Politik

CSU-Chef Markus Söder beim Parteitag in Nürnberg: Das vom Parteitag am 6. Mai 2023 beschlossenen achte Grundsatzprogramm der CSU hat einen neuen Schwerpunkt. Jetzt wendet sich die Partei massiv gegen einen - aus ihrer Sicht – „linken Kulturkampf in Form von Identitätspolitik, Wokeness und Cancel Culture“. (Foto: dpa/Peter Kneffel)

08.05.2023

Wachsamkeit oder Zensur?

Was es mit der Wokeness auf sich hat

Das vom Parteitag am 6. Mai 2023 beschlossenen achte Grundsatzprogramm der CSU hat einen neuen Schwerpunkt. Jetzt wendet sich die Partei massiv gegen einen - aus ihrer Sicht - „linken Kulturkampf in Form von Identitätspolitik, Wokeness und Cancel Culture“. Die Verfechter dieser „Ideologien“ wollten „ein anderes Land“, heißt es dort. Damit schließt sich die CSU dem politischen Kampf der Rechten in aller Welt gegen die Wachsamkeit der Bürger gegenüber politischen und gesellschaftlichen Missständen an. Denn das bedeutet Wokeness auf Deutsch.

So beschreibt es Gablers Wirtschaftslexikon: Als Wachsamkeit, mit der man aufmerksam das Geschehen in der Welt verfolgt. Man will Antisemitismus, Rassismus, Sexismus, Gewalt, Umweltzerstörung, Massentierhaltung und andere Übel daraus entfernen, indem man seine Stimme erhebt, in den Massenmedien und in den sozialen Medien, auf der Straße und auf den Plätzen, in Schulen, Hochschulen und Unternehmen. Und woke bedeutet laut Duden: „In hohem Maß politisch wach und engagiert insbesondere gegen rassistische, sexistische, soziale Diskriminierung“. Nichts anderes will auch die Identitätspolitik. Sie steht für politisches Handeln für eine kulturelle, ethische, soziale oder sexuelle Gruppe von Menschen. Ziel ist eine höhere Anerkennung, die Verbesserung ihrer gesellschaftlichen Position und die Stärkung ihres Einflusses. Und „cancel culture“ wird als Instrument gesehen, diskriminierendes Verhalten anzuprangern und Konsequenzen einzufordern. Mit Hilfe der Identitätspolitik wollen sich diskriminierte Menschen wehren und befreien.

Alle diese Begriffe kommen aus den USA. Der Terminus „woke“ entstammt dem antirassistischen Diskurs, wurde dort von Konservativen umgedeutet und zu einem Kampfbegriff aufgeladen. Er dient nun der pauschalen Abwertung von allem, was Konservative und Rechte ablehnen. Vor allem der Ex-US-Präsident Trump hat die neue Vokabel bekannt gemacht. 2022 tönte er: „The radical left is trying to replace American democracy with woke tyranny.“ Auf Deutsch: „Die radikale Linke versucht gerade, die Demokratie durch eine woke Tyrannei zu ersetzen.“ Auch sein möglicher Herausforderer für die Präsidentschaftskandidatur der Republikaner, der erzkonservative Gouverneur von Florida, Ron de Santis, ruft zum Kampf auf: „Wir lehnen die woke Ideologie ab - wir bekämpfen die Woken in unseren Parlamenten, wir bekämpfen sie in den Schulen, wir bekämpfen sie in den Konzernen. Wir werden uns niemals dem woken Mob ergeben.“

Rechter Kampfbegriff

Alle rechten Parteien weltweit sind mittlerweile auf Trumps Spuren. Das gilt für Marine le Pens Rassemblement National ebenso wie für die Schweizer Volkspartei, die vom „Woke-Wahnsinn“ und vom „Gender-Terror“ spricht. Am 5. Mai 2023, einen Tag vor dem Parteitag der CSU, hat der ungarische Premier Viktor Orban führende Rechtspopulisten zur internationalen Konferenz der konservativen Parteien nach Budapest eingeladen. Gekommen sind, wie die Medien berichten, unter anderem Herbert Kickl, Chef der rechtspopulistischen Österreichischen Volkspartei, die Ex-Premiers aus Slowenien, der Rechtsnationalist Janez Janša und der Orban-Bewunderer Andrej Babiš aus Tschechien, der Schweizer „Weltwoche“-Macher Roger Köppel, Nationalrat der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei, der New Yorker Jungstar der Republikaner, Gavin Wax, Trumps ehemaliger Chefberater Steve Bannon und der frühere deutsche Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen, dem die CDU eine Sprache aus dem Milieu der Antisemiten und Verschwörungsideologen bis hin zu völkischen Ausdrucksweisen vorwirft. Vertreter der CSU haben nicht teilgenommen. Mit Andreas Scheuer an der Spitze war aber eine Delegation der Landesgruppe zeitgleich zu Gast bei Ron de Santis in Florida, um sich dort Rat zu holen. Zur Eröffnung des Treffens in Budapest hat Orban Migration, Gender-Ideologie und Wokeness-Bewegung mit Viren verglichen, die in seinen Augen von der Linken “herangezüchtet” und auf die Welt losgelassen worden seien. Die Wokeness-Bewegung und die Gender-Ideologie seien im Grunde wie Kommunismus und Marxismus: Sie seien künstliche Spaltpilze, die Gesellschaften und so auch Nationen entzweien würden. Laut Orban muss der “Impfstoff” gegen das “progressive Virus” nicht lange gesucht werden. Denn er sei in Ungarn schon vorhanden. Er bezeichnete Ungarn als “Inkubator, in dem die konservative Politik der Zukunft erprobt wird”.

Liberalitas Bavariae versus Patrona Bavariae

Als politischer Kampfbegriff fand Wokeness jetzt auch Eingang in die deutsche Politik. Bei der AfD ebenso wie bei der Union. Die Union greift ihn als Synonym für ein vermeintlich übertriebenes Bewusstsein für Diskriminierungen auf. Die Behauptung, es gäbe so etwas wie eine linke Cancel Culture, stützt sich darauf, bizarr erscheinende Einzelfälle bewusst zu überbetonen oder einseitig darzustellen. Kritik an Missständen bezeichnet man als Angriff auf die bestehende Ordnung. Nicht die Missstände werden angeprangert, sondern deren Kritiker. Meinungsfreiheit gilt nur für die eigene Meinung, nicht aber für die Meinung der anderen. CDU-Chef Friedrich Merz versteigt sich zu der Behauptung: „Die größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit ist aus meiner Sicht inzwischen die Zensurkultur, auch Cancel-Culture genannt.“ Ist der Rechtsextremismus nicht mehr die größte Gefahr für die Demokratie?

Ob Winnetou oder Layla, kein Anlass ist zu nichtig, um die Wokeness-Keule zu schwingen. „Wir wollen Polizisten auf der Straße, aber keine Sprachpolizei im Bierzelt“, sagt CSU-Chef Markus Söder. Und auf Instagram schreibt er: „Bayern ist anders als Berlin, wir lehnen Wokeness, Cancel Culture und Genderpflicht ab. Bei uns darf man essen was man will, sagen und singen, was einem gefällt.“ Dabei scheut man nicht vor Fake News zurück. Keiner wird gezwungen, dem Irrweg des Sprachgenderns zu folgen, der keiner Frau gegen Lohnrückstand, Altersarmut und mangelnde Gleichheit in Politik und Wirtschaft hilft. Auch die Behauptung, Münchner Kitas würden weder Fleisch noch Wurst anbieten, ist schlichtweg falsch. Das gilt auch für die Schreckensmeldung, die ARD wolle keine Winnetou-Filme mehr zeigen, weil das Wort „Indianer“ falle. Wahrer Grund ist der Übergang der Senderechte auf das ZDF. Besonders pikant ist der Einsatz für einen frauenverachtenden Bierzelthit, der eine „geile Puffmutter“ verherrlicht. Wird das auch für den eben erst mit Video vorgestellten Nachfolgesong gelten, in dem es um – hier sträubt sich mir die Feder - „bumsbare“ Nonnen geht? Gehört das auch zum christlich-konservativen Wertebestand, den man verteidigen muss – noch dazu in einem Land, in dessen Amtsstuben Kreuze hängen und dessen Schutzheilige, die Gottesmutter Maria, als Patrona Bavariae verehrt wird? Ist das noch „trendy und traditionell“ oder schon blasphemisch und bigott?

Das gefährliche Feindbild

Dass es im Wahlkampf Zuspitzungen, Übertreibungen und verbale Entgleisungen gibt, ist nicht neu. Auch ein bewährtes Feindbild gehört dazu. Aber warum nimmt man den rechtspopulistischen Kulturkampf sogar in ein Grundsatzprogramm auf, das ein nachhaltiger Kompass für viele Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte sein soll? Will man wirklich gemeinsame Sache mit dem Gedankengut von nationalen und internationalen Rechtspopulisten und Rechtsradikalen machen? Soll die im Oktober 2016 von Viktor Orban in München verkündete „in Europa einzigartige Waffenbrüderschaft“ wieder aufleben? Hat die Partei nicht schon einmal in den Abgrund geschaut, als sie ein rechtes Stinktier überstinken wollte?

Die CSU hat es nicht nötig, sich auf diese Weise bei Wählern, die rechten Ideen zuneigen, anzubiedern. Sie ist in Bayern als Regierungspartei alternativlos, weil sie es auch in den Krisen der Vergangenheit immer verstanden hat, als christliche und soziale Volkspartei nicht nur den Wohlstand, sondern auch den Zusammenhalt der Bevölkerung zu sichern. Es kann ihr in der anstehenden Landtagswahl sogar gelingen, wie die SPD im Saarland mit 43,5 Prozent die absolute Mehrheit der Sitze zu erringen, wenn der Anteil der sonstigen, nicht im Parlament vertretenen Parteien nur genügend groß ist. Doch dazu braucht es nicht das Menetekel eines angeblichen „linken Kulturkampfs“.
(Rudolf Hanisch)

(Der Beitrag stammt vom Autor des Buches „CSU in der Krise – eine Volkspartei am Scheideweg“. Er war 2005 bis 2009 Vorstandsvize der BayernLB und zuvor unter Ministerpräsident Edmund Stoiber Staatskanzleichef.)

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