Politik

Allein in München gibt es rund 550 Obdachlose, weitere 8250 Männer und Frauen leben in sogenannten Übergangswohnheimen in der Landeshauptstadt. (Foto: dpa)

31.08.2018

Wohnungslos trotz Job

Bayerns Staatsregierung will die steigende Obdachlosigkeit bekämpfen und liegt dabei im Clinch mit Sozialverbänden

Da ist die junge Friseurin mit zwei kleinen Kindern aus dem Münchner Umland, deren Ex-Mann keinen Unterhalt zahlt, die ihre Wohnung wegen Eigenbedarfs verliert und schließlich in der Obdachlosenunterkunft landet. Da ist der anerkannte Asylbewerber aus dem Irak, der in Nürnberg immer noch in einer Gemeinschaftsunterkunft ausharren muss, weil er keine bezahlbare Wohnung findet. Oder die Rentnerin, die sich nach dem Tod ihres Lebensgefährten die Miete nicht mehr leisten kann.

Wohnungslosigkeit in Bayern hat viele Gesichter. Und die Zahlen steigen. In Nürnberg registrierte man 2014 noch 1550 Menschen, die keinen eigenen Mietvertrag hatten und deshalb „ordnungsrechtlich untergebracht“ waren, sagt Reinhard Hofmann, Leiter der Abteilung für Wohnungsfragen und Obdachlosigkeit im städtischen Sozialamt. Jetzt seien es 2200. Hinzu kommen 8300 Haushalte, die als wohnungssuchend gemeldet sind. „Das summiert sich auf rund 12 000 Menschen, die in Nürnberg nicht adäquat untergebracht sind“, bilanziert Hofmann.

In München zeichnet sich ein noch schlimmeres Bild ab. Fast 8800 Männer und Frauen sind hier als wohnungslos registriert, teilt Edith Petry, Sprecherin des Münchner Sozialreferats, mit. Vor zehn Jahren waren es knapp 2500.

Das Erschreckende: Es sind auch Menschen betroffen, die ein eigenes Einkommen haben – das aber wegen der explodierenden Mieten nicht ausreicht. Im Landkreis München beispielsweise könnten 52 Prozent seiner Klienten einen eigenen Lohn oder Lohn mit zusätzlichen Leistungen vorweisen, sagt Stefan Wallner, Leiter der Wohnungsnotfallhilfe des AWO-Kreisverbands München-Land.

Jetzt, wenige Wochen vor der Landtagswahl, haben Bayerns Ministerpräsident Markus Söder und Sozialministerin Kerstin Schreyer angekündigt, dass der Freistaat bessere Hilfsangebote schaffen will. Von einer Stiftung ist die Rede, die man gemeinsam mit Kirchen, Kommunen und Verbänden gründen will. Auch einen Runden Tisch hat man eingerichtet, damit Kirchen und Wohlfahrtsverbände sich austauschen können. In München wurde ein „mobiler Lotsenpunkt“ eingerichtet, ein Pilotprojekt des Sozialministeriums. Dabei fahren zwei Sozialpädagoginnen durch München, um Kontakte zu Obdachlosen zu knüpfen und herauszufinden, was sie brauchen.

Wohnungslos ist nicht dasselbe wie obdachlos

Ob der „mobile Lotsenpunkt“, der auf ein Jahr befristet ist, tatsächlich sinnvoll ist, bezweifeln Wohlfahrtsverbände allerdings. „Ich sehe darin nicht unbedingt einen Mehrwert“, sagt Franz Herzog, Leiter der Teestube „komm“ des Evangelischen Hilfswerks in München, ein Tagestreffpunkt für Obdachlose. „Diese Menschen haben oft eine schwierige Lebenskarriere hinter sich. Da ist es nicht damit getan, mal mit einem Auto hinzufahren und zu informieren, sondern es muss eine langfristig angelegte Arbeit sein.“ Zudem könne München bereits „ein gut aufgestelltes System“ vorweisen: etwa dank der Streetworker der Teestube „komm“, der Straßenambulanz und der Aktion „Möwe Jonathan“ der Katholischen Hochschulgemeinde, bei der ein mobiles Team Obdachlose täglich mit Essen und Kleidung versorgt. Auch im Sozialreferat der Stadt München ist man alles andere als begeistert vom Projekt des Sozialministeriums, das die bestehenden Strukturen offenbar ignoriert. Wichtig wäre ein gemeinsames Vorgehen, sagt Edith Petry.

Thomas Beyer, Vorsitzender der Arbeiterwohlfahrt in Bayern, hat ohnehin den Eindruck, dass man im Sozialministerium wenig Ahnung von dem Thema habe. Das zeige sich zum Beispiel daran, dass die Begriffe „obdachlos“ und „wohnungslos“ munter durchein-andergeworfen würden, obwohl sie nicht identisch seien. Nach einer Definition der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gelten Menschen als „obdachlos“, wenn sie keinen festen Wohnsitz haben, in Parks, unter Brücken, in Wärmestuben oder Notschlafstellen übernachten. Wer hingegen in Übergangswohnheimen und -wohnungen, Asylen und Herbergen lebt, in denen keine Dauerwohnplätze zur Verfügung stehen, wird als „wohnungslos“ eingestuft. Wie wichtig diese Unterscheidung ist, belegen Zahlen: Von den als wohnungslos registrierten 2200 Menschen in Nürnberg gelten nur rund 50 als obdachlos. In München geht man von rund 550 Obdachlosen aus.

Viel wichtiger als ein „mobiler Lotsenpunkt“ wäre eine statistische Erhebung, um beim Thema Obdach- beziehungsweise Wohnungslosigkeit endlich mehr Klarheit zu gewinnen, regt Beyer an. Das aber lehnt das Sozialministerium ab. „Wie wollen Sie die Zahl der Obdachlosen erheben?“, fragt Ministeriumssprecherin Marion Göhlert. „Wichtiger als Statistiken sind doch praktische Hilfen.“ In Nordrhein-Westfalen allerdings werden derartige Erhebungen seit Jahren durchgeführt. „Wenn man die Zahlen haben wollte, wäre das mit wenig Aufwand möglich“, sagt der AWO-Landesvorsitzende. Stattdessen konzentriere sich die Staatsregierung auf das Thema Obdachlosigkeit – obwohl die Wohnungslosigkeit „politisch das wesentlich größere Problem“ sei: „Das betrifft in Bayern Tausende.“

Der Knackpunkt: Es fehlt an bezahlbaren Wohnungen. Und es gibt immer weniger Sozialwohnungen. In München beispielsweise ist der Bestand an geförderten Wohnungen von 86 000 im Jahr 2003 auf 74 700 im vergangenen Jahr gesunken. In anderen Städten sieht es ähnlich aus. „Wir verwalten die Not“, sagt Reinhard Hofmann vom Münchner Sozialamt. „Wichtig wäre eine staatliche Wohnungsbaugesellschaft, die preisgünstige Wohnungen errichtet“, fordert Beyer deshalb.

AWO-Mann Wallner fordert daneben unterstützende Einrichtungen, also Notunterkünfte mit Beratung: „Ein neuer Wohnraum ist oft nur eine Baustelle, um bei einem neuen Vermieter überhaupt eine Chance zu haben.“ Für solche Einrichtungen fehlt es jedoch an Gebäuden. Auch in Wahlkampfzeiten. (Brigitte Degelmann)

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