Politik

Charlotte Knobloch bei einem Gedenkakt im Januar. Sie hatte Glück und entging durch ihre Flucht nach Arberg den Nazi-Schergen. (Foto: Armin Weigel/dpa)

28.04.2020

Zeitzeugen erinnern an Holocaust

Gedenkfeiern fallen in der Corona-Krise aus. Doch 75 Jahre nach dem Ende des Nazi-Regimes ist das Erinnern wichtiger denn je. Der Rechtsextremismus erstarkt, und die Zeitzeugen sind meist hochbetagt. Noch erheben sie ihre mahnende Stimme, berichten wie es damals war

Fast drei Jahre lang war sie Lotte Hummel, uneheliche Tochter einer Hausangestellten, die auf einem Bauernhof in Mittelfranken aufwächst. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bekommt die damals 12-Jährige ihre Identität zurück: Sie ist Tochter des jüdischen Rechtsanwalts Fritz Neuland und heute bekannt als Charlotte Knobloch. "Ich war so glücklich, dass ich jetzt endlich sagen konnte, wer ich eigentlich bin", erinnert sich die heute 87-Jährige an den Tag, als die US-Amerikaner das Dorf Arberg befreiten und den Kindern Bonbons zuwarfen.

Gut 75 Jahre ist das her, so wie die Befreiung der Häftlinge in den Konzentrationslagern und die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht, die das Ende des NS-Terrorregimes besiegelte. Sie jährt sich am 8. Mai.

Knobloch hatte Glück und entging durch ihre Flucht nach Arberg den Nazi-Schergen. Nach dem Krieg blieb sie in München und ist seit 1985 Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Einige Jahre war sie auch Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Kämpferisch setzt sie sich dafür ein, die Demokratie zu bewahren - ebenso wie die Erinnerung an den Holocaust, dem sechs Millionen Juden zum Opfer fielen.

Juden und andere Verfolgte des Terrorregimes gingen durch die Hölle. Der Krakauer Ben Lesser etwa war im KZ Buchenwald und sollte im Frühling 1945 mit einem Güterzug nach Dachau gekarrt werden. Eine wochenlange Odyssee, eingepfercht und mit entsetzlichem Hunger und Durst, während Menschen ringsum elend starben. "Wir schienen auf einem stinkenden See des Todes zu schwimmen", notierte er in seinen Memoiren. Es war der stechende Geruch, der US-Soldaten auf den Todeszug aufmerksam machte, als sie sich am 29. April 1945 dem Konzentrationslager Dachau näherten, um es zu befreien. Die Ursache fanden sie bald: Zugwaggons voller lebloser Körper.

Bei der Befreiung: zu schwach zum Jubeln

Als Lesser von den Soldaten gerettet wurde, war der damals 16-Jährige bis auf die Knochen abgemagert. Während andere Häftlinge jubelten, waren er und andere dafür zu schwach. "Die dünnen, toten Skelette, das waren die Juden." Menschen, die alles verloren hatten, Familie, Freunde, ihr Zuhause. "Es gab niemanden, der darauf wartete, uns endlich in die Arme schließen zu können."

Auch Ernst Grube, Präsident der Lagergemeinschaft Dachau und Vorsitzender des Kuratoriums der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, hat schlimme Erinnerungen. Er war zwölf Jahre alt, als er im Ghetto Theresienstadt von den Russen befreit wurde. Die Rotarmisten seien auf Lastwagen gekommen. "Ich bin auf so einen Wagen gesprungen und habe einen von ihnen umarmt. Es war ein Miteinander, es war der Moment des Begegnung."

Ende Juni 1945 war Grube wieder in München, wo ihn sein Vater glücklich in die Arme schloss. "Zurückkommend war für mich das Wichtigste Schule. Ich durfte ja bei den Nazis nicht in die Schule gehen." In der Folge hatte er intensiven Kontakt mit ehemaligen Häftlingen aus Buchenwald und Dachau. "Was waren die Erwartungen der Überlebenden? Frieden, Freiheit und nie wieder Krieg. In dieser Gedankenwelt bin ich - mit meinen eigenen Erlebnissen, mit meinen Erfahrungen älter geworden", sagt der heute 87-Jährige, der wegen seines Engagements in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) ins Visier des bayerischen Verfassungsschutzes geriet.

"Erinnerungen wach halten, das Sprechen über meine frühe Biografie - das gehört zu meiner Lebensaufgabe", sagt Grube. Kindern und Jugendlichen nahe bringen, was es heißt, in einem Lager zu leben sei auch mit Blick auf aktuelle Flüchtlingsströme eine wichtige Aufgabe.

Max Mannheimer besuchte noch hochbetagt Schulen

Max Mannheimer, der im Februar 100 Jahre alt geworden wäre, war bis zu seinem Tod 2016 unermüdlich. Noch hochbetagt besuchte er Schulklassen und schob seinen Hemdärmel hoch, um seine Häftlingsnummer herzuzeigen. Er hatte lange gebraucht, ehe er über seine Erlebnisse sprechen konnte. Seinen Enkeln hatte er anfangs erzählt, die auf seinem linken Arm tätowierte Zahl 99728 sei eine Telefonnummer. Nachts aber kamen die Alpträume. Fast seine gesamte Familie war in Auschwitz gestorben, er hatte überlebt. "Vergessen kann man es nie", sagte er einmal.

"Der ganze Zweck meiner Arbeit ist es, zu den nachfolgenden Generationen zu sprechen und sie vor den Gefahren einer Diktatur zu warnen", sagte Mannheimer einmal. Junge Menschen hätten ein überraschendes Interesse an der Nazi-Zeit: "Die Urenkel möchten wissen, weshalb ihre Urgroßeltern so lange einem Massenmörder die Treue halten konnten."

Doch die Zeitzeugen, die von den Schrecken des Holocaust erzählen können, werden weniger. "Ihr Wegfall ist insofern in der Tat eine große Herausforderung", sagt Andreas Wirsching, Leiter des Instituts für Zeitgeschichte (ifz) in München. "Aber auch ohne Zeitzeugen kann Geschichte adäquat vermittelt und kommemoriert werden. Das durch die Forschung bereitgestellte und öffentlich abrufbare Wissen ist extrem groß." So halten Filme, Audioaufnahme und Protokolle vieles fest.

Sorge um Zunahme von Antisemitismus

Zum Jahrestag der KZ-Befreiung von Dachau reisen sonst ehemalige Häftlinge und US-Soldaten als Befreier an. Wegen der Corona-Pandemie wurde die am 3. Mai geplante Gedenkfeier aber abgesagt. Nur die Staatsregierung wird schon an diesem Mittwoch einen Kranz niederlegen. Für die Zeitzeugen sei die Absage fast tragisch, meint Wirsching. "Denn die letzte runde Jahreszahl, die sie erleben werden, hätte in normalen Zeiten noch einmal ein hohes Maß an internationaler Aufmerksamkeit für ihre Geschichte und ihr Leid erzeugt."

Vielen der NS-Opfer geht es auch um die heutige politische Lage, das Erstarken der Rechten, um rechten Terror und darum, dass Vertreter der AfD in den Parlamenten sitzen. "Ich habe große Sorge", sagt Grube und zitiert das Manifest des Internationalen Dachau-Komitees von 1965, eine Art Vermächtnis der Dachau-Häftlinge: Ziel sei es, "alles einzusetzen, damit es nie wieder ein Dachau geben wird - indem man den Nationalsozialismus überall dort bekämpft, wo er wieder auftaucht."

Eine Zunahme von Antisemitismus beschäftigt auch Knobloch. "Ich weiß kein Land in Europa, wo das nicht der Fall wäre. Aber kein Land hat diese Verantwortung wie Deutschland. Vom Land, das den Holocaust ins Werk gesetzt hat, kann man erwarten, dass es den Antisemitismus mit aller Härte bekämpft." Ihr Rat an die Jugend: "Lasst euch in eurem künftigen Leben nicht vorschrieben, wen ihr zu lieben oder wen ihr zu hassen habt. Habt ein mitfühlendes Herz und denkt selbst. Lasst euch nichts einreden."
(Cordula Dieckmann und Sabine Dobel, dpa)

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