Politik

Walter Nussel würde sich wünschen, dass sein Job als Beauftragter für Bürokratieabbau irgendwann überflüssig wird. (Foto: dpa/Sven Hoppe)

09.02.2024

„Viele zweifeln an der Funktionsfähigkeit des Staates“

Walter Nussel, Beauftragter für Bürokratieabbau der Staatsregierung, über den Trend zu immer neuen Vorschriften, Einzelfallgerechtigkeit und Söders geplantes „Entrümpelungsgesetz“

BSZ: Herr Nussel, warum ist Bürokratieabbau so schwer?
Walter Nussel: Gerade bei uns in Deutschland herrscht die Meinung, dass im Prinzip alles geregelt sein muss. Das war lange Jahre auch grundsätzlich richtig. Aber durch zunehmende Komplexität, durch zusätzliche Vorgaben der EU und des Bundes hat die Bürokratie überhandgenommen. Deshalb ist es jetzt wichtig, die Regelungsdichte zurückzudrehen.

BSZ: Wie macht man das?
Nussel: Die erste Frage ist: Wie kriege ich das in die Köpfe? Ich rede mit Kabinettsmitgliedern, den Amtschefs der Ministerien und den kommunalen Spitzenverbänden und versuche, alle zum Bürokratieabbau zu motivieren. Ich habe dazu vergangenes Jahr einen „Fitness-Check“ für bayerische Behörden mit acht zentralen Punkten vorgelegt. Ich werbe eindringlich dafür, dass das in der Praxis umgesetzt wird.

BSZ: Was steht da drin?
Nussel: Da geht es um vereinfachte Anträge, die schnellere Bearbeitung von Vorgängen, effiziente Organisationsstrukturen und den Mut, Entscheidungen auch zu treffen. Ein weiterer Punkt ist die Digitalisierung. Da wäre viel mehr möglich, wenn wir den Datenschutz praxistauglicher regeln würden. In anderen europäischen Ländern ist es viel leichter, personenbezogene Daten zwischen Behörden auszutauschen. Bei uns müssen sich Flüchtlinge im Landratsamt dreimal anmelden, weil die Daten nicht einmal zwischen einzelnen Abteilungen derselben Behörde geteilt werden dürfen. Das muss endlich mal auf den Prüfstand.

BSZ: Viele Bürgerinnen und Bürger erwarten, dass sich Behörden ihrer Anliegen und Anträge individuell annehmen. Wie lässt sich das mit Bürokratieabbau vereinbaren?
Nussel: Die hohe Bedeutung der Einzelfallgerechtigkeit in Deutschland ist ein Problem. Auch Politik und Medien legen darauf großen Wert. Aber man muss dabei die Verhältnismäßigkeit wahren. Wir müssen dazu kommen, im Einzelfall auch einmal eine Ungerechtigkeit zu akzeptieren, wenn es uns dafür gelingt, Verfahren mehr zu vereinfachen und zu standardisieren. Nur weil in einem Fall vielleicht ein kleiner Nachteil entsteht, muss man die übrigen 99,9 Prozent der Fälle nicht mit unnötiger Bürokratie belasten.

BSZ: Wie wollen Sie das umsetzen?
Nussel: Ich arbeite da gerade an einem Konzept. Um zu verdeutlichen, worum es mir geht, blicke ich mal auf das Landesgesetz für öffentliche Sicherheit und Ordnung. Da ist zum Beispiel geregelt, dass eine Kommune nicht haften muss, wenn es nach einem heftigen Schneeeinbruch wie im Dezember zu Unfällen kommt, weil sie objektiv im Rahmen ihrer Leistungsfähigkeit nicht in der Lage war, den Schnee in kurzer Zeit von allen Straßen und Gehwegen zu bekommen. Das ist dann Lebensrisiko, da liegt es in der Verantwortung jedes Einzelnen, auf sich achtzugeben. So etwas schwebt mir auch in anderen Bereichen vor.

BSZ: Befürchten Sie nicht, dass dann noch mehr Fälle vor Gericht landen?
Nussel: Da sehe ich kein Problem, wenn der Landtag als Landesgesetzgeber die entsprechenden Regelungen trifft. Gerichte können ja nur auf Grundlage der aktuell gültigen Gesetze und Verordnungen entscheiden.

BSZ: Mein Eindruck ist, dass die Gesetze das kleinere Problem sind. Für Bürokratie sorgen eher Verordnungen und Verwaltungsvorschriften. Muss man nicht eher an die ran?
Nussel: Genau das ist mein Ziel. Womöglich muss auch da künftig mehr über den Tisch des Landtags gehen, um verschlankte Verfahren rechtssicher darzustellen.

BSZ: Für Verdruss sorgen auch die vielen Nachweis- und Prüfpflichten. Kann man die reduzieren oder fördert das Betrug und Unterschleif?
Nussel: Nein, das glaube ich nicht. Gemeinsam mit dem damaligen Gesundheitsminister Klaus Holetschek habe ich im vergangenen Jahr ein Pilotprojekt zur Reduzierung der Dokumentationspflichten bei der Pflege in Krankenhäusern auf den Weg gebracht. Das läuft aus meiner Sicht gut und entlastet die Pflegenden ungemein. Oder die regelmäßigen Prüfungen in Pflegeheimen. Muss da in alle rund 3260 Einrichtungen in Bayern jedes Jahr jeweils zweimal die Heimaufsicht und der Medizinische Dienst zur Prüfung rein, obwohl es in nicht einmal einem Prozent der Fälle größere Beanstandungen gibt? Damit bestraft man letztlich die ordentlichen Träger mit einem riesigen unnötigen Aufwand. Meine Vorstellung wäre, das Ganze umzudrehen und die Zuverlässigen mit weniger Kontrollen zu belohnen. Dieses Prinzip kann man meines Erachtens auf viele Bereiche ausdehnen.

BSZ: Der Ministerpräsident hat ein „Entrümpelungsgesetz“ angekündigt. Was verbirgt sich dahinter?
Nussel: Das soll dafür sorgen, dass es auf allen Ebenen Entlastungen von Bürokratie gibt. Nach meinem Verständnis geht es nicht nur um schlankere Gesetze, sondern auch um Verordnungen oder Merkblätter, die von unnützen oder überholten Vorgaben „entrümpelt“ werden sollen. Da hat sich im Laufe der Jahre viel Unübersichtliches und Widersprüchliches entwickelt, was draußen in der Praxis auch für Verunsicherung sorgt.

BSZ: Ein weiterer Vorschlag ist, Gesetze nach fünf Jahre automatisch auslaufen zu lassen, wenn sie sich als verzichtbar erweisen. Was halten Sie davon?
Nussel: Das ist ein interessanter Ansatz, den man sich aber zunächst einmal in einem Pilotprojekt anschauen sollte. Ich warne etwas davor, gleich überall den Stecker zu ziehen. Wir brauchen schon auch ein belastbares und rechtssicheres Ordnungsrecht.

BSZ: Wäre es nicht schon hilfreich, wenn Behörden mit den Menschen in einer allgemeinverständlichen Sprache kommunizieren würden?
Nussel: Das ist mein Punkt eins im Fitness-Check für Behörden. Ja, die Schreiben sind allzu oft juristisch verklausuliert verfasst. Bürger und Unternehmer sollen aber verstehen, was in amtlichen Schreiben steht oder welche Vorgaben an sie gerichtet werden. Gerade haben wir das in einem Merkblatt für Direktvermarkter in der Landwirtschaft umgesetzt. Wie gut so etwas wirkt, zeigt der Kassenleitfaden für den Einzelhandel und die Gastronomie zum Umgang mit den neuen digitalen Kassen. Als die eingeführt wurden, habe ich fast täglich Beschwerden bekommen wegen Problemen mit dem Finanzamt. Seit wir den Leitfaden in verständlicher Sprache herausgegeben haben, höre ich keine Klagen mehr.

BSZ: Initiativen zur Entbürokratisierung gibt es schon lange. Was stimmt Sie optimistisch, dass es diesmal klappt?
Nussel: Weil der Druck aus der Bevölkerung steigt. Viele sind unzufrieden wegen der Bürokratie, fühlen sich gegängelt, zweifeln sogar an der Funktionsfähigkeit des Staates. Ich denke, die Bereitschaft ist da, auch die Folgen schlankerer Verfahren, wie weniger Einzelfallgerechtigkeit, zu akzeptieren. Auch in der Verwaltung selbst spüre ich den Willen zur Veränderung. Außerdem könnte uns der Einsatz von künstlicher Intelligenz helfen, und natürlich der 2018 eingeführte Praxis-Check für neue Gesetze und Verordnungen.

BSZ: Ist es Ihr Ziel, dass Ihr Job irgendwann einmal überflüssig wird?
Nussel: Das wäre erstrebenswert. Aber durch neue technische oder gesellschaftliche Entwicklungen kommen immer wieder neue Sachverhalte dazu, die geregelt werden müssen. Da wird es weiter Menschen brauchen, die draufschauen und für praxisgerechte Lösungen sorgen. (Interview: Jürgen Umlauft)
 

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