Seit einigen Tagen ist es mit den Vorbereitungen vorbei. In Turnhallen und Aulen brüten die bayerischen Schüler und Schülerinnen über den Abituraufgaben. Mathematik haben sie bereits hinter sich, Deutsch ebenfalls. Die Hochschulreife ist zum Greifen nah.
Laut bayerischem Kultusministerium werden in ein paar Wochen rund 63 600 Schüler die Berechtigung erhalten, an einer Hochschule zu studieren. 42 200 davon bekommen die allgemeine Hochschulreife – das heißt, nur knapp 60 Prozent der Prüflinge haben ganz klassisch das Gymnasium besucht. Die anderen 40 Prozent erlangen die Hochschulreife an beruflichen Oberschulen, an Abendgymnasien, Fachakademien und Kollegs.
Für die Staatsregierung ist das ein Beweis für die viel gepriesene „Durchlässigkeit“ des bayerischen Bildungssystems. Und tatsächlich: Eine Fülle von Wegen führt bayerische Schüler zum Ziel. Wer die Grafiken der bayerischen Schulberatung zum Thema Schullaufbahn anschaut, reibt sich die Augen: So bunt fügt sich da Modul an Modul, so komplex sind Schulkarrieren heute. „Kein Abschluss ohne Anschluss“ lautet das Motto der Regierung. Man setzt eins aufs andere, wie ein Kind, das aus Klötzchen Türme baut. Alle Schüler sollen so die Chance erhalten, sich immer weiter zu qualifizieren und in der Heimatregion jeden Bildungsabschluss zu erreichen.
Eltern, die in der vierten Klasse den Übertrittdruck beklagen, werden getröstet: Ihr Kind könne trotz Mittelschulempfehlung später noch richtig aufholen, heißt es bei Elternabenden. Ein bisschen Gas geben, ordentliche Noten – und der Weg ist frei fürs Medizinstudium. Und das gibt es ja wirklich: die Realschule besuchen, später studieren und eine brillante Karriere hinlegen.
Die Durchlässigkeit gibt es – allerdings häufiger nach unten als nach oben
Tatsächlich verlangt die „Anschlussfähigkeit“ dem Einzelnen eine Menge ab. Mitten in der Pubertät, einer Orientierungsphase, in der Hormone und Peergroup-Orientierung die schulische Leistung beeinträchtigen, ist von den Jugendlichen voller Einsatz gefordert. Sie sollen sich qualifizieren, fleißig sein, an die Zukunft denken. Doch wer setzt mit 15 schon ernsthaft auf Karriere? Die vielen Wege, von denen die Rede ist – sie sind mitunter ziemlich holprig. Man geht sie allein. Lernt nach, was nötig ist.
Wer nach ein paar Jahren Berufstätigkeit an einem der fünf bayerischen Kollegs den Neustart wagt, hat jedenfalls zu kämpfen. „Die Schüler gehen ein großes Risiko ein. Sie geben finanzielle Sicherheit auf. Und gehen zurück auf Los“, sagt Roland Geßler, Beratungslehrer am Augsburger Kolleg. Der Erfolg ist auch abhängig davon, mit welchem Schulabschluss die Jugendlichen ans Kolleg kommen: Etwa 30 Prozent der Schüler mit Mittelschulabschluss und 60 Prozent derer, die mit Realschulabschluss an das Augsburger Kolleg kommen, schaffen dort das Abitur.
Etwa 80 Prozent der Fünftklässler schaffen es bis zum Abitur
Wobei natürlich auch nicht alle Gymnasiasten bis zum Abitur durchhalten. Etwa 80 Prozent der Fünftklässler kommen heute bis zum Abitur. Doch wer dann tatsächlich antritt, schafft es fast immer: Rund 97 Prozent der Prüflinge kommen durch. Das Gleiche gilt für Fachoberschüler, die zum Fachabitur antreten.
Ende gut, alles gut? Die CSU sieht sich in ihrer Bildungspolitik bestätigt durch eine Studie der Fraktionsvorsitzendenkonferenz von CDU und CSU, die im März vorgestellt wurde. 47 Prozent der Befragten aus ganz Deutschland, heißt es da, hätten die Qualität des bayerischen Bildungssystems auf Platz eins gesetzt. Strukturdebatten, wie von der Opposition immer wieder gewünscht, halten die Christsozialen für überflüssig.
Aber sind sie das wirklich? Ist das bayerische Schulsystem so durchlässig, wie es scheint? Die Bertelsmann-Studie „Chancenspiegel“ beobachtete 2015 ein Phänomen, das der bildungspolitische Sprecher der Landtags-SPD, Martin Güll, als „Durchlässigkeit nach unten“ bezeichnet: Auf einen Schüler, der von einer niedrigeren in eine höhere Schulart wechselte, kämen in Bayern 4,4 Schüler, die den umgekehrten Weg nähmen. Verglichen mit anderen Bundesländern besuchen in Bayern außerdem weniger Kinder das Gymnasium.
Und: Mehr Kinder fallen durch, müssen also eine Klasse wiederholen. „Entscheidend für Durchlässigkeit ist nicht nur die Anschlussfähigkeit“, warnt Güll. „Entscheidend ist, ob man während eines Bildungsgangs nach oben kommt.“
Der bessere Weg ist aus Sicht der SPD die Gesamtschule, auf deren „integrative Kraft“ gern verwiesen wird. Befürwortern verspricht sie eine größere Bildungsgerechtigkeit. Gegner fürchten, die Leistungen besserer Schüler könnten in Gesamtschulen sinken. Studien sind wenig ergiebig: Sie belegen mal das eine, mal das andere.
Bleibt zu fragen, ob die Gesellschaft all die Abiturienten braucht, die sie derzeit ausbildet. Man darf das getrost bejahen. Die Arbeitswelt ändert sich rasant. Globalisierung und Digitalisierung verändern das Profil der allermeisten Berufe. Bildung ist da eine kostbare Ressource. Die Abiturienten, die gerade über ihren Prüfungen schwitzen, sind auf dem besten Weg, sich diesen Veränderungen zu stellen. (Monika Goetsch)
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