Politik

Martin Walter, Lehrer an der Grund- und Mittelschule im bayerischen Margetshöchheim, übt mit den Flüchtlingskindern Ahmad und Muhammad deutsche Wörter und Begriffe. (Foto: dpa)

08.07.2016

"Wir sind keine Traumaexperten"

Fast jedes zweite Flüchtlingskind leidet unter psychischen Erkrankungen – Lehrer fühlen sich von der Staatsregierung im Stich gelassen

Selbst wenn die Sonne grell scheint, darf Birgit Dittmer-Glaubig im Klassenzimmer die Vorhänge nicht zuziehen: „Einige Flüchtlingskinder erinnert die Dunkelheit an die Bomben in ihrer Heimat, und sie fangen an zu weinen“, erzählt sie. Dittmer-Glaubig ist Konrektorin der Münchner Mittelschule an der Simmernstraße in München und täglich mit posttraumatischen Belastungstörungen geflüchteter Kindern konfrontiert. Ihre Kollegen berichten von Kindern, die schluchzend auf den Tischen liegen, plötzlich schreiend aus dem Klassenzimmer rennen, von ihren Eltern abgeholt werden wollen oder ständig über Kopf- beziehungsweise Bauschmerzen klagen. „Ich kann die Kinder zwar trösten“, sagt Dittmer-Glaubig. Sie wisse aber gar nicht richtig wie. „Die Hilflosigkeit macht mich sehr betroffen.“ Das Problem: Lehrer sind keine Traumaexperten.

In Bayern leiden nach Angaben des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) rund 40 Prozent der 23 000 Flüchtlingskindern an den Grund- und Mittelschulen unter posttraumatischen Belastungsstörungen – 3200 davon sind so genannte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die Gründe dafür sind vielfältig: Häufig ist die Fluchtursache ausschlaggebend, also zum Beispiel Mord an den Eltern oder Geschwistern. In anderen Fällen ist es die Flucht selbst, bei der die Kinder den eigenen oder den Tod anderer Menschen vor Augen hatten. Manchmal ist auch die Traumatisierung des Ankommens ursächlich, wenn beispielsweise ein dunkelhäutiges Kind plötzlich nur unter hellhäutigen Kindern ist.

In den fünf speziellen Übergangsklassen zur Deutschförderung an der Simmernschule sind 30 Prozent Flüchtlingskinder. Das macht rein rechnerisch allein an dieser Schule 15 traumatisierte Schüler, die häufig Analphabeten sind und weder deutsch noch englisch sprechen. Sie zusammen mit Kindern von beispielsweise Gastprofessoren zu unterrichten, stellt Lehrer vor eine immense Herausforderung. Auf die Frage, wie er denn bitte die Schüler seiner Übergangsklasse zwischen acht und 18 Jahren unterrichten soll, antwortete der Schulrektor einer bayerischen Schule: „Dir wird schon was einfallen“, erzählt ein Lehrer, der anonym bleiben möchte. Hinzu kommt: Im ländlichen Raum gibt es diese speziellen Klassen nicht, und die Schüler werden in Regelklassen unterrichtet.

Jedem kann geholfen werden

„Ein Schutzfaktor vor Traumata ist die Verbalisierungsfähigkeit“, erzählt Willi Butollo vom Münchner Institut für Traumtherapie (MIT). Wenn allerdings schon Deutsche mit ihren psychischen Problemen überfordert sind, „wie soll dann ein Kind damit umgehen, das der Sprache nicht mächtig ist?“, fragt er. Grundsätzlich könne aber jeder Mensch neue Kompetenzen erarbeiten und so sein Selbstwertgefühl stabilisieren. Im Auftrag des BLLV schult Butollo daher jetzt Lehrer im Umgang mit traumatisierten Kindern unter besonderer Berücksichtigung reduzierter Sprachfähigkeiten. Dadurch soll ihnen die Angst genommen werden, denn Sicherheit und Stabilität der Helfer sei ein wichtiger Faktor. „Lehrer brauchen sich nicht schuldig fühlen, wenn das Trösten nicht klappt“, betont er.

Mit diesem Seminar soll auch aufgezeigt werden, wie einfach etwas für die Lehrer getan werden könnte. Denn: „Wir fühlen uns von der Staatsregierung im Stich gelassen“, schimpft BLLV-Ehrenpräsident Klaus Wenzel. „Eine Schule ist kein Ort für Therapien“, meint hingegen ein Sprecher von Kultusminister Ludwig Spaenle (CSU) auf Anfrage der Staatszeitung. Bei Traumata müssten entsprechend außerschulische psychologische, psychotherapeutische und medizinische Fachdienste eingebunden werden. Außerdem verweist das Ministerium auf die Beratungslehrkräfte, Schulpsychologen und die Fortbildungen der Mitglieder des „Kriseninterventions- und -bewältigungsteams bayerischer Schulpsychologinnen und Schulpsychologen“. Allerdings sind viele davon selbst Klassenlehrer und haben für Beratungen höchstens sechs Stunde pro Woche Zeit.

Der BLLV fordert daher mehr Schulpsychologen und Fortbildungen, wie es sie unter Schwarz-Grün in Hessen gibt. Außerdem sollen weniger die Schulaufsichtsbeamten, sondern die Schulleiter Entscheidungen treffen können. Darüber hinaus müsste ein temporäres Zwei-Lehrer-Prinzip mit Dolmetschern und Sonderpädagogen angeboten werden. Im Rot-Rot-Grünen Thüringen schult beispielsweise das Institut für Lehrerbildung Erzieher, Schulpsychologen, Lehrkräfte und Schulleiter zum Thema Traumata bei Flüchtlingskindern. Das bayerische Kultusministerium erteilt allerdings auch diesen Forderungen eine Absage: Es seien gerade erst 1079 Planstellen geschaffen und zehn Millionen Euro für Projekte zum Spracherwerb oder zur interkulturellen Arbeit bereitgestellt worden. Dazu kommt: „Ein gegeneinander Aufrechnen von Mitarbeitern der Schulaufsicht und anderen pädagogischen Kräften halten wir für unfair und unbegründet.“

Unterstützung erhält der BLLV dagegen von SPD-Fraktionsvizin Margit Wild. „Auf bayerische Lehrkräfte kommen Herausforderungen zu, mit denen wir sie nicht allein lassen dürfen“, erklärt die Abgeordnete. Ihre Fraktion habe die Staatsregierung bereits vor einem Jahr aufgefordert, entsprechende Fortbildungsangebote anzubieten. Dass es diese immer noch nicht gebe, sei „fahrlässig“. Auch der bayerische Flüchtlingsrat kritisiert, dass auf die Erfordernisse der Flüchtlingskinder bei der Einstellung von Lehrern nur unzulänglich eingegangen wird. Ehrenamtliche Arbeit reiche nicht aus, sagt Stephan Dünnwald der BSZ. „Junge Flüchtlinge, auch solche, die nicht offenkundig traumatisiert sind, brauchen Zuwendung, Aufmerksamkeit, ein stabiles Lern- und Lebensumfeld.“ Das Kabinett müsse daher das nötige Geld bewilligen.

Das wichtigste Anliegen des BLLV kostet allerdings keinen Cent. „Die Politik muss eine andere gesellschaftliche Atmosphäre schaffen“, verlangt Ehrenpräsident Wenzel. Als Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) im Mai das Ende der Willkommenkultur ausgerufen habe, sei das eine „Ohrfeige“ für alle gewesen, die sich Woche für Woche für die Integration von Menschen einsetzen. „Die Mühen der oftmals auch vom Lehrpersonal ehrenamtlich geleisteten Integration“, bestätigt Dünnwald, „werden so zum blöden Gutmenschentum herabgewürdigt.“ (David Lohmann)

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