König Ludwig der Deutsche, Sohn von Kaiser Ludwig dem Frommen, hatte drei Söhne: Karl-mann, Ludwig III. der Jüngere und Karl III. Sie wurden vom Vater in die Regentschaft einge-bunden, aber am kurzen Zügel gehalten. Der Geschichtsschreiber Gobelinus Person berichtet Anfang des 15. Jahrhunderts in seinem Werk Cosmidromius, Ludwig III., verantwortlich für den ostfränkischen Teil, habe sich verlobt mit Liutgard (geboren wohl um 850), Tochter des „Herzogs“ Liudolf von Sachsen (Stammvater der Ottonen) und in Aschaffenburg die Hochzeit gefeiert. An der Richtigkeit dieser Angabe ist nicht zu zweifeln, das Jahr muss zwischen 865 und 874 liegen.
Ludwig III. der Jüngere trat die Herrschaft nach dem Tod seines Vaters Ludwig des Deutschen (gestorben 876 in Frankfurt, begraben im Kloster Lorsch) im Alter von etwa 40 Jahren an. Seine bevorzugte Pfalz war Frankfurt, den Herrschaftsbereich teilte er mit seinen Brüdern, ihm selbst fielen Ostfranken, Sachsen, Thüringen und Lotharingien zu. Aus einer unbekannten Verbindung vor der Heirat mit Liutgard und wohl auch noch vor 865 hatte er einen illegitimen Sohn namens Hugo, der 880 im Kampf gegen die Normannen fiel. Der einzige Sohn aus der Verbindung mit Liutgard, Ludwig, stürzte als kleines Kind im November 879 aus einem Fenster der Pfalz Regensburg und brach sich das Genick. Der Verbindung entstammte aber auch ein Mädchen, Hildegard, geboren vermutlich um 870. Liutgard mischte sich aktiv in die Geschäfte ihres Mannes ein, nahm sogar an Feldzügen und Verhandlungen teil. Der König ist in Aschaffenburg selbst nicht nachweisbar, dürfte sich aber häufiger dort aufgehalten haben: Im Januar 874 hielt er in Seligenstadt eine Geheimversammlung mit einigen Räten seines Vaters ab, 878 urkundete er, nun als König, vermutlich in Großheubach/Kleinheubach. Seiner Kanzlei stand während der gesamten Regierungszeit Erzbischof Liutbert von Mainz (863 bis 889) vor, Erzkanzler des Reiches seit 870. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die herausgehobene Position Aschaffenburgs auch mit ihm zu tun hatte.
König Ludwig III. der Jüngere starb im Januar 882 in Frankfurt und wurde, wie sein Vater, in Lorsch begraben. Sein Tod stürzte das Reich in eine tiefe Krise. Den Tod Liutgards verzeichnen die Aschaffenburger Nekrologien und die Annalista Saxo im November 885, samt Aschaffenburg als Begräbnisort, wo sie sich wohl seit 882 aufhielt. Nach dem Tod beider Eltern war Hildegard neben ihrem Onkel Karl III. die letzte vollblütige Karolingerin in Ostfranken – und unverheiratet! Beim Sturz Karls III. durch seinen Neffen Arnulf von Kärnten 887 soll sie eine entscheidende Rolle gespielt haben. Die unverheiratete Hildegard besaß über ihre Zugehörigkeit zur karolingischen Dynastie hinaus hervorragende Verbindungen: Der Bruder ihrer Mutter war Otto der Erlauchte, der daher möglicherweise ebenfalls in den Sturz Karls und die Thronerhebung Arnulfs involviert war. Allerdings können sich solche Verhältnisse schnell abkühlen: Als Arnulf unbestritten Kö-nig war, wurde (September 889) geplant, eine Schenkung an das liudolfingische Hauskloster Gandersheim zu bestätigen, wozu es aber nicht kam. Die Bestätigung wurde nicht durchgeführt – ein Zeichen für ein Zerwürfnis. Und schließlich wurde Hildegard Anfang 895 des Treuebruchs angeklagt, verlor ihre publici honores und ihre „königlichen Güter“; sie wurde im Inselkloster Frauenwörth im Chiemsee inhaftiert. Ihr wurde Untreue vorgeworfen, sie „habe sich gegen den König und das Königreich“ verschworen. In Quellen wird sie als Äbtissin bezeichnet, aber das muss sich nicht auf Frauenchiemsee beziehen. Doch wurde sie begnadigt und bekam ihre Besitzungen zum größeren Teil bald wieder zurück. Arnulfs Tod im Dezember 899 beendete freilich diesen kurzen Wiederaufstieg. Diese Jahre waren geprägt vor allem durch die „Babenberger Feh-de“ – der Spessart befand sich mitten im Spannungsgebiet. Hildegard war sicher in diesen Konflikt einbezogen. Das Aschaffenburger Nekrolog N1 verzeichnet ihren Tod an einem 3. März, das Jahr muss vor 931/32 liegen.
Hildegards Begräbnisort ist jedenfalls eindeutig Aschaffenburg. Denn bei den Grabungen in der dortigen Stiftskirche wurden 1956 die sogenannten Stiftergräber geöffnet. Das Grabmal links vom Hochaltar wurde in einer Nische errichtet, etwa um die Mitte des 13. Jahr-hunderts, zwei Frauen wurden dort in einem gemeinsamen Sarkophag beigesetzt; wo ihre sicher getrennten Gräber vor dieser Zeit lagen, ist unbekannt. Die (heute nicht mehr einsehbare) Nische war etwa im 15. Jahrhundert ausgemalt mit dem Fresko zweier Frauen, die eine Kirche halten als Zeichen einer Stiftung. Die Inschrift des 1772 entstandenen, der Nische vorgeblendeten Grabmals, architektonisch angelehnt an das gegenüberliegende und 250 Jahre ältere des Herzogs Otto von Schwaben und Bayern, weist darauf hin, dass hier „Ludgardis atque Hildegardis“ bestattet seien. Die Untersuchung der Gebeine zweier Frauen ergab, dass alles dafür spricht, in ihnen Mutter und Tochter, eben Liutgard und Hildegard, zu sehen. Eine der Frauen war älter geworden als die zweite, sie hat nach Abschleifung der Kauflächen der Zähne zu urteilen ein relativ hohes Alter erreicht. Bei ihr muss es sich um Hildegard handeln, denn Liutgard wurde nur etwa 35 Jahre alt; die um 870 geborene Hildegard hätte also wenigstens bis etwa 930 gelebt.
Liutgard und Hildegard sind auch verbunden mit der Frage: Wer gründete das Aschaffenburger Stift St. Peter (und Alexander)? Als Gründer des Stifts Aschaffenburg galt, in dessen eigener Tradition, der genannte Herzog Otto von Schwaben und Bayern. Dies wurde von der Forschung akzeptiert, bis 1957 Hansmartin Decker-Hauff die These vertrat, dies sei „in höchstem Maße unwahrscheinlich“. Seine Argumentation: Otto verlor mit drei Jahren den Vater Liudolf, Sohn Ottos I. des Großen, und wuchs am Hof des Großvaters Otto [Behauptung!] auf, und zwar gemeinsam mit seinem gleichaltrigen (!) Onkel, dem späteren Kaiser Otto II. (geboren 955, Herrschaftsantritt 973, gestorben 983). Nennenswertes Eigengut habe er „schwerlich besessen“, seine reiche Mutter Ida habe „ihr Eigen wie ihr Wittum selbst genossen“. Im November 973 erhielt er von Otto II. das Herzogtum Schwaben, 976 das (um die Ostmark verkleinerte) Herzogtum Bayern, und der Ort Aschaffenburg sei tatsächlich sein Besitz. Da das Stift Aschaffenburg schon bald nach 973 bezeugt sei, könne Otto es nicht in diesem kurzen Zeitraum seit seiner Herzogserhebung gegründet haben, aber auch nicht vorher, denn „dann hätte er diese schwerwiegende und weitreichende Handlung eines verfügungssicheren Mannes vorgenommen, als er ein machtloser Jüngling, ja vielleicht noch ein mittelloser Knabe war“. Immerhin misstraut Decker-Hauff selbst seiner abstrusen Begründung und führt an, dass 976 die Stiftskirche samt Türmen bezeugt sei, also der Baubeginn länger zurückliegen müsse, mindestens 20 Jahre, etwa um 950/955. Aber auch nicht viel früher, denn Baubeginn und (!) Gründung hätten sich dann „in irgendeiner Form, sei es in einer Urkunde, sei es in einer Chroniknotiz niedergeschlagen“. Die Brüchigkeit dieser Argumentation liegt auf der Hand. Decker-Hauff (er-)findet schließlich als wahrscheinliche Gründer Ottos Eltern, Herzog Liudolf von Sachsen und dessen Frau Ida. Diese seien zwar urkundlich nicht direkt mit Aschaffenburg in Verbindung zu bringen, aber das tue nichts zur Sache. Dass die Kirche beim Tod Liudolfs 957 noch nicht fertig gewesen sei, beweise der Umstand, dass er nicht hier, sondern in St. Alban in Mainz begraben wurde. Und dass man ihn in Aschaffenburg als Gründer vergessen habe liege daran, dass er als Aufrührer gegen den Vater galt, sozusagen eine persona non grata gewesen sei.
Diese Theorie wurde seither von der Forschung unbeirrt übernommen. Nicht nur, dass sie in sich bodenlos ist, sie macht vor allem den Fehler, nach einem konkreten „Gründer“ des Stifts zu suchen, ohne überhaupt zu erklären, worin die „Gründung“ überhaupt bestanden haben soll, und ohne zu untersuchen, wie die weltliche und geistliche Situation Aschaffenburgs vor 950 überhaupt beschaffen war.
Zur Beantwortung muss man erneut zu Liutgard zurückkehren. Als König Ludwig III. 882 starb, war sie keine 35 Jahre alt und saß mit einer zwölfjährigen Tochter in Aschaffenburg. Was macht man in einer solchen Situation? Immerhin war sie eine aktive Frau, der Tochter Hildegard stand die Welt offen – und war ihr zugleich versperrt, denn wer sie heiraten würde, könnte Ansprüche auf den Thron oder jedenfalls eine sehr hochrangige Position im Reich erheben. Doch Liutgard starb schon drei Jahre nach ihrem Mann und wurde in der Kirche auf dem Stiftsberg beigesetzt.
Die späteren Nekrologeinträge und das Bild in der Wandnische ihres zweiten Grabes bezeichnen Liutgard als Heilige und als Gründerin der Kirche. Es gibt keinen vernünftigen Grund, dies nur für eine spätere Erfindung zu halten. Bei den Grabungen der frühen 1950er-Jahre kam als ältester Bau eine kleine Kirche zum Vorschein; sie ist schwer zu rekonstruieren, vielleicht war sie schon zweigeschossig. Wie weit sie zurückreicht, ob sie bereits zu Lebzeiten Ludwigs III. bestand, ob sie von Liutgard erst gegründet oder ausgebaut wurde: all dies muss offenbleiben. Jedenfalls wurde die verwitwete Königin in ihr begraben, der Bau damit aufgewertet, ihr Name mit dem der Kirche verbunden – die Bezeichnung als „Gründerin“ ist jedenfalls akzeptabel.
885 stand die 15-jährige Hildegard alleine da und versuchte, ihre Zukunft zu gestalten. Zwei Wege gab es: Heirat oder Kloster. Und nun kommt der entscheidende Punkt: Kloster bedeutete zu dieser Zeit für hochadelige Frauen kein abgeschiedenes Leben in Keuschheit und Demut, sondern die Leitung einer geistlichen Institution, die zwar gemeinhin als Kloster bezeichnet wurde, bei der es sich aber oft um ein adeliges Stift handelte. Drei Schwestern Liutgards waren Äbtissinnen im Stift Gandersheim – genügend Vorbilder also schon hier. Darüber hinaus galt: Königliche Frauenstifte und -klöster waren legitimierende und stabilisierende Faktoren der Königsherrschaft, umso mehr, wenn dort königliche Frauen als Stifterinnen, Inhaberinnen oder Äbtissinnen fungierten. Die Rechtsform solcher Stifte konnte sehr unterschiedlich sein: Während man bei denen im Nordosten Deutschlands eher von Kanonissenstiften spricht, waren die süddeutschen Stifte (zum Beispiel Frauenchiemsee) „adelige Frauenkonvente“ ohne die strengen Re-geln einer vita canonica ... (Theodor Ruf)
Lesen Sie den vollständigen, reich bebilderten Beitrag in der Ausgabe Mai/Juni von UNSER BAYERN (Bayerische Staatszeitung Nr. 19 vom 12. Mai 2023)
Abbildungen:
Die Darstellung Herzog Ottos von Schwaben und Bayern schuf Hans Juncker 1608; der Bildhauer stand zu jener Zeit in Diensten des Mainzer Erzbischofs Johann Schweikhard von Cronberg. Später schuf Juncker auch den Magdalenenaltar und die Kanzel in der Stiftskirche. Die Figur Herzog Ottos ist aus Sandstein, der teilweise farbig gefasst und vergoldet war. Die Bildhauerarbeit ersetzte die ursprüngliche Grabplatte in der Stiftsbasilika, die im Markgrafenkrieg von 1552 beschädigt worden war. Heute ist die Sarkophagskulptur Exponat im Stiftsmuseum Aschaffenburg. (Foto: Theodor Ruf)
Eine kleine Stifterplatte aus Zellenschmelz auf dem sogenannten Otto-Mathilden-Kreuz (um 982) zeigt das Geschwisterpaar Otto und Mathilde. Die Schwester des Herzogs war Äbtissin im Stift Essen. Da beide in höfischer Kleidung zu sehen sind und auch keine Insignien ihrer jeweiligen institutionellen Macht tragen, soll die Darstellung wohl die familiäre Verbundenheit betonen. Das Vortragekreuz gehört zum Essener Domschatz. (Foto: Wikipedia)
Kommentare (0)
Es sind noch keine Kommentare vorhanden!