Politik

Flüchtlinge ziehen mit ihren ganzen Habseligkeiten 1945 in Richtung Westen. (Foto: Ernst Feix, dpa)

24.02.2020

Von böhmischen Knödeln und neuen Verpflichtungen

Von der Flucht bis zur Aussöhnung: Selbst wer keine Fluchtgeschichte zu seinen Familienerinnerungen zählt, kennt die Bilder der Trecks durch den Schnee in jenem eisigen Winter gegen Ende des Zweiten Weltkriegs

Das ganze Leben passte in zehn Säcke. In die packte die Mutter von Heinz Rennhack alles, was sie in Danzig besaßen, bevor sie im April 1945 vertrieben wurden. "Und wir sind tatsächlich mit zehn Säcken in Schwerin angekommen", erinnert sich der Schauspieler, Jahrgang 1937, 75 Jahre später. Millionen Deutsche waren gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht oder wurden vertrieben aus den damaligen Ostgebieten wie Ostpreußen, Schlesien oder dem Sudetenland.

Man kennt die Bilder von Trecks im tiefen Schnee, Mütter, die Kinder übers zugefrorene Haff zerren, tote Pferde im Graben, zurückgelassene Erfrorene. Eine Zeitzeugin, damals 17, erinnerte sich im Deutschlandfunk an weinende, verzweifelt herumirrende Kinder auf der Suche nach den Müttern. "Das höre ich heute noch: Mutti, liebe Mutti, wo bist Du? Das war in der Nähe von Königsberg. Mutti, liebe Mutti."

Erinnerungen, die exemplarisch für die vieler Menschen in Deutschland stehen. "Man muss sich klarmachen, dass ein Viertel der bundesdeutschen Bevölkerung selbst oder in der Familie ein Vertreibungsschicksal hinter sich hat", sagt Bernd Fabritius, Präsident des Bundes der Vertriebenen und selbst aus Siebenbürgen stammend. "Deutschland hat 12 Millionen Vertriebene und Flüchtlinge aufgenommen. Das hat die junge Bundesrepublik natürlich vor unglaubliche Herausforderungen gestellt. Allein was die Erstversorgung, das Wohnen, die Verpflegung anbelangt. Es gab, das muss man sich auch heute klarmachen, damals keine Willkommenskultur."

Fast zwei Millionen kamen allein nach Bayern

Mit der sowjetischen Sommeroffensive 1944 fing es an, im Winter 1945 dann flohen die Massen vor der heranrückenden Roten Armee, zu Fuß, mit dem Pferdewagen oder dem Güterzug. Nachdem Ostpreußen bereits eingeschlossen war, brachte die deutsche Kriegsmarine ab Ende Januar bis Mai zwei Millionen Menschen nach Dänemark und Schleswig-Holstein. Bis zu 700 000 Menschen sollen zwischen 1944 und 1947 gestorben sein. Wer es in den Westen schaffte, hatte oft nur, was er am Leib trug.

Fast zwei Millionen kamen allein nach Bayern, wo die Sudetendeutschen sogar zum sogenannten vierten Stamm wurden, neben Altbayern, Schwaben und Franken. "Ihre Handwerksbetriebe und Unternehmen haben Bayern mit zu Wachstum und Wohlstand verholfen", sagte Ministerpräsident Markus Söder (CSU) 2019.

Insgesamt fast 8 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene fanden Obdach in der späteren BRD, vier Millionen nahm die spätere DDR auf. Wie viele Menschen tatsächlich den deutschen Osten verließen, ist noch immer nicht genau zu sagen. Ebenso sei die Zahl der Opfer noch zu vage, sagt Historikerin Eva Hahn, die ein Buch zum "Mythos Vertreibung" geschrieben hat. Auch die Zwangsevakuierung von Deutschen durch NS-Behörden sei bis heute vertuscht worden.

Die Vertriebenen veränderten ihre neue Heimat

Diejenigen, die kamen, veränderten ihre neue Heimat für immer. "Es gibt Ortschaften in Bayern, wo über Nacht, quasi durch das Ankommen von Flüchtlings- und Vertriebenenzügen, die konfessionelle Gestaltung der Dorfgemeinschaft eine völlig andere geworden ist, wo ursprünglich zuerst katholisch geprägte Siedlungen plötzlich eine protestantische Mehrheit hatten und umgekehrt", erzählt Fabritius.

Doch über das, was die Flüchtlinge und Vertriebenen erlebt hatten, schwiegen sie lange. Manche ein Leben lang, manche erzählten erst nach Jahrzehnten. "Mein Opa", erzählt der Siebenbürger Fabritius, "hat bestimmt Jahrzehnte hinweg durch Verschweigen und Verdrängen eine Aufarbeitung eigentlich hinausgeschoben." Der ehemals zur Zwangsarbeit verschleppte Großvater habe erst mit den Enkelkindern in Deutschland darüber sprechen können. "Er hat uns zum Beispiel - das war für uns Kinder total interessant - geschildert, warum meine Mutter tunlichst nichts aus Sauerkraut kochen darf, wenn mein Opa da ist. Er hat den Satz geprägt, er wäre an Sauerkraut schier verhungert." Er habe fünf Jahre lang nur in Wasser gekochtes Sauerkraut zum Essen bekommen und bei seiner Rückkehr nur noch 48 Kilogramm gewogen.

Das Interesse gerade der jüngeren Menschen an verlorener Heimat ist groß, hat auch Simone Eick festgestellt, Direktorin des Deutschen Auswandererhauses in Bremerhaven, das sich seit einiger Zeit auch mit der binnendeutschen Migration befasst. "Wir haben in den letzten zwei, drei Jahren sehr, sehr viel mehr Menschen, die hierherkommen und uns die Geschichten erzählen von den Eltern oder Großeltern, von deren Flucht oder deren Vertreibung und es dann auch Briefe oder Tagebücher oder Fotos übergeben."

Das Thema Vertreibung war lange ein strittiges

Doch auch wenn man reisen kann an frühere Wohnorte, manches ging für immer verloren, Dialekte etwa, wie Eick sagt, Tänze. Manches kann man vielleicht hinüberretten. "Ganze Trachtenlandschaften, die über Jahrhunderte traditionsgebunden gewachsen sind und ein wirkliches Juwel des gesamtdeutschen, kulturellen Erbes darstellen - die gehen unter, wenn man sie nicht weiter pflegt", mahnt Fabritius. Die Küche, da sind beide sich einig, lebt wohl weiter. Böhmische Knödel oder Königsberger Klopse werden auch in München und Hamburg noch gegessen.

Das Thema Flucht und Vertreibung war lange ein strittiges. Wie sieht es heute aus, 75 Jahre später? "Natürlich sind noch hier und da emotional feindselige Töne zu hören, aber man kann im Großen und Ganzen von einer erfolgreichen sowohl internationalen wie auch innernationalen Konsensbildung auf beiden Seiten entlang der deutschen Ostgrenze sprechen", findet Historikerin Hahn, selbst in Prag geboren. Eick verweist auf die Vorgeschichte des Themas, nämlich die Wanderung der Deutschen gen Osten, lange vor den USA-Auswanderern. Daran solle man sich erinnern: eine Form des Zusammenlebens, ganz anders als heute. "Heute ist man so getrennt, so nationalstaatlich. Was Europa prägte, war Vielfalt."

Fabritius sieht auch eine Verantwortung: Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler und Spätaussiedler sowie deutsche Minderheiten in Osteuropa "sind eine Chance für ein noch besser zusammenwachsendes Europa. Diese Menschen, die in einer vielfältigen Gesellschaft aufgewachsen sind und dort ein friedliches Zusammenleben über die Jahrhunderte gepflegt haben, können diese Erfahrung auch in die heutige Gesellschaft einbringen."
(Martina Scheffler, dpa)

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