faschistischen System gemacht wurden. Die Bezeichnung postfaschistisch ist für die Fratelli d’Italia, die in Italien stärkste Partei werden dürfte, schmeichelhaft. Sie ist neofaschistisch. Parteichefin Meloni scheint Diktator Mussolini sehr zu verehren.

BSZ: Müssen wir uns Sorgen machen, wenn ein großes EU-Gründungsmitglied so weit nach rechts rutscht?
Oberreuter: Wir müssen uns Sorgen um die Durchhaltekraft der europäischen Integrationsidee machen. Es war von Beginn an die Idee der EU, Menschenwürde, Pluralismus, Meinungsfreiheit und Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen. Doch wir haben es in Teilen der EU, wie etwa in Polen oder Ungarn, längst mit nationalistischen oder rechtswidrigen Auswüchsen zu tun. Damit hatten nach der Wende der Weltpolitik und dem Untergang des Sowjetkommunismus 1990, als mancher dachte, nun hätte sich die Demokratie durchgesetzt, viele nicht gerechnet. Doch heute ist die Demokratie in Europa wieder herausgefordert.

BSZ: Welche Rolle spielen die kräftig gestiegenen Flüchtlingszahlen, teils gescheiterte Integration sowie explodierende Energie- und massiv gestiegene Lebensmittelpreise für den Erfolg von Meloni und Co?
Oberreuter: Ich denke zum einen, dass die nationalstaatlichen Eigenheiten in anderen EU-Staaten erheblich ausgeprägter sind als bei uns. Zum anderen hatte die Flüchtlingswelle ab 2015 Wirkung auf die politische Landschaft zahlreicher Länder.

BSZ: Aktuell steigen die Flüchtlingszahlen wieder.
Oberreuter: Ja. In Deutschland wurden bis August etwa ein Drittel mehr Asylanträge verzeichnet als im Vorjahreszeitraum. Hört man in die Gemeinden hinein, scheint sich die Situation aktuell so zuzuspitzen, dass das Thema nun wieder in den Fokus der öffentlichen Debatte kommt.

"Die Ostdeutschen haben fast sechs Jahrzehnte in einer totalitären Diktatur gelebt"

BSZ: Rund eine Million Menschen aus der Ukraine kamen nach Deutschland. Die Zahl der Asylsuchenden, die aus Staaten wie Syrien oder Afghanistan nach Deutschland kommen, könnte dieses Jahr die 200 000er-Grenze knacken.
Oberreuter: Die Ukrainer werden in der deutschen Öffentlichkeit freundlicher betrachtet als viele andere Flüchtlinge. Es ist jedem klar, dass sie sich aus einer existentiellen Notlage heraus auf den Weg zu uns gemacht haben. Zudem stehen sie uns kulturell näher. Doch auch sie müssen natürlich erst einmal untergebracht und versorgt werden.

BSZ: Warum kann die AfD von den gestiegenen Flüchtlingszahlen nicht so profitieren wie Rechtsextreme und -populisten im Ausland?
Oberreuter: Außerhalb von Ostdeutschland liegt sie meist nur im einstelligen Prozentbereich, so etwa in Niedersachsen bei 6 bis 8 Prozent. In Niedersachsen finden es manche Fachleute überhaupt erstaunlich, dass sie überhaupt diese Werte erreichen. Denn die Partei ist dort total zerstritten.

BSZ: Die AfD legte zwar auch anderswo im Westen wie in Bayern in Umfragen zuletzt zu, kommt bislang aber kaum über die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen hinaus.Warum?
Oberreuter: Wir haben eine andere politische Kultur. Die politischen Eliten und die Medien reagieren hierzulande sehr empfindlich auf rechtsextremistische Herausforderungen. Insofern haben wir auch bei Umfragen das Phänomen, dass viele Menschen sich nicht trauen, zu sagen, dass sie AfD wählen. Schließlich wissen sie, dass man sich damit leicht an den Rand der Bevölkerung begibt. Dieser historisch begründete Hintergrund führt zu den Differenzen bei den Stimmungswerten der weit rechten Parteien im Vergleich zum Ausland. Auch der nach wie vor größere Wohlstand in Deutschland spielt eine Rolle für geringere Zustimmungswerte.

BSZ: In Thüringen und Sachsen ist die AfD in Umfragen derzeit allerdings stärkste Partei.
Oberreuter: Es gibt noch immer Unterschiede zwischen West und Ost. Die Menschen haben in den neuen Ländern noch gut in Erinnerung, wie ihnen der soziale Boden nach der Wende unter den Füßen weggezogen wurde. Viele wollen nicht schon wieder einen sozialen Einbruch ihrer Position erfahren. Und die Ostdeutschen haben nicht nur zwölf Jahre, sondern fast sechs Jahrzehnte in einer totalitären Diktatur gelebt. Natürlich hatten viele Menschen dort in der Folge größere Probleme, sich in die politische Kultur einer pluralistischen Demokratie hineinzufinden. Von diesen beiden Punkten profitiert die AfD im Osten.

BSZ: Für wie groß halten Sie das Potenzial der AfD, falls sich die Lage vieler Deutscher aufgrund explodierender Energiepreise verschärft?
Oberreuter: Die Zuneigung zur AfD bei der Flüchtlingskrise war auch dem Umstand geschuldet, dass die Zuwanderung der Flüchtlinge damals zugleich eine Zuwanderung in das Sozialsystem war. Auch aktuell haben manche im Niedriglohnsektor das Gefühl, dass sie kaum mehr haben als die zu uns gekommenen Menschen, die von Sozialleistungen leben. Käme es zu einem sozialen Einbruch, wäre dies so wie auch schon 2015 Wasser auf die Mühlen der AfD.

„Es gibt Menschen, die sich durch die AfD vertreten sehen – also existiert sie fort“

BSZ: Der AfD fehlt eine charismatische Führungskraft wie einst Heider bei der FPÖ. Wie stark wäre die AfD, wenn so jemand käme?
Oberreuter: Wenn sich die soziale Lage verschärfen sollte, würde dies Björn Höcke in die Hände spielen. Er wird mit Radikalität und nationalistischen Exzessen versuchen, die öffentlichen Positionen der AfD attraktiver zu gestalten – das könnte ihm in einer akuten Notsituation sogar gelingen. Der radikale Flügel könnte dann womöglich deutlich stärker zulegen, als uns lieb sein kann.

BSZ: Früher duldete die CSU rechts neben ihr nur die Wand. Doch längst sitzt die AfD im Landtag. Warum gelingt es der CSU nicht mehr wie einst bei den Republikanern als Magnet den weit rechts stehende Bevölkerungsteil anzuziehen und in ihre Reihen einzubinden?
Oberreuter: Die CSU ist keine 50-Prozent-Partei mehr. Das hängt damit zusammen, dass die Gesellschaft differenzierter ist als früher. Und viele Menschen halten sich anders als in der Vergangenheit nicht mehr an den Konsens, dass es rechts von der CSU keine andere Partei mehr geben soll. Nicht die Parteien gestalten sich die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft gestaltet sich die Parteien. Und da es Menschen gibt, die sich durch AfD-Positionen vertreten fühlen, besteht diese Partei fort. Man darf auch nicht vergessen, dass die Republikaner programmatisch näher an der CSU waren als die AfD. Daher konnte man sie leichter wieder einfangen.

BSZ: Teile der Union öffnen sich zunehmend für einst eher linke Themen wie Quoten oder andere Familienbilder als die klassische Mann-Frau-Ehe. Ein Fehler?
Oberreuter: Dass die AfD viele klassische Positionen in der Familienpolitik vertritt, stärkt sie natürlich.

BSZ: Welche Rolle spielt der Genderstreit für die Wahlchancen der AfD?
Oberreuter: Ich finde die Genderisierung verheerend. Die wirklich entscheidende Frage ist ja, ob ich Respekt vor dem anderen Geschlecht habe. Ich würde nie im Leben auf die Idee kommen, dass jemand das generische Maskulin benutzt, um das andere Geschlecht zu diskreditieren.

BSZ: In Bayern wird die AfD jetzt als Gesamtpartei vom Verfassungsschutz beobachtet. Zu recht?
Oberreuter: Das ist legitim. Die AfD macht in Bayern keinen demokratischeren Eindruck als ihre Bundespartei. Sie hat diverse Höcke-Sympathisanten in ihren Reihen – und auch Sympathisantinnen. Hier gendere ich ganz bewusst.

BSZ: Zu etwas anderem: Sollte die AfD auch in Bayern kräftig zulegen, könnte es für Schwarz-Orange eng werden. Wird Söder trotz anderslautender Bekundungen doch mit den Grünen koalieren, wenn es mit den FW nicht reicht?
Oberreuter: Söder verhält sich in der Regel situationsadäquat. Und es ist nun einmal so, dass von Wahlergebnissen gewisse Zwänge ausgehen. Wenn eine Koalition mit den Grünen etwa wegen Schwächen von Freien Wählern und FDP kaum vermeidbar ist, wird er sie schließen. Was da heute gesagt wird, ist nach der Wahl und ihren Ergebnissen belanglos.
(Interview: Tobias Lill)

Anmerkung: Das Interview ist aus der gedruckten Ausgabe der Bayerischen Staatszeitung vom Freitag, 23. September.
 

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