Politik

„Dilettantismus“, „Murks“, „Spätsozialismus“: Ludwig Spaenle ist nach Kräften bemüht, Udes Ideen zum G8 abzukanzeln. (Foto: dapd)

16.03.2012

"Was Ude will, ist Retro-Murks"

Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) über die Option, wieder neun Jahre lang das Gymnasium zu besuchen, Ganztagsangebote und Bildungsgerechtigkeit

Erst geißelte Ludwig Spaenle den Vorstoß des Münchner OB Christian Ude (SPD) als grandiosen Unsinn, dann präsentierte er ein ganz ähnliches Konzept: Bayerische Gymnasiasten sollen künftig wählen können, ob sie nach acht oder neun Jahren Abitur machen. Wir sprachen mit Spaenle über die Details. BSZ: Herr Spaenle, Gymnasiasten sollen künftig wählen können, ob Sie nach acht oder neun Jahren Abitur machen. Welche Vorschläge von Münchens OB Christian Ude gefallen Ihnen sonst noch?
Spaenle: Ach was, Ude schlägt einen bildungspolitischen Retro-Murks vor, er will unter einem Dach ein neun- und achtjähriges Gymnasium etablieren – mit einem Doppel-Jahrgang mit unterschiedlichen Lehrplanansätzen. Das wäre für das bayerische Gymnasium eine Tortur und widerspricht schlichtweg den geltenden Rechtsvorschriften und den Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz. Deshalb bleibt es in seiner Struktur unverändert. Unsere Idee ist, dass Schüler in der Mittelstufe freiwillig ein zusätzliches Jahr einlegen können. BSZ: Aber Ude wollte doch genau das: Schüler sollen zwischen G8 und G9 wählen können.
Spaenle: Das ist Gaukelei. Wir gehen einen völlig anderen Weg: Wir schauen auf den einzelnen Schüler und schrauben nicht am System herum. Der Unterschied ist: Es werden einzelne Schüler diese Möglichkeit in Anspruch nehmen, wann sie es brauchen. Die Konzeption des Gymnasiums bleibt auf acht Jahre angelegt. BSZ: Wo bleibt denn die individuelle Förderung, wenn Schüler einfach eine Klasse wiederholen?
Spaenle: Eine Möglichkeit ist, dass in den sogenannten Intensivierungsstunden genau die Fächer unterrichtet werden, in denen die jungen Leute Unterstützung brauchen. Die zweite ist, dass das Instrument den Schülern Auslandsaufenthalte ermöglicht. Seit der Einführung des G8 verzeichnen wir einen Rückgang. Und eine dritte Überlegung betrifft die sogenannten Einführungsklassen, die es bereits an 50 Gymnasien für Schüler mit einem mittleren Abschluss gibt. Man könnte überlegen, diese auch für Gymnasiasten, die sich auf die Oberstufe intensiv vorbereiten wollen, zu öffnen. Unsere Überlegungen unterscheiden sich also gänzlich von Udes dilettantischem Ansatz. Im Gespräch mit Lehrern, Eltern und Schüler werden wir die Ideen konkretisieren. BSZ: Sie wollen aber auch, dass Intensivierungsstunden verstärkt für Kernfächer genutzt werden, wo bleibt da Zeit für individuelle Förderung?
Spaenle: Wir entwickeln gegenwärtig das Gymnasium auf drei Säulen behutsam weiter. Ein Instrument der ersten Säule ist die verstärkte Nutzung der Intensivierung der Kernfächer. Ein anderes ist der intensive Gebrauch des gebundenen Ganztagsmodells. Wir wollen im kommenden Schuljahr ein knappes Drittel der Gymnasien damit ausstatten. Die zweite große Säule ist die umfassende Analyse der Ergebnisse der Lehrplanuntersuchung. Es steht fest, dass wir an bestimmten Stellen moderate Veränderungen vornehmen werden. Die dritte Säule ist die Sicherstellung der Unterrichtsversorgung. Hier werden wir nicht nur mehr Mittel zur Verfügung stellen, sondern auch zwei Anregungen aus den Verbänden aufgreifen: Die integrierte Lehrerreserve und die Bereitstellung eines erhöhten Budgets, das die Gymnasien selber verwalten können. Dazu wird es jetzt Modellversuche geben. Wenn wir alle drei Säulen stärken, können die Schüler die Vorzüge des achtjährigen Gymnasiums besser nutzen.

"Für alle dasselbe – das wäre spätsozialistische Politik"

BSZ: Wie erklären Sie sich, dass so große Sehnsucht nach dem G9 herrscht?
Spaenle: Ich habe im ersten Regeljahrgang in der neuen Kollegstufe Abitur gemacht. Und damals war es ganz ähnlich: Die Schulfamilie hat dem alten Gymnasium nachgetrauert. Solche Einschnitte in eine Schulform gehen bis zur Wurzel und stehen dem Wunsch entgegen, dass man das, was man kennt, behalten will. Auch deshalb sind eine gewisse Verlässlichkeit und Ruhe so wichtig.

BSZ: Schüler und Lehrer klagen über immer mehr Stress. Ist das G8 nur als Ganztagsmodell machbar?
Spaenle: Für alle dasselbe – das wäre spätsozialistische Politik des 20. Jahrhunderts. Ich glaube, dass eine größere Zahl von Gymnasien diese Option anbieten sollte, weil der Bedarf an gebundenen Ganztagszügen steigt. Aber Schüler haben unterschiedliche Begabungen und Lerngeschwindigkeiten und benötigen deshalb auch unterschiedliche Wege. Das heißt, wir werden hier bedarfsorientiert vorgehen. Die Schülerinnen und Schüler sollen über ihre Lernzeiten entscheiden. BSZ: Die aktuelle Bertelsmann-Studie zeigt Erschreckendes: Die Abitur-Chancen von Akademikerkindern sind in Bayern 6,5-mal größer als die von Kindern mit armen Eltern oder Migrationshintergrund.
Spaenle: In vielen Bereichen sind wir bundesweit die besten, etwa in der Vermittlung von Kompetenzen an die Schüler. Und: In Bayern und Baden-Württemberg verlassen auch die wenigsten Schüler ihre Schule ohne Abschluss – das heißt, das Bildungswesen funktioniert. Aber wir sagen auch, wo wir Dinge verbessern müssen. Und hinsichtlich der Chancengleichheit auf Bildungserfolg gibt es Handlungsbedarf. In der von Ihnen genannten Zahl sind allerdings nicht die jungen Menschen enthalten, die ihre Fachhochschulreife oder die allgemeine Hochschulreife über die beruflichen Möglichkeiten, vor allem die FOS und BOS machen – und das sind immerhin 43 Prozent. BSZ: Ist die soziale Zusammensetzung dort denn ausgeglichener?
SPAENLE: Die Quote der Schüler mit Migrationshintergrund an FOS und BOS ist genauso hoch wie die an Grundschulen, entspricht also dem Bevölkerungsschnitt. Aber natürlich müssen wir auch die klassischen Bildungswege für Kinder mit Migrationshintergrund öffnen. Das wichtigste Stichwort ist hier: die Förderung von Sprachkompetenz.
(Interview: Angelika Kahl)

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