Politik

Der Zug aus Prag rollte am 1. Oktober 1989 um 6.14 Uhr in den Hofer Hauptbahnhof ein. (Foto: dpa/Frank Leonhardt)

27.09.2019

"Wildfremde Menschen fielen sich in die Arme"

Robert Knieling, Ex-Bahnhofsvorsteher des Hofer Hauptbahnhofs, über seine Erlebnisse am 1. Oktober 1989, als der erste Sonderzug mit DDR-Flüchtlingen aus Prag eintraf

Der Hauptbahnhof im oberfränkischen Hof gehört sicher nicht zu den wichtigsten Verkehrsknotenpunkten des Landes. Doch vor 30 Jahren stand er im Blickpunkt der Weltgeschichte, als dort per Zug die DDR-Flüchtlinge aus Prag eintrafen. Zeitzeuge Robert Knieling (80) erinnert sich.

BSZ Herr Knieling, wie war die Stimmung an der Grenze in den letzten Monaten vor der Ausreise der Flüchtlinge aus der Botschaft?
Robert Knieling Als stellvertretender Dienststellenleiter beim Grenzbahnhof zur DDR habe ich in dieser Zeit viele Gespräche mit Zugbegleitern der Deutschen Reichsbahn geführt. Im Vordergrund stand immer deren Angst, dass die Polizei und der Staatssicherheitsdienst die Demonstrationen nach den Friedensgebeten mit Waffengewalt niederschlagen könnten. Einer der Reichsbahnkollegen ließ sich zu der Aussage hinreißen: „So viel Munition haben die nicht, um alle Demonstranten zu erschießen.“

BSZ Wie haben Sie selbst diese Zeit erlebt?
Knieling Mit meiner Frau war ich im September im Schwarzwald in Urlaub. Am 30. September, auf der Rückfahrt, haben wir im Radio keine Nachrichtensendung verpasst. Die Prager Botschaft der Bundesrepublik war mit 6000 DDR-Flüchtlingen, darunter viele Kinder, völlig überfüllt. Als wir daheim waren, habe ich den Fernseher eingeschaltet und live die Worte von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) gehört: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“ Den Rest des Satzes übertönte der Jubel der Flüchtlinge. Es war kurz vor 19 Uhr.

BSZ Haben Sie geahnt, was auf Sie zukommen wird?
Knieling Aus den Medien konnte man in den Tagen zuvor entnehmen, dass, wenn einer Ausreise seitens der DDR-Regierung überhaupt zugestimmt wird, diese über das Hoheitsgebiet der DDR erfolgen würde. Das bedeutete: Alle Züge gehen über Dresden nach Hof.

BSZ Was war Ihre Reaktion?
Knieling Ich setzte mich ins Auto und fuhr sofort zum Bahnhof. Im Büro des Wachenleiters der Bundespolizei wurde ein Einsatzteam zusammengerufen. Dabei waren leitende Beamte des Bundesgrenzschutzes, der Leiter der Regionalabteilung der Deutschen Bundesbahn, der Leiter der Bahnpolizei, der Dienststellenleiter des Bahnhofs und ich, sein Stellvertreter.

BSZ Was waren die ersten Maßnahmen?
Knieling Im kleinen Warteraum am Bahnsteig 1 wurde ein Ärztezimmer eingerichtet und die Kantine wurde zum Ruhe- und Versorgungsraum umfunktioniert – vor allem für Eltern mit kleinen Kindern. Was in dieser Nacht geschehen würde, sprach sich in Windeseile in der ganzen Umgebung herum. Der lokale Sender Radio Euroherz bat die Bürger aus Hof und Umgebung um Kleiderspenden und Lebensmittel. Mehrere Hundert ehrenamtliche Mitarbeiter der verschiedenen Hilfsorganisationen kamen zum Bahnhof.

BSZ Wie ging es derweil in Prag weiter?
Knieling Gegen 19.30 Uhr, etwa eine halbe Stunde nach den Worten Genschers vom Balkon der Botschaft, brachte man die ersten Flüchtlinge zu den von der Deutschen Reichsbahn auf einem Prager Bahnhof bereits bereitgestellten Sonderzügen. Daraus kann man schließen, dass die Regierung der DDR bereits vorher der Ausreise zugestimmt hatte – vielleicht im Hinblick auf den bevorstehenden 40. Nationalfeiertag, den 7. Oktober 1989.

BSZ Und wie sah es zu dieser Zeit in Hof aus?
Knieling Auf dem Bahnhofsgebiet hatten sich inzwischen viele Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen eingefunden. Die ganze Welt sollte das Eintreffen des ersten Sonderzugs aus Prag miterleben. Wir erfuhren, dass es auf den Strecken der Deutschen Reichsbahn durch die DDR immer wieder zu tumultartigen Szenen kam. Viele Menschen haben versucht, auf die Züge aufzuspringen und in den Westen zu fliehen – besonders an den vielen Langsamfahrstellen mit den maroden Brücken und Gleisen.

BSZ Was geschah nach der Ankunft des ersten Zugs?
Knieling Der Zeiger der Uhr am Bahnsteig 1 sprang auf 6.14 Uhr, als der erste Sonderzug aus Dresden am Hauptbahnhof Hof zum Stehen kam. Es spielten sich erschütternde Szenen ab. Wildfremde Menschen fielen sich in die Arme, auch ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Der Leiter des Diakonischen Werks in Hof, Pfarrer Friedrich Sticht, übernahm die Durchsage der Suchmeldungen. Die fünf Sonderzüge kamen etwa im Abstand von zwei Stunden und konnten nach zwei Stunden weiterfahren zu den Aufnahmelagern in Gießen, Hammelburg, Schwandorf, Coburg, Pöcking und Nürnberg.

BSZ In welchem Zustand waren die ankommenden DDR-Flüchtlinge?
Knieling Nach zum Teil notwendiger ärztlicher Versorgung erhielten alle eine warme Mahlzeit, Obst und bei Bedarf auch warme Kleidung. Viele waren bereits seit drei Monaten in der Prager Botschaft und hatten nur Sommersachen zum Anziehen. Am Abend löste sich die Einsatzzentrale auf.

BSZ Wie ging es dann weiter?
Knieling Innerhalb von 24 Stunden waren schon wieder mehr als 1000 DDR-Bürger in der Prager Botschaft. Es war also in den nächsten Tagen wieder mit Sonderzügen zu rechnen. In Absprache mit dem Bundesinnen- und dem Bundesverkehrsministerium sowie der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbahn wurden aus dem süddeutschen Raum rund 100 Reisezugwagen nach Hof gefahren. Die Deutsche Reichsbahn hatte nämlich angeordnet, dass ihre Wagen bei eventuellen weiteren Sonderzügen nur bis Hof fahren dürfen.

BSZ Was bedeutete das später für den Ablauf auf dem Hofer Hauptbahnhof?
Knieling Der Rangierbetrieb und der Güterverkehr wurden stark eingeschränkt, damit die rund 2600 Meter langen Reisezugwagen im Güterbahnhof abgestellt werden konnten. In den Nachmittagsstunden des4. Oktober traf sich das Einsatzteam wieder im Büro des Wachenleiters der Bahnpolizei. Diesmal war vom Bundesinnenministerium der Staatssekretär Horst Waffenschmidt (CDU) mit dabei, der fast stündlich eine Pressekonferenz gab. Denn auf Schritt und Tritt begegnete man auf dem Bahnhof Journalisten und Kamerateams. Zehn Fernsehgesellschaften und 400 Zeitungsreporter bevölkerten die Bahnsteige. Neues zu erfahren war schwierig, es gab nur eine Telefonverbindung zum Fahrdienstleiter im ostdeutschen Grenzbahnhof Gutenfürst.

BSZ Das heißt, Sie wussten nicht, wann die neuen Züge aus Prag kommen würden?
Knieling Nein. Hunderte von ehrenamtlichen Helfern standen bereit, alle wollten bei der Versorgung und Betreuung der Ankömmlinge mithelfen. Gegen 2 Uhr in der Nacht meldete Gutenfürst, dass die Deutsche Reichsbahn noch keine Sonderzüge von den Tschechen übernommen habe. Irgendwann in der Nacht platzte dem Staatssekretär der Kragen, er ließ Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn aus dem Bett klingeln und bat ihn, sich einzuschalten. Das tat der dann auch. Gegen 3.30 Uhr erfuhren wir dann, dass ab 5.30 Uhr alle 20 Minuten ein Sonderzug mit etwa 800 bis 1000 Flüchtlingen ankommen werde. Wegen der Tumulte am Dresdner Hauptbahnhof verzögerte sich die Weiterfahrt nochmals um eine Stunde. Um sicherzugehen, dass diesmal niemand unterwegs aufspringen würde, hatte die Staatssicherheit alle Türen verschlossen.
(Interview: André Paul)

Bild: Robert Knieling (80) war von 1974 bis 1991 am Hauptbahnhof in Hof tätig. (Foto: BSZ)

Kommentare (1)

  1. Jürgen Stader am 29.09.2019
    Beeindruckende und authentische Schilderungen einer spannenden Geschichtsepoche. Hof stand quasi über Nacht im Mittelpunkt des Weltgeschehens. Mit Bravour haben die örtlichen Hilfskräfte und die Hofer Bevölkerung hier humanitär geholfen. Eine emotionale Zeit! Genscher gab sozusagen das Abfahrtssignal für die Züge in die Freiheit - nach Hof!
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