Unser Bayern

Siegfried war das dritte Kind von Richard und Cosima Wagner. Er wurde am 6. Juni 1869 in der Schweiz geboren: Die Wagners lebten zwischen 1866 und 1871 auf der Halbinsel Tribschen bei Luzern am Vierwaldstätter See, großzügig unterstützt von König Ludwig II. Nach der Scheidung Cosimas vom Dirigenten Hans von Bülow heirateten Siegfrieds Eltern – Richard Wagner hatte den ersehnten Sohn, der eine Dynastie begründen sollte; er bezeichnete ihn als „Lebensversicherungsanstalt“. Die Aufnahme (Detail) zeigt Siegfried mit seinen Eltern vierjährig. (Foto: SZ Photo)

03.05.2024

Problematisches Erbe

Bayreuther Festspiele vor 100 Jahren: Siegfried Wagner wagte einen Neustart des Sowohl-als-auch

Den meisten Wagner-Freunden ist heutzutage kaum noch bewusst, dass es nicht erst 1951 einen Wiederbeginn der Wagner-Festspiele gab. So schwierig es für Siegfrieds Söhne Wieland und Wolfgang Wagner nach dem Zweiten Weltkrieg war, noch problematischer war der frühere Neustart nach zehnjähriger Pause von 1914 bis 1924. Der entscheidende Unterschied liegt darin, dass jedermann einsah, dass nach der Zeit des Nationalsozialismus neue Wege gefunden werden mussten. Die Wagner-Szene war leer und blieb größtenteils leer. Viele hielten das für finanzielle Not der Wagners, erst allmählich verstand man, dass genau das zum gewählten stilistischen Programm wurde: Entrümpelung (in jeder Beziehung).

Siegfried Wagner allerdings war vor allem damit konfrontiert, dass der „Grüne Hügel“ als Heimat all derer funktionieren sollte, die mit der neuen Zeit haderten, mehr noch: die sich nach der Zeit vor 1914 zurücksehnten, die die Weimarer Republik aus tiefstem Herzen abgelehnt hatten. Auch einige Wagners folgten Verschwörungsmythen und glaubten an die Dolchstoßlegende.

Siegfried Wagners Dilemma

Als der Erste Weltkrieg nach vier Jahren voller Gräuel 1918 endete, stand das Wagner-Theater auf dem Festspielhügel seit 1914 verwaist, verödet und ziemlich einsam in der Gegend – damals noch „vor den Toren“ Bayreuths. Was würde, was sollte nun mit diesem Festspielhaus geschehen? Die letzte komplette Festspielsaison war 1912, 1913 gab es ein übliches „Pausenjahr“. Während buchstäblich die ganze Welt den 100. Geburtstag des Musikgenies Richard Wagner (1813 bis 1883) feierte, blieb die Familie stur bei ihrem Rhythmus: Auf zwei Festspielzeiten folgte ein Sommer ohne Aufführungen, der intensiven Probenarbeit vorbehalten.

Hätte man nur 1913 statt 1914 gespielt, mochte Siegfried Wagner später manches Mal gedacht haben. Doch wer ahnte den Kriegsausbruch, der den Abbruch der Festspiele 1914 nach nur wenigen Vorstellungen erzwang? Von 20 Aufführungen konnten nur acht stattfinden: Die Neuinszenierung Der fliegende Holländer wurde zweimal gezeigt, der komplette Ring nur einmal, dazu zweimal Parsifal. Man schrieb den 1. August, einen Tag später blieb ein vereinsamtes Theater ohne Ensemble und ohne Publikum zurück – obendrein ein riesiger Schuldenberg, der früher oder später abgetragen werden musste, da es einen Passus zu „höherer Gewalt“ damals nicht gab. Egal ob Gagen oder Kartenerlöse, alle offenen Zahlungen mussten geleistet werden. Damit waren alle Rücklagen der letzten Jahre aufgebraucht. Die Wagners waren gesellschaftlich und finanziell angeschlagen, zum ersten Mal wieder seit Jahrzehnten.

Cosimas Erbe

Siegfried (1869 bis 1930) galt zwar als einer der begehrtesten Junggesellen des Kaiserreichs – um diese Tatsache rankten sich jedoch zunehmend Gerüchte. Die Öffentlichkeit fragte sich nicht zum ersten Mal, wohin der Künstler tendierte. Oftmals zeigte er sich als Dandy, der einem Roman von Oscar Wilde entstiegen sein könnte, umgab sich mit jungen Männern, dann erschien er wiederum mit bezaubernden Begleiterinnen. Ein enger Jugendfreund war der englische Pianist und Komponist  Harris gewesen, der starken Einfluss auf den „Fidi“, wie er in der Familie gerufen wurde, ausgeübt hatte. Das Warum wurde damals ausgeblendet, immerhin gab es den Paragrafen 175 – der Prozess um Oscar Wilde 1895 hatte jedoch deutlich aufgezeigt, wo die Grenzen des Tolerierbaren selbst für Künstler lagen. Siegfried Wagner saß in einem goldenen Käfig, unter skeptischer Beobachtung der Öffentlichkeit. Genau genommen befand er sich jedoch in einer Zwickmühle: Er, der einzige Sohn des Komponisten Richard Wagner und der vormaligen Festspielleiterin Cosima (1837 bis 1930, Tochter von Franz Liszt, geschiedene Baronin von Bülow), hatte erst 1907 (auch ein Pausensommer) die Leitung aus den Händen seiner Mutter übernommen, bislang trug er die Verantwortung seit 1908 genau fünfmal.

Von Mäzenen und Tickets abhängig

Siegfried Wagner war, was angesichts unfairer Bewertungen seiner Lebensleis­tung meist vergessen wird, ein privater Festspielunternehmer. Subventionen im heutigen Sinne gab es nicht, die ihn hätten unabhängig künstlerisch arbeiten lassen. Er war von Mäzenen und von den Einnahmen durch Kartenverkauf vollkommen abhängig. Aber auch ein weiteres Sponsorentum aus Idealismus darf nicht vergessen werden: Bis in die 1930er-Jahre kam der größte Teil der Mitwirkenden ohne wirkliche Gage und nur gegen eine Aufwandsentschädigung zu den Wagners. Was bedeutete, dass die Künstlerschar motiviert werden musste, die Konditionen zu akzeptieren. Man versprach sich durch Auftritte in Bayreuth einen künstlerischen Ritterschlag als Wagner-Interpret. Zunächst Cosima und dann auch Siegfried Wagner schafften es, Vertrauen, basierend auf Tradition, in die stilistische Qualität der Aufführungen herzustellen.

1914 präsentierte Siegfried Wagner eine Neuproduktion des Fliegenden Holländer, führte selbst Regie und dirigierte – doch mit dem Kriegsschock stob die Festspielgemeinde am 2. August auseinander: ein harter Einschnitt, dem eine in ihrer Brutalität bis dahin noch nie erlebte Menschheitskatastrophe folgen sollte.

Cosima – erfolgreiche Chefin

Dabei hatte es nach den Anfangsproblemen dieser neuartigen Musikfestspiele zwischen 1876 und 1882 für die Wagner-Familie und ihr Unternehmen ab Wagners Tod 1883 gar nicht schlecht ausgesehen. Beharrlich verfolgte Witwe Cosima die Absichten des „Meisters“, der seine Werke vom Holländer bis zum Parsifal in Musteraufführungen und in seinem speziell dafür errichteten Theaterbau realisiert sehen wollte. Sein frühes Ableben, knapp vor seinem 70. Geburtstag, verhinderte zwar seine eigene Mitwirkung, doch das neue Familien­oberhaupt Cosima schaffte gegen alle Widerstände das, was niemand für möglich gehalten hätte: eine Frau in der Chefposition! Das gelang damals höchstens Sarah Bernhardt in Paris oder der Intendantin des Operettentheaters in Wien, aber in Deutschland (und noch dazu auf dem Gebiet der „heiligen Oper“) war diese Leistung einzigartig.

Im Schatten der Eltern Richard und Cosima wirkte der Sohn, der seinen Vor- und Nachnamen als Segen und Fluch gleichzeitig empfand: Helferich Siegfried Richard oder Siegfried Helferich Richard, die Reihenfolge ist umstritten. Der Helfende war eigentlich „Richard der Zweite“, manchmal auch „Wagner der Jüngere“, als er ebenfalls komponierte. Nur sein offizieller Taufpate „Ludwig“ (der König nämlich) fand keine Berücksichtigung. Zunächst planten weder die Eltern noch er selbst eine Karriere in der gleichen Profession. Fidi begeisterte sich ohnehin für Architektur und Technik. Natürlich genoss er, der ja auch ein Enkel von Franz Liszt war, eine musikalische Basisausbildung, aber er konnte sich zunächst nicht vorstellen, eines Tages die Festspielleitung zu übernehmen. Erst im Alter von 23 Jahren entschied er sich, wie sein Vater im Musiktheater zu wirken, und begann, das notwendige Handwerk von der Pike auf zu erlernen. 1893 debütierte er als Dirigent bei einer Opernschulaufführung, 1894 bereits als Orchesterleiter auf internationalem Parkett (in London), 1895 erstmals auch als Komponist seiner sinfonischen Dichtung Sehnsucht (wiederum in London) und 1896 sogar schon im „mystischen Abgrund“ des väterlichen Theaters: Siegfried Wagner dirigierte mit 27 Jahren einen kompletten Zyklus des Ring des Nibelungen bei der zweiten Produktion der Tetralogie im Bayreuther Festspielhaus. Damit hatte er seine Feuerprobe bestanden. Den ersten Ring schmiedete Richard Wagner selbst, am Pult Hans Richter. Das war 1876 und finanziell ein Desaster, sodass an eine Wiederholung vorerst nicht zu denken war. 20 Jahre später war Cosima Wagner die Produzentin, sie kontrollierte alles, vom Regisseur über die Bühnenmaler bis hin zu den Dirigenten. Bei den vier Zyklen 1896 dirigierte Siegfried Wagner erstmals die vier Werke. Im Laufe der Jahrzehnte modernisierte er Schritt für Schritt den Bayreuther Ring und passte ihn behutsam den Möglichkeiten der Bühnentechnik an, wobei vor allem die Elektrizität und der Rundhorizont neue Räume ermöglichten. Doch das Geld blieb knapp, die Festspiele waren vor allem ein Familienbetrieb, der einzig durch den Kartenverkauf und großzügige Spender überlebte.

In den folgenden Jahren übertrug Cosima Siegfried allmählich weitere Aufgaben, bis schließlich die Übernahme der Festspielleitung an den männlichen Erben erfolgen konnte. Dass die Schwes­tern das Nachsehen hatten, vor allem Isolde Wagner, nahm die Witwe mit ihrem Selbstverständnis in Kauf, einzig ein „Herr Wagner“ sollte die Festspiele leiten dürfen, mehr noch: Von ihm erwartete man die Etablierung einer Dynastie.

So schlitterte die Familie schließlich ins schicksalhafte Jahr 1913: Statt den 100. Geburtstag des Meisters entspannt feiern zu können, wurde ausgerechnet das Jubiläum zu einer ausgewachsenen Krise. Zusammengefasst: Die Schutzfrist für Parsifal lief ab, das eigentliche Bayreuther Festspiel war nicht mehr dem Hügel vorbehalten, sondern durfte überall gespielt werden. Die Pflicht zur Tantieme für die Wagner‘schen Werke lief nach 30 Jahren ebenfalls aus. Die Vaterschaft der Tochter Isolde (1865 bis 1919) musste vor Gericht geklärt werden – dieser Skandal betraf Cosima Wagner, die vormals mit dem Dirigenten Hans von Bülow verheiratet war und ihren Ehemann mit Richard Wagner betrogen hatte. Cosima, die treue Ehefrau vorgebend, schwor wider besseren Wissens, Isolde wäre noch eine Tochter Bülows, wodurch sie mit einem Meineid ihrer Tochter den Zugang zum Wagner‘schen Erbe verbaute, um ihren Sohn zu schützen.

Eigenes Künstlertum

Siegfried Wagner ging spätestens seit 1899 seinen eigenen Weg. Als Dirigent hatte er sich etablieren können, mit seiner ersten Oper Der Bärenhäuter erzielte er sogar den Hit der Spielzeit, von München aus war diese Märchenoper ein internationaler Erfolg, den sogar Gustav Mahler in der Wiener Hofoper herausbrachte.1901 folgte schon Opus 2, mit dem er zeigte, dass er keinesfalls seinen berühmten Vater kopierte – und so ging es weiter bis Opus 9. Seine Opern liefen mehr oder weniger erfolgreich. Wagner der Jüngere verschaffte sich in seinem Beruf als Dirigent und Komponist Anerkennung und finanzielle Unabhängigkeit. Er wetteiferte mit Richard Strauss (1864 bis 1949), den er seit seiner Jugend kannte. Zunächst waren die Kollegen freundschaftlich verbunden, dann allerdings entwickelte sich eine Konkurrenz, die nicht nur auf den Bühnen stattfand: Beide ersparten sich keine bösartigen Wortgefechte.

Mit Übernahme der Festspielleitung seit 1907 hatte Siegfried deutlich weniger Zeit, seine eigenen Opern zu bewerben; die Uraufführungen fertiger Werke wurden aufgeschoben und durch den Krieg abermals verschoben. Zu seinem musikdramatischen Schaffen ist zu erwähnen, dass es insgesamt 18 Entwürfe für die Bühne gibt, 15 Opern davon sind komplett vorhanden, wobei er Libretto und Musik schuf. Nur drei davon basieren auf Märchenstoffen, die Verkürzung auf Dichterkomponist von „Märchenopern“ ist nicht zutreffend. Der wichtigste Aspekt dazu ist jedoch: Seine Textbücher und die Musik wurden für ihn zu seiner ganz persönlichen Fluchtmöglichkeit aus der belastenden Gegenwart.1913/14 war er immerhin schon bei seinem Opus 10 angekommen und arbeitete während des Weltkriegs an Opus 11. Einen größeren Kontrast zu den Schrecknissen der Zeit konnte es eigentlich nicht geben: Er kreierte ein aberwitziges, modernes Märchenspiel – parallel zu Strauss‘/Hofmannsthals Die Frau ohne Schatten. Seine durchaus erfolgreiche Oper trägt einen für ihn typischen Titel: An allem ist Hütchen Schuld!, wobei sein Kobold eine Art von frühem Pumuckl ist. Für Opus 12 fehlte ihm die Gelassenheit, beide Versionen des Textbuchs blieben in der Schublade. Opus 13 war nur noch eine Auftragsarbeit, die vollendeten Werke 14 und 15 wurden erst posthum konzertant uraufgeführt und harren bis heute einer szenischen Uraufführung. Ab 1920 komponierte er vor allem für sich selbst, Hoffnung auf Uraufführungen gab es kaum noch. Sein Werk schien wie aus der Zeit gefallen. Warum er dennoch kontinuierlich auch weiterhin Musik schrieb? In diesen Stunden träumte er sich mit viel Phantasie und eigenen Geschichten einfach weg.

1918, mit dem Ende des Krieges, geriet Siegfried Wagner unter Druck. Die Elite des ehemaligen Kaiserreichs forderte von ihm, den Hügel mit dem Wagner-Theater als „Heimstätte“ der deutschen Kunst möglichst schnell durch einen Wiederbeginn – und kämpferisch gegen jegliche Demütigung der Nation – mit neuem Leben zu füllen. Doch durfte der Hügel sich überhaupt neu erfinden? Oder erwartete man nicht genau das Gegenteil, das Festhalten an all dem, was die „gute alte Zeit“ ausgezeichnet hatte? Welchen Weg sollte der Festspielleiter einschlagen? Wie sollte ihm die Quadratur des Kreises gelingen? ... (Claus J. Frankl)

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Abbilung:
Siegfried Wagner mit seiner Frau Winifred und den Kindern Wolfgang (1919 bis 2010, links vom Vater), Wieland (1917 bis 1966, rechts), vor dem Vater Verena (1920 bis 2019) und bei der Mutter Friedelind (1918 bis 1991). Durch ihre offene Gegnerschaft zum Dritten Reich und ihre Emigration über England in die USA wurde Friedelind Wagner zum „weißen Schaf“ der Familie. Außerdem engagierte sie sich für die Wiederentdeckung der Opernwerke ihres Vaters. Die Festspielleitung blieb ihr jedoch versperrt, da Winifred Wagner ihre beiden Töchter zugunsten von Wieland und Wolfgang Wagner in der von Siegfried vorgesehenen gleichberechtigten Erbfolge widerrechtlich überging. (Foto: SZ Photo)

 

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