Wirtschaft

Bayerns ehemaligerr Ministerpräsident Horst Seehofer sagte einmal, dass Bayern die Vorstufe zum Paradies sei. (Foto: ddp/ArTo)

19.12.2023

Vom Glück, in Bayern zu leben

Betrachtungen zur Regierungserklärung von Ministerpräsident Markus Söder

„Bayern ist die Vorstufe zum Paradies“ hat Ministerpräsident Horst Seehofer bei der Klausurtagung 2015 im Kloster Andechs gesagt. Sein Nachfolger Markus Söder sieht das nicht anders. Seine Regierungserklärung zu Beginn seiner zweiten Amtsperiode fängt an mit der Feststellung: „Deutschland steckt in der Krise.“ Bayern offenbar nicht, trotz der Kriege, des Klimawandels und  der Herausforderungen durch Migration, Inflation und Rezession. „Zum Glück leben wir in Bayern, zum Glück geht es uns besser, und das soll auch so bleiben.“ Denn: „Bayern ist fast überall bundesweit an der Spitze.“ Schon vor der Wahl hat die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch gefragt: „Wenn alles so toll ist in Bayern, warum muss man das denn immer betonen?“ Vielleicht deshalb, um nicht über Defizite sprechen zu müssen wie die hausgemachte Energiekrise, den großen Bedarf an Fachkräften, die fehlenden Kita-Plätze, den Lehrermangel, oder auch über den Lohnrückstand für Frauen, die steigende Altersarmut und die fortschreitende Versiegelung des Bodens, wo Bayern auch Spitze ist? Um den Bürgern ein „weiter so“  ohne Anstrengungen und Belastungen versprechen zu können, wie schon in der Koalitionsvereinbarung?

Dabei steckt der Freistaat in der größten Krisensituation seit der deutschen Einheit. Damals gab es Kriege in Jugoslawien, über 300.000 Asylbewerber pro Jahr, Massenarbeitslosigkeit und Firmenpleiten. Edmund Stoiber hat in seiner Regierungserklärung vom 30. Juni 1993 eine schonungslose Bestandsaufnahme vorgenommen und festgestellt: „Die genannten Tatsachen sind bittere Pillen für Politi­ker und Bürger. Wir müssen deshalb umdenken. Die Politiker haben keine Zuwächse mehr zu verteilen. Die Interessenverbände und Bürger müssen einse­hen, dass nicht alle Ansprüche erfüllt und alle Besitz­stände gehalten werden können. Ich bin davon überzeugt: Die überwältigende Mehr­heit der Deutschen weiß inzwischen, dass wir über un­sere Verhältnisse leben und dass die „fetten Jahre“ erst einmal vorbei sind. Viele sind auch opferbereit. Voraussetzung ist allerdings, dass die Opfer sinnvoll sind und die Verteilung der Lasten gerecht ist.“ Er hat dem Volk aufs Maul geschaut, ihm aber nicht nach dem Mund geredet. Und hat in schwieriger Zeit mit einem umfassenden Reformkonzept mutig gehandelt.

Die High-Tech-Agenda

Mit der Aufstockung der Hightech Agenda aus insgesamt 5,5 Milliarden Euro bis 2028 setzt Markus Söder die High-Tech-Offensive von Edmund Stoiber fort. Zum technologischen Feuerwerk gehören die TU Nürnberg als erste Universität für Künstliche Intelligenz, der erste Quantencomputer und der erste Fusionsreaktor in Deutschland sowie ein Raketenzentrum wie im texanischen Houston, aber auch Zentren für Technologietransfer im ganzen Land.  Dieses Programm ist in der Tat ein bundesweites Alleinstellungsmerkmal und ein großer Standortvorteil für die Zukunft Bayerns, wenn es denn hält, was jetzt versprochen wird. Doch Investitionen in die Forschung reichen nicht, um die gegenwärtige Krise zu überwinden.

   Stoibers Zukunftsoffensive hat über High Tech hinaus auch einen Beschäftigungspakt mit Arbeitgebern und Gewerkschaften, Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Nachhaltigkeit umfasst. Mit diesem Programm wurde nicht nur die damalige Wirtschaftskrise gemeistert, es wurden auch die Weichen für die Globalisierung und Digitalisierung gestellt. Mit einem Investitionsvolumen von neun Milliarden Euro, davon die Hälfte aus Privatisierungserlösen, übernahm der Freistaat Mitte der 90er Jahre die Führung bei der Wirtschaftskraft, der Finanzstärke und der Beschäftigung in Deutschland. Im Buch „Silicon Valley Bayern“ habe ich beschrieben, wie der heutige Wohlstand des Landes begründet wurde.

Die Forderungen der Wirtschaft

Ein wesentlicher Faktor für den Aufstieg Bayerns vom Agrarland zum High-Tech-Staat war die eigenständige Energieversorgung durch die Kernkraft. Diese Lebensader der Wirtschaft wurde aufgegeben, als Bayern Speerspitze des vorzeitigen Atomausstiegs wurde und sich fast vollständig von Putins Gas abhängig gemacht hat. Stromtrassen nach Bayern wurden verzögert und den Ausbau der erneuerbaren Energien behindert. Damit der Standort Bayern wieder zukunftsfest wird, hat die bayerische Wirtschaft drei klare Forderungen an die Politik gerichtet: Die erneuerbaren Energien und die Netze möglichst rasch auszubauen,  die Einwanderung von Fachkräften zu erleichtern und heimische Arbeitnehmer besser zu qualifizieren, sowie eine Schuldenbremse plus einzuführen, die Kredite für Zukunftsinvestitionen ermöglicht.

Die Energiewende

Markus Söder relativiert seine sehr ambitionierten Pläne zum Ausbau der erneuerbaren Energien mit der Feststellung, dass alle Anstrengungen nicht reichen werden, um gleichzeitig niedrigere Energiepreise, eine stabilere Energieversorgung und Klimaneutralität für Wirtschaft und Bürger zu erhalten. Er fordert eine Reaktivierung der Kernenergie mit dem Einsatz von neueren, modernen kleinen Reaktoren.

Doch die Fakten zur sogenannten SMR-Technologie (für Small Modular Reactors) sind ernüchternd: Sie ist weder ausgereift noch wirtschaftlich, sie ist unsicher und gefährlich. 2020 wurde in Russland ein erster schwimmender Reaktor mit 70 Megawatt (MW)  nach 13 Jahren Bauzeit fertiggestellt.  In China wird ein modularer Reaktor nach 20jähriger Planung mit Kosten von 16 Milliarden Euro seit Oktober dieses Jahres betrieben. Seine Leistung: 125 MW.  In den USA sollte der erste Reaktor mit 6 Modulen à 77 MW nach 6 Jahren Planung mit Kosten von 9,3 Milliarden Dollar im Jahr 2029 ans Netz gehen. Das Projekt wurde im November vergangenen Jahres eingestellt. Um die Leistung der fünf bisherigen Atommeiler in Bayern von 6,1 Gigawatt zu ersetzen, müsste nahezu in jedem Landkreis ein kleiner Atomreaktor gebaut werden. Über die gewaltigen Kosten hinaus: Wie soll das eine Bevölkerung akzeptieren, die schon Windräder und Stromleitungen ablehnt? Wie will man für 50 bis 100 Anlagen die Sicherheit vor dem Austritt von Radioaktivität und dem Angriff von Häckern und Terroristen gewährleisten?

Der Fachkräftemangel

Der Fachkräftemangel ist neben dem Energieproblem die größte Gefahr für die wirtschaftliche Entwicklung in Bayern. Nach einer Studie im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft werden 2025 rund 350.000 Fachkräfte fehlen. Die demografische Entwicklung wird das Defizit noch vergrößern. Warum findet sich in der Regierungserklärung kein Wort dazu? Und keine Maßnahme?

Anders noch in der Zukunftsoffensive von Edmund Stoiber. Damals war es erklärtes Ziel, qualifizierte Arbeit zu schaffen. Auch als die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit im Vordergrund stand,  gab es in bestimmten Branchen, vor allem in der Informationstechnik, einen Engpass an Fachkräften. Dazu wurde mit Arbeitgebern und Gewerkschaften eine Qualifizierungsoffensive auf den Weg gebracht. Auch heute könnten notwendige Maßnahmen im Rahmen einer gemeinsamen Aktion entwickelt und gebündelt werden: eine möglichst effektive Umsetzung der Einwanderung von Fachkräften, einen Anspruch auf Weiterbildung für die Beschäftigten wie in allen anderen Bundesländern mit Ausnahme von Sachsen, ein Qualifizierungsprogramm mit den Kammern, Programme aus dem Arbeitsmarktfonds, bessere Rahmenbedingungen für die Mehrarbeit von Frauen, die Stärkung der Mitarbeiterkompetenz für Digitalisierung und Strukturwandel und generell die Steigerung der Attraktivität der Arbeit durch bessere Lohn- und Arbeitsbedingungen, dazu mittelfristig die Hebung des Potentials durch rascheren Ausbau der Ganztagsschulen.

Die Investitionsbremse

„Wir halten weiter an der Schuldenbremse fest. Eine Abschaffung oder Aufweichung der Schuldenbremse ist der Wiedereinstieg in den Schuldenstaat“ heißt es trotzig in der Regierungserklärung. Niemand will die Schuldenbremse abschaffen, doch fast alle Ökonomen und Unternehmer wollen sie für mehr Investitionen öffnen.

Der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, hat schon vor Jahren die schwarze Null als ökonomischen Unsinn bezeichnet. Heute sagt er, die Schuldenbremse dürfe weder eine Wachstumsbremse noch ein Wegbereiter der Deindustrialisierung sein. Auch bei einer Anhebung des Kreditrahmens von 0,35 auf 1,5 Prozent würde die deutsche Schuldenquote Jahr für Jahr deutlich sinken. Für den Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher, ist die  Schuldenbremse  nicht mehr zeitgemäß, weil sie der Politik notwendigen Spielraum nimmt, um Krisen zu bekämpfen und Zukunftsinvestitionen zu tätigen. Eine Offensive in Bildung, Klimaschutz, Innovation und Infrastruktur sei heute wichtiger denn je. Der unabhängige wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium geht von einem Investitionsbedarf vom 900 Milliarden bis 1,5 Billionen in den nächsten zehn Jahren aus.  Daher sollte die Schuldenregel für Neuinvestitionen in die Infrastruktur oder in die Energiewende nicht gelten. „Wir benötigen eine Rückkehr zur goldenen Regel der Finanzpolitik, wonach Ausgaben für Zukunftsinvestitionen von der Schuldenbremse auszunehmen sind“ sagt ihr Vorsitzender Jens Südekum.

Nicht anders sieht es die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft: „Die fehlende Ausrichtung der Schuldenbremse auf Zukunftsinvestitionen ist ein unhaltbarer Zustand.“  Der Verband hat schon Ende letzten Jahres eine „Schuldenbremse Plus“ vorgeschlagen, die Zukunftsinvestitionen zulässt, die konkrete Werte schaffen. „Die Schuldenbremse Plus hält an Haushaltsdisziplin fest und eröffnet gleichzeitig Bund und Ländern die Möglichkeit, Investitionen in die Zukunft durch Kredite zu finanzieren. Langfristig kann dadurch aber mehr für Innovationen, Infrastruktur und klimapolitisch bedingte Transformationsaufgaben ausgegeben werden“, hat ihr Hauptgeschäftsführer, Bertram Brossardt, festgestellt. Die Staatsregierung war bisher immer gut beraten, wenn sie den Empfehlungen der bayerischen Wirtschaft gefolgt ist.

Die soziale Empathie

Als zweiten großen Punkt seiner Regierungserklärung hat Markus Söder die soziale Sicherheit angeführt. Bayern sei ein mitfühlendes Land mit Empathie und sozialer Verantwortung. Hier sollen sich nicht nur die „Reichen und Schönen“ ein gutes Leben leisten können. „Auch Menschen mit einfachen und mittleren Einkommen, Familien, Kranke und alle Älteren sollen sich in unserem Land sozial gerecht behandelt fühlen.“ Doch wie ist diese hehre Ansage mit der Tatsache zu vereinbaren, dass jeder sechste Beschäftigte in Bayern heute nur einen Niedriglohn erhält, der nicht ausreicht, eine Familie zu ernähren? Schon Edmund Stoiber hat vor den gravierenden Auswirkungen atypischer Arbeit auf Lebensumstände und Alterssicherung gewarnt und den ersten Armutsbericht im Freistaat erstellen lassen. Damals lag die Tarifbindung, die bessere Löhne und Arbeitsbedingungen sichert,  noch bei 70 Prozent. Heute erhält nur noch jeder Zweite in Bayern einen Tariflohn. Das ist die niedrigste Quote in den westdeutschen Ländern. Der Satz „ Wer arbeitet, muss deutlich mehr haben als der, der nicht arbeitet“ ist richtig. Aber nicht das verfassungsrechtliche Existenzminimum ist das Problem, sondern der ausgeprägte Niedriglohnsektor, der politische Widerstand gegen angemessene Mindestlöhne und  der Rückgang der Tarifbindung in Bayern – und in der Folge die höchste Altersarmut.

Die Altersarmut

Ministerpräsident Horst Seehofer hat in seiner Antrittsrede als Präsident des Bundesrates am 4. November 2011 erklärt: „Mich erfüllt die zunehmende Altersarmut heute und in der Prognose mit Sorge. Alle gesellschaftlichen Kräfte und wir sind aufgerufen, darüber nachzudenken, wie wir ein Anwachsen der Altersarmut in den nächsten Jahren und Jahrzehnten vermeiden können. Vor allem diejenigen Menschen, die während ihres ganzen Lebens berufstätig waren, Kinder erzogen haben, sich möglicherweise auch noch um die Pflege von Angehörigen gekümmert haben, dürfen nicht nach 40 Jahren feststellen, dass ihre gesamte Lebensleistung zu einer Alterssicherung führt, die sie nicht von staatlichen Transferzahlungen unabhängig macht.“ Seither ist die Armut dieser Generation, die unser Land nach dem Krieg wieder aufgebaut hat, deutlich gewachsen.  Der Anteil der im Freistaat von Armut bedrohten Menschen ist von damals 17 auf heute 22 Prozent angestiegen, 18,5 Prozent für Männer und 24,5 Prozent für Frauen. Damit ist das reiche Bayern nicht nur Schlusslicht in Deutschland. In Europa sind ältere Menschen nur in Bulgarien, Estland und Lettland schlechter dran als im Freistaat.  Doch das Wort „Armut“ kommt in der aktuellen Regierungserklärung nicht vor.

Die  Familienpolitik

„Bayern ist ein Familien- und Kinderland.“ Zu Recht verweist die Regierungserklärung auf Familiengeld und Pflegegeld als bundesweit einmalige Leistungen. Sie werden allerdings unabhängig vom Einkommen gewährt, auch an Wohlhabende, die ihrer gar nicht bedürfen. Anfang Juli hatte Markus Söder noch angekündigt, das Familiengeld werde sich künftig „mehr am Einkommen orientieren“ und solle insbesondere Alleinerziehende stärken. Es gebe Menschen mit einem „Wahnsinnseinkommen, die brauchen das nicht, die sagen: Steckt das Geld lieber in den Kita-Ausbau“. Jetzt stellt er klar, dass es dieses Geld auch weiterhin „für jedes Kind“ in Bayern geben wird, also auch für die Kinder der „Reichen und Schönen.“

Im „Kinderland“ Bayern wurden seit 2018 rund 82.000 neue Kita- und Hortplätze geschaffen, steht in der Regierungserklärung. Doch es fehlen noch immer 70.000 Plätze, wie die Bertelsmann-Stiftung feststellt. Und das, obwohl es seit zehn Jahren einen Rechtsanspruch gibt. Noch schlechter sieht es beim Ausbau der Ganztagsschulen aus, der schon Teil von Stoibers Zukunftsoffensive war. Bei der Förderung von Schülern aus sozial schwachen Familien nimmt der Freistaat nach dem Bildungsmonitor der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ nur den drittletzten Platz bundesweit ein. Das ifo-Institut stellt fest, dass nach wie vor  Bildungsstand und Einkommen der Eltern den Ausschlag für die Bildungschancen geben. Wenn die Zukunft der Kinder in Bayern „das Wichtigste überhaupt“ ist, wie Ministerpräsident Söder sagt, dann kann es nicht sein, dass die soziale Herkunft über den künftigen Lebensweg entscheidet.

Das Krankenhaus

Immerhin, es gibt – wie schon in der ersten Phase der Pandemie - auch einen sozialen Glanzpunkt: die Gesundheitspolitik. Jetzt wird angekündigt, die Investitionen für Krankenhäuser bis 2028 von derzeit 643 Millionen auf eine Milliarde Euro zu steigern. Im Wahlkampf wurde das noch für 2024 versprochen. Damit werden die Versäumnisse der Vergangenheit immerhin teilweise aufgeholt.  Schon Ministerpräsident Franz Josef Strauß hat die Krankenhauspolitik als die wichtigste innenpolitische Aufgabe bezeichnet. Damals lag das Fördervolumen bei 1,3 Milliarden DM, also rund 650 Millionen Euro. Berücksichtigt man die Preisentwicklung der vergangenen 36 Jahre, wäre das heute rund das Doppelte,  also 1,3 Milliarden Euro.

Die Generationengerechtigkeit

Weniger erfreulich sieht es beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen aus. Hierzu enthält die Regierungserklärung nur einen einzigen Satz: „Wir pflanzen Bäume, wir schützen Wasser, wir renaturieren Moore, und im Mittelpunkt unserer gesamten Bemühungen stehen natürlich die erneuerbaren Energien.“ Dabei gehört die Bewahrung der Schöpfung schon seit den 70er Jahren zur bayerischen DNA: 1970 Europas erstes Umweltministerium, 1976 ein Grundsatzprogramm, das zur Bewahrung der Lebensgrundlagen kommender Generationen verpflichtet, und 1984 die erste Verankerung des Umweltschutzes in einer deutschen Verfassung – was bleibt von diesem großartigen Erbe, gerade in unserer Zeit? Wie will man die seit zwei Jahrzehnten wuchernde Bodenversiegelung endlich stoppen? Wo ist der angekündigte Wassercent? Was unternimmt man gegen das wachsende Artensterben? Gilt noch das 30-Prozent-Ziel bis 2030 für den ökologischen Landbau? Soll der Einsatz von Pestiziden noch bis 2028 halbiert werden? Soll das Höfesterben so weitergehen?  Was unternimmt man gegen die Massentierhaltung, welchen Stellenwert hat das Tierwohl? Edmund Stoiber hat die Erweiterung des Nationalparks Bayerischer Wald gegen massive Widerstände durchgesetzt. Heute sind Holzsammelrechte von 1866 für Gemeindebürger mit Holzfeuerstelle wichtiger als ein Biosphärenreservat im Spessart. Da hat selbst das Programm der AfD mehr zu bieten: „Der Umweltschutz, der Erhalt der Artenvielfalt und die Pflege der Natur und der Gewässer haben höchste Priorität.“

Die Gendersprache

„AfD-Wahlprogramm pur“, lautet das Lob der Rechten für das Verbot des Genderns in Schule und Verwaltung. Immerhin könnte das Verdikt den Schülern mit Lese- und Rechtschreibschwäche entgegenkommen. Mit einer „Spaltung der Gesellschaft“, die Markus Söder als Begründung für die Sprachzensur anführt, hat eine frauengerechtere Sprache freilich nichts zu tun. Der  Versuch, diese Entwicklung aufzuhalten, ist ein patriarchalischer Reflex zur Verteidigung eines konservativen Frauen- und Familienbildes. Aber wie will man mit einem Maulkorberlass selbstbewusste junge Frauen für den Lehrerberuf begeistern? Zumal offen bleibt, welche Sanktionen sie erwarten: Abmahnung, Versetzung, Gehaltskürzung, gar Kündigung?

Aber vielleicht ist so viel Gleichberechtigung im Freistaat gar nicht erwünscht. Bayern ist Schlusslicht bei der Umsetzung gleicher Rechte für Männer und Frauen. Seit 1946 fordert die  Bayerische Verfassung ebenso wie seit 1949 das Grundgesetz: „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Die Realität sieht so aus: Mit einer Lohnlücke für Frauenberufe von 21 Prozent ist der Freistaat bundesweit Schlusslicht. In Europa nur noch von Lettland unterboten.

Die Brandmauer

„Wer die Brandmauer zu rechtsradikalen Gruppen aufgibt, der macht sie erst hoffähig“  steht in der Regierungserklärung. In Bayern ist man nicht auf die Stimmen der AfD angewiesen. Anders in Brüssel, wo die Hälfte der Vorgaben für Umwelt und Landwirtschaft beschlossen werden. Hier bedient sich die Staatsregierung der von Manfred Weber geführten Europäischen Volkspartei. Diese hat schon zwei Mal Kernanliegen des Green Deal torpediert, beim Gesetz zur Renaturierung und bei der Halbierung des Pestizideinsatzes. Das ging nur mit Hilfe von Klimaleugnern und Europafeinden wie der Fraktion Identität und Demokratie, zu der die nationalistischen und teils rechtsextremen Parteien wie die deutsche AfD, die österreichische FPÖ, die italienische Lega, der französische Rassemblement National und der Vlaams Belang aus Belgien gehören. Nächstes Angriffsziel ist das Verbrennerverbot der EU ab 2035. So viel zur Brandmauer gegen rechts.

Bei den rechten Kernthemen Migration und Asyl hält sich die Regierungserklärung bisher klug an das derzeit Machbare. Für weitergehende Ziele wie die Umwandlung des individuellen Asylrechts in eine Kontingentlösung wirbt Markus Söder um die Zustimmung von SPD und Grünen, da Änderungen des Grundgesetzes und des europäischen Asylrechts nur mit einer breiten Mehrheit möglich wären. Die Staatsregierung ist sich offenbar bewusst: Nichts würde den Zulauf zur AfD mehr stärken als ein Scheitern hochfliegender Pläne, denen keine Reduzierung der Zahl der Migranten folgt.

Das Fazit

Die nächsten fünf Jahre werden für die Zukunft Bayerns entscheidend sein. Geschichte wiederholt sich nicht. Doch man kann aus der Geschichte lernen. Seinerzeit ist es gelungen, eine große Krise zu meistern. Das sollte auch heute möglich sein. Damit Bayern die Vorstufe zum Paradies bleibt.
(Rudolf Hanisch)

(Der Beitrag stammt vom Autor des Buches „CSU in der Krise – eine Volkspartei am Scheideweg“. Er war 2005 bis 2009 Vorstandsvize der BayernLB und zuvor unter Ministerpräsident Edmund Stoiber Staatskanzleichef.)

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