Politik

Die Arztpraxen sind praktisch immer voll. Und nicht jeder Besuch ist wirklich notwendig. (Foto: dpa/Klaus Rose)

31.08.2025

Volle Wartezimmer, leere Kassen

Die häufigen Arztbesuche belasten das Gesundheitssystem enorm – eine neue Praxisgebühr ist wohl keine Lösung

Seit diesem Jahr ziehen die gesetzlichen Krankenkassen im Schnitt 17,5 Prozent des Lohnes oder der Rente ihrer Versicherten ab. Doch die Kassen warnen schon vor mehr Belastungen. Ein gewaltiger Kostenpunkt sind unnötige Arztbesuche. Dafür gäbe es Lösungen – aber andere, als es sich der Arbeitgeberverband vorstellt.

Die Deutschen gehen gerne zum Arzt. Laut einer Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung von 2020 besuchen sie im Schnitt knapp zehnmal pro Jahr eine Praxis. Und auf 13,5 Millionen Bürgerinnen und Bürger im Freistaat kommen aktuellen Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung Bayern zufolge 145 Millionen Praxisbesuche, im Schnitt also sogar 10,7 Arztbesuche im Jahr. Und jeder Besuch kostet. Zum Vergleich: der internationale Durchschnitt liegt bei 6,6 Besuchen.

Nur sechs Minuten pro Patient

Die Ausgaben für Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen beliefen sich im vergangenen Jahr auf 312,3 Milliarden Euro, eine Steigerung von 8,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die meisten Kosten verursachen nach wie vor die Krankenhäuser. 102,2 Milliarden Euro (ein Plus von 8,8 Prozent) gaben die Krankenkassen dafür aus. Der zweitgrößte Ausgabenblock entfällt auf die Arzneimittel: 55,2 Milliarden Euro (plus 10 Prozent). Knapp dahinter kommen aber schon die Kosten der ambulanten Versorgung, die 50,3 Milliarden Euro (plus 6,7 Prozent) ausmachen.

Steffen Kampeter, Geschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, fordert eine Reduzierung der Gesundheitsausgaben – auch in Sorge vor einer weiteren Erhöhung des Arbeitgeberanteils. Die vom damaligen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angeschobene Krankenhausreform könnte aus Kampeters Sicht dabei helfen – falls sie nicht verwässert werde. Heißt: Festhalten an der geplanten klaren Spezialisierung der Häuser und auch keine Angst vor unliebsamen Entscheidungen wie Schließungen haben.

Am meisten Gegenwind bekam Kampeter für seine Forderung nach einer Kontaktgebühr für jeden Arztbesuch. Sein Ziel: das Ende unnützer Arztbesuche und das Ende des Ärzte-Hoppings.

Von Sozialverbänden, Ärzteverbänden und auch aus der Politik kam die Kritik, die Forderung sei unsozial. Wer wenig Geld habe, traue sich dann vermutlich selbst aus wichtigen Gründen nicht mehr zum Arzt. Das ließe sich womöglich regeln. Doch was würde eine solche Kontaktgebühr tatsächlich bringen?

Dafür lohnt ein Blick zurück. Immerhin gab es in Deutschland schon einmal eine Praxisgebühr, und zwar von 2004 bis 2012. Die Patientinnen und Patienten mussten beim ersten Arztbesuch im Quartal sowie bei Facharztbesuchen ohne Überweisung jeweils 10 Euro zahlen. Ende 2012 wurde die Gebühr wieder abgeschafft. Die Entscheidung des Bundestags dazu fiel sogar einstimmig. „Wegen fehlender Wirksamkeit“, wie das bayerische Gesundheitsministerium feststellt.

Die Praxisbesuche ließen sich nicht dauerhaft reduzieren – und die Gesundheitskosten stiegen weiter. Trotz 2 Milliarden Euro Einnahmen aus der Gebühr. Zwar sank laut einer Studie des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung die mittlere Fallzahl je Hausarztpraxis mit dem Start der Gebühr zunächst. Ab 2006 stiegen die Zahlen allerdings erneut, und das sogar über das Ausgangsniveau hinaus.

Dominik Spitzer, Hausarzt und für die FDP bis 2023 im Landtag vertreten, erinnert sich mit Grausen an die Gebühr. „Das hatte keine steuernde Funktion, war aber ein riesiger bürokratischer Aufwand.“ Ständig sei er damit beschäftigt gewesen, Geld einzutreiben, das er dann an die Krankenkassen weiterleiten musste. Der Kemptener erinnert sich auch an Patienten, die seine Praxis damals gemieden hätten – „weil sie das Geld nicht hatten“.

An einem Freitag im August, kurz vor 11 Uhr, hatte Spitzer in seiner Praxis bereits 24 direkte Kontakte mit Patientinnen und Patienten. „Und das ist ein ruhiger Tag. Normalerweise sind es um die Zeit schon 40 Kontakte“, sagt Spitzer. Mehr als sechs Minuten pro Behandlung hat der Arzt nicht. Egal, ob es um schwere Erkrankungen geht, Todkranke oder Menschen, die kein Deutsch beherrschen oder aus anderen Gründen nicht verstehen, was Spitzer ihnen erklären will. Dabei würde er sich wünschen, mehr Zeit für diese wichtigen Gespräche und Behandlungen zu haben.

Bürokratie und Belastungen

Auch in Spitzers Praxis kommen Menschen, die eigentlich keinen Arzt, sondern einfach einen Gesprächspartner bräuchten. Doch deren Zahl sei zu vernachlässigen, sagt der Arzt. Mit anderen Maßnahmen ließen sich dagegen locker 30, 40 Prozent der Besuche reduzieren und so viele Kosten einsparen, davon ist er überzeugt.

Die von vielen Arbeitgebern vorgeschriebene Krankschreibung ab dem ersten Tag belastet laut Spitzer die Praxen enorm. Müsste generell erst ab dem dritten Krankheitstag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt werden, würde man sehr viele Ressourcen einsparen. Die telefonische Krankschreibung habe schon ein wenig Platz im Wartezimmer geschaffen. „Das sind doch nicht alles Drückeberger.“

Auch das Ausstellen sogenannter Folgeverordnungen, also erneute Verordnungen von ärztlichen Leistungen wie Physiotherapie beim selben Patienten, kostet viel Zeit. Das könne man doch in die Verantwortung des jeweiligen Facharztes legen, findet Spitzer.

Mit einem Hausarzt als Gatekeeper ließe sich auch die Facharztversorgung verbessern und Mehrfachuntersuchungen könnten vermieden werden. Mit dieser Forderung ist Spitzer nicht allein. So hat es auch die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt. Wie das Konzept aussehen soll, ist noch nicht bekannt. Ziel ist jedenfalls die Senkung der Gesundheitskosten und eine bessere Patientensteuerung – wie es auch Arbeitgebervertreter Kampeter fordert.

Wer sich dieser Steuerung widersetzt, der müsse dann auch persönlich zur Kasse gebeten werden, erklärt Andreas Gassen, der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Etwa mit einem höheren Versichertenbeitrag.

Der Verband der Innungskrankenkassen nimmt dagegen den Bund stark in die Pflicht: Jedes Jahr müssten die Versicherten für sogenannte versicherungsfremde Leistungen zahlen, zum Beispiel 10 Milliarden Euro Gesundheitskosten für Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger. Der Zuschuss des Bundes deckt bei Weitem nicht alle Leistungen ab. Das dürfe so nicht weitergehen.

Sonderabgabe auf Alkohol und Tabak?

Der Verband fordert eine bessere Ausgabenkontrolle – und mehr Geld vom Bund, etwa durch eine Sonderabgabe von 50 Prozent aus dem Verkauf von Tabak- und Alkoholprodukten. Das Argument: Der Staat profitiere von der Tabak- und Alkoholsteuer, das Gesundheitssystem leidet aber unter den hohen Folgekosten dieser legalen Drogen. (Thorsten Stark)

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