Unser Bayern

„Abgeschminkt“ umspielt ein leichtes Lächeln den markant ausgeführten Mund der Sedes Sapientiae. Dicke, ölige Farbschichten hatten auch ihr Grübchen verdeckt. (Foto: Jan Kopp)

09.07.2018

Wundervolle Entpuppung

Restauratorinnen haben eine Marienskulptur „entkleidet“ und ihr somit ihre ursprüngliche Würde zurückgegeben

Was Andreas Schmid sich vorgenommen hatte, war ganz schön dick aufgetragen und erinnert an gängige Spötteleien übers Schminken: Aus der Not eine Tugend – wahlweise Jugend – machen, die Vergangenheit übertünchen... Dass dabei weniger oft mehr wäre, ignorierte er: Seine Heiligenfiguren, die der Direktor des Herzoglichen Georgianums in München für die Lehrsammlung des Priesterseminars „aufmöbeln“ ließ, wurden ordentlich mit Ölfarben angemalt, damit vermeintlich unschöne Unebenheiten ihres Alters überdeckt wurden.

Auch bei der Farbwahl war er nicht gerade feinfühlig, geschweige denn bemühte er sich um historische Authentizität: Blau, Rot, Grün, Schwarz scheint es bei den beaufragten Restauratoren kübelweise in gewöhnlicher Tönen und in nicht allzu hoher Preisklasse gegeben zu haben. Sie mussten für viele Figuren reichen – ohnehin blieben, der finanziellen Machbarkeit wegen, weil Schmid das meiste aus privater Kasse zahlte, manche Figuren gleich ganz blank, also bis auf den Holzkern abgelaugt, abgekratzt, abgeschliffen. Wo angestrichen wurde, ging man das eine oder andere Mal selbst über die farbliche Unterscheidung von Gewandteilen geflissentlich hinweg. Subtil changierende Farbenspiele sucht man vergeblich – plakative Ausstrahlung war angesagt. Der fein-modellierende Teint, auf den sich zum Beispiel Fassmaler des Barock verstanden, wich oft einer rustikal-pastosen Kosmetik mit knallroten Apfelbäckchen.

Was so, übrigens ganz dem gängigen Verfahren und dem Zeitgeschmack im ausgehenden 19. Jahrhundert entsprechend, restauriert bis heute im eigens für die Sammlung geschaffenen Museum überdauert hat, lässt Andreas Schmids Vorliebe weniger für einen künstlerisch fein nobilitierten und kunsthistorisch korrekten, als eher für einen recht volkstümlich-rustikalen Heiligenhimmel vermuten. Der eifrige Kunstsammler ist ja gerade auch auf dem Land fündig geworden, hat manche Figur gerettet, die zum Beispiel an einer Scheunenaußenwand dem Wetter ausgesetzt war, oder hat zum Hühnerstallverschlag umgewidmete Altarbilder in seine Sammlung geholt (ausführlich mit Andreas Schmid und der Kunstsammlung des Herzoglichen Georgianums beschäftigt sich Claudius Stein in Unser Bayern Ausgabe November/Dezember 2017).

Kunsthistorische Raritäten

Die Sammlung ist heute vielleicht weniger lehrreich für den Pries­ternachwuchs, als vielmehr für Kunsthistoriker und Restauratoren: Man findet hervorragende Beispiele für die Geschichte und die Philosophie des Restaurierens – und zwar bis zu aktuellen Fragen des Umgangs mit dem Werk der Vorgänger. Der genauere Blick in diesen eigentümlichen Heiligenhimmel lohnt – und der quasi bohrende Blick unter manche Oberfläche erst recht: In jüngerer Zeit hat man manchen Schatz entdeckt.

(...)

Sedes Sapientiae

Gallig überspitzt möchte man meinen, dass auch die Gottesmutter gemartert wurde – von Restauratoren früherer Generationen. Und zwar jene Maria, die ebenfalls aus dem Arsenal des Georgianums stammt und das Interesse der Kunstexperten geweckt hat – obwohl sie derart malträtiert erschien, dass man sie auch als irreparabel hätte wegsperren können. Dabei war der dicke Farbüberzug des 19. Jahrhunderts und dass man ihr irgendwann das Jesuskind weggenommen hatte, vielleicht noch das geringere Übel. Was schier sprachlos macht, ist die Art, wie Restauratorenhände erst in den 1960er- oder 1970er-Jahren mit der Figur umgegangen sind: Brutal wurde die Sichtfassung aufgebrochen, mit grobem Werkzeug bis auf den Holzkern durchgekratzt – großflächig, scheinbar willkürlich mal hier und da. Plötzlich hat man mittendrin aufgehört, die Figur einfach so verhunzt stehen lassen, den angerichteten Schaden gar nicht erst versucht zu kaschieren, um eine halbwegs geschlossene Fassung zu hinterlassen. Schon damals war es bei seriösen Restaurierungen üblich, solchen Objekten nur gezielt an versteckten Stellen minimalste, mikroskopische Öffnungen zuzumuteten und wieder zu verschließen.

Vermutlich (es gibt keine Dokumentation der Maßnahme, wie sie heute üblich ist) galt dieses brachiale Schürfen der Suche nach Belegen, dass es sich tatsächlich um eine romanische Figur des 13. Jahrhunderts handelte, als die sie Andreas Schmid 1886 anlässlich seines Kaufs (5 Mark) beim Münchner Bildhauer Eugen Kollmann einstufte.

Bei der rund 80 Zentimeter hohen, hinten gehöhlten Skulptur handelt es sich um die Darstellung der Gottesmutter als Sedes Sapientiae, als Sitz der Weisheit, ein im 13. Jahrhundert beliebter Bildtypus, der in Nordeuropa aus der älteren byzantinischen Tradition übernommen wurde: Die bekrönte Gottesmutter sitzt auf einen Thron, auf ihrem Schoß sitzt oder steht das Jesuskind als „Logos“ (laut Johannesevangelium „Wort Gottes“). Das Bild vom Sitz der Weisheit ist in der poetischen Lauretanischen Litanei enthalten, in der Maria auch als Vas spirituale/Kelch des Geistes, Rosa mystica/Geheimnisvolle Rose oder Causa nostrae laetitiae/Ursache unserer Freude angerufen wird.

Die meist strenge Frontalsicht und Statuarik der gleichermaßen disziplinierten wie in sich ruhenden, entspannten Körperhaltung konnte als Einssein mit der göttlichen Ordnung gelesen werden.

Unwürdiger Zustand

Doch die Aura einer Regina Sanctorum omnium/Königin aller Heiligen hatte diese Skulptur im Figurenensemble auf der Museumsempore im Georgianum längst eingebüßt: „Es war ein wirklich unwürdiger Zustand“, sagt Claudius Stein, der Pfleger der Sammlung (er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Archiv der Ludwig-Maximilians-Universität, das Georgianum gehört zur LMU). Allmählich blätterte auch Stück für Stück der noch erhaltenen Sichtfassung des 19. Jahrhunderts ab. Die offenen „Wunden“ an ihr reuten. Abermals sprang die Ernst von Siemens Kunststiftung ein und übernahm die Restaurierungskosten. Die Sedes Sapientiae zog für mehrere Monate in das renommierte Atelier von Restaurator Rolf-Gerhard Ernst in München-Sendling.

Grundlegend (auch mit Blick auf den zur Verfügung stehenden Etat von knapp über 20 000 Euro) musste die Frage geklärt werden: Wie soll die Figur nach ihrer Rettung aussehen? Naheliegend wäre gewesen, die letzte Sichtfassung wieder herzustellen um ein geschlossenes Bild zu rekonstruieren. Das ist ein gängiges Verfahren, wenn es um punktuelle Retuschen und Ergänzungen geht. In diesem Fall jedoch war die Fassung des 19. Jahrhunderts derart großflächig aufgebrochen, dass ein Zurück nicht zu empfehlen war, zumal damit eine Fassung restauriert worden wäre, die dem kunsthistorischen Wert der Figur und der einst wohl intendierten sakralen Anmutung der Heiligenfigur nicht gerecht ist. Wie sollte man aber mit den Resten früherer Fassungen umgehen? Sollte man vielleicht von allen Zeitebenen etwas übriglassen? Oder jene erhalten und vielleicht sogar komplettieren, von der am meisten zu finden ist?

Der Kunstbeirat des Herzoglichen Georgianums und die Restauratoren entschieden sich für die museale Restaurierung, also für das weitgehende „Entkleiden“ bis auf die Fragmente der ältesten erhaltenen Fassung hinunter, denn geschlossene romanische Fassungen gibt es ohnehin kaum. Dann wurde das Vorgefundene konserviert – es erfolgte aber keine Rekonstruktion einer möglichen Urfassung Das bedeutet für die Sedes Sapientiae: Sie erscheint nun fast „nackt“. Aber keineswegs entzaubert – ganz im Gegenteil!

Eleganz zurückgewonnen

Nicht nur, dass nun überhaupt einmal die kunsthandwerklichen Finessen des Bildschnitzers zutage treten, auch die Anmutung der Figur ist eine völlig andere: Unter der plumpen Gewöhnlichkeit ist eine würdige Eleganz hervorgetreten – die Bauernmagd hat sich wieder in die Himmelskönigin zurückverwandelt. Selbst inmitten all der anderen, oft raumhohen und prominent-hochkarätigen Werkstücke, die parallel im Restaurierungsatelier Ernst bearbeitet werden, umgibt diese Sedes Sapientiae die Aura eines Andachtsbildes. Man ertappt sich beim Flüstern. Bei allem professionell-nüchternen Umgang mit solcher Kirchenkunst im Berufsalltag, ist auch Restauratorin Ulrike Merz emotional berührt: „Diese Skulptur hat viel mehr erlebt, als man auf den ersten Blick denken könnte.“

Von der Biografie dieser Gottesmutter erzählen neun abgenommene Schichten aus fünf Zeitebenen, durch die sich Restauratorenhände bis zum Holzkern und den ältesten Fassungsresten durchgearbeitet haben. Das zeugt einerseits von einer sukzessiven Überformung des ursprünglichen Werkstückes. Andererseits legt es die Wertschätzung dieser Mariendarstellung über Jahrhunderte nah. Erst im 19. Jahrhundert scheint sie „wertlos“ geworden zu sein: Seit wann sie ihren kirchlichen Bezugsort verloren hatte, weiß man nicht. Dass Andreas Schmid sie bei dem Münchner Bildhauer so ausgesprochen günstig erwerben konnte, führte er in seinen Notizen darauf zurück, dass sich Künstler eben für solche Figuren nicht mehr interessieren würden. Er jedoch war ein gewiefter Sammler, ahnte wohl das Schnäppchen, das ihm gelungen war: Er gab die Sedes Sapientiae einem Antiquitätenhändler zur Begutachtung. Dessen Expertise war gleichermaßen überraschend wie frustrierend: 500 bis 600 Mark sei diese zwischen 1280 und 1300 im süddeutschen Raum entstandene Skulptur wohl wert – wenn sie nicht restauriert worden wäre. Sie war verunstaltet durch dicke Ölfarbschichten, die ihr vermutlich sogar erst im 19. Jahrhundert verpasst worden waren. Trotz dieses Wissens, vermutlich auch finanzieller Möglichkeiten wegen, setzte Andreas Schmid diese Praxis der Instandsetzung fort, ließ sie also erneut kräftig übermalen.

Verräterische Nischen

Die Restauratorinnen im Atelier Ernst waren selbst gespannt, auf was sie beim „Abschälen“ der Figur stoßen würden, ob sich frühere Fassungen, zum Beispiel aus dem Barock, großflächiger erhalten haben. Am meisten interessierte freilich, ob und was sich von früheren, vielleicht gar von entstehungszeitlichen Schichten übrig geblieben ist. Viele Stunden feinfühlige Handarbeit unter der Lupenbrille und dem Mikroskop waren angesagt – „wenn man die Schichten analysieren will, nützen weder Röntgen- noch Infrarotaufnahmen etwas“, erklärt Ulrike Merz. An verräterischen Stellen legte man zunächst kleine „Treppenöffnungen“ an: Typischerweise in engen Nischen von Gewandfalten lassen sich die Schichtabfolgen gut analysieren, weil vorherige Restauratoren genau dort oft geschludert und Vorgängerfassungen nicht immer sauber abgetragen haben.

Teures Azurit

Schon bald stieß man bei der Mantelfaltung auf nur wenige Quadratmillimeter große Flächen eines leuchtenden Azuritblaus auf weißer Grundierung – „man könnte es mit dem heutigen Yves-Klein-Blau vergleichen“, sagt Ulrike Merz, „auf jeden Fall war diese Farbe edel, kostbar, teuer und so wertvoll wie Gold.“ In der Farbfassung des 19. Jahrhunderts war der Mantel der Himmelskönigin nicht mehr blau, sondern schon fast „billig“ aufdringlich goldfarben, natürlich waren nicht echte Goldpartikel verwendet worden, sondern Messing und Kupfer, das vergrünt. Und die Mühe einer ordentlichen Grundierung hat man sich auch nicht gemacht: Dort, wo schon damals die Figur Fehlstellen bis auf den Holzkern hatte, verkittete man nicht, sondern strich eben großzügiger die Goldfarbe auf, um Unebenheiten auszugleichen.

An der Mantelinnenseite entdeckte man (...)

Sind die Restauratorinnen bei diesen alten Fragmenten bereits zur Originalfassung vorgedrungen? „Nein, auch wenn diese Fassungsreste sehr nah über dem Holzkern sind und vermutlich romanisch-gotisch sind, so hatte die Figur auch bei dieser Fassung schon ihre Vergangenheit“, sagt Ulrike Merz. „Wir haben hie und da Reste einer noch älteren Grundierung gefunden. Das sind diese Stellen, die nicht weiß sondern eher lichtgrau sind“, deutet sie auf kleine Flächen. Auch mikroskopisch kleine, grüne Partikel, die man ausmachte, ließen sich einer noch älteren Schicht zuordnen.

Aber noch weiter wollten die Restauratorinnen nicht dem Geheimnis der Originalfarbigkeit nachjagen: „Es ist wirklich unwahrscheinlich, dass von der ursprünglichen Fassung noch größere Bereiche vorhanden sind. Außerdem lässt sich irgendwann die Zeit der Bearbeitung nicht noch näher eingrenzen, weil sich die Techniken über längere Phasen beziehungsweise Bearbeitergenerationen hinweg doch sehr stark ähnelten.“ Ulrike Merz überlegt berufsethische Grundsätze: „Man muss als Restaurator knallhart zu sich selbst sein und gegen den Wunsch vorgehen, einen Schlussstrich ziehen zu wollen, seine Arbeit mit einer endgültigen Aussage abzuschließen. Allein schon deshalb verbietet es sich, von der originalen Fassung zu sprechen, nur weil man keinen sicheren Nachweis einer noch älteren hat.“

Charakter der Andacht

Nun sind es also „Fassungsflecken“, deren frühere Farbigkeit man nur in der Nahsicht entdecken kann oder die wegen ihrer oft fast mikroskopischen Größe nur in der schriftlichen Dokumentation der Restauratorinnen nachzulesen ist. Es bleibt der Phantasie des Betrachters überlassen, frühere Farbfassungen zu komplettieren, sich  das ursprüngliche Aussehen dieser Sedes Sapientiae regelrecht auszumalen Worauf man Wert legte, ist eine Beruhigung des Erscheinungsbildes. „Ruhe ist ohnehin ein Schlüsselbegriff bei dieser Andachtsfigur“, sagt Ulrike Merz über eine der Leitlinien, die die Restauratorenarbeit bestimmte. Sie erklärt, wie man beim Restaurieren gezielt zum Beispiel weiße Grundierungsreste leicht lasierend abgedämpft hat, damit sie nicht so dominant ins Auge stechen. Optische Störfaktoren, wie ins Holz eingedrungene Bindemittel, wurden fein säuberlich entfernt.

Bei allem Nachforschen nach der früheren Farbigkeit, die letztendlich eine Bestätigung zeittypischer Stile ergibt: Was Restauratorin Ulrike Merz mehr zu begeistern scheint, ist etwas ganz anderes, was bei den Arbeiten sukzessive zutage trat. Je mehr Zeitebenen die Restauratorinnen „abschälten“, je mehr Zutaten sie entfernten, desto mehr gewann die Schnitzkunst an individueller Ausstrahlung. „Die frühen Fassungen haben die Raffinessen der Schnitzerei noch geschickt verlebendigt, sind ihr gefolgt. Aber was im Laufe der Jahrhunderte darüber geschah, vor allem was man der Figur im 19. und frühen 20. Jahrhundert antat, das hat die Arbeit des Bildschnitzers regelrecht verunstaltet. Man kann von einer grundlegenden Formveränderung sprechen“, so Ulrike Merz.

Sie holt einen Karton hervor: Was darin liegt lässt Brocken abgenommener Mumienbandagen assoziieren. Tatsächlich wurde die Sedes Sapientiae im 19. Jahrhundert gründlich überklebt – wohl in der Absicht, fragil-dünne Partien des Holzkerns zu verfestigen (...)

Überirdisches Gewand

Besuche im Atelier Ernst und die Verfolgung der „work in progress“ in den vergangenen Monaten lohnten: Im Nebeneinander von bereits freigelegten und noch überklebten Parteien wurde der Unterschied eklatant: Die dicken Gewebeschichten haben zum Beispiel die Gewandfalten zu runden Wülsten überformt – darunter aber tauchten fast gestochen scharf geschnitzte schmale Grate auf. Man sieht auf einmal, wie anschmiegsam Kleid und Mantel den Körper der Muttergottes umspielen, wie der hauchdünne Stoff fließt, weich über das Knie und dann in lockerem Schwung herabfällt.
Keine Frage, der Bildschnitzer war ein Profi, er wusste, wie man allein schon mit der Bearbeitung des Holzkerns abbilden konnte, dass diese Himmelsgöttin allerfeineste Gewandung von „überirdischer“ Qualität trug, die sich ein Normalsterblicher nie leisten konnte: Die Kleidung quasi als zweite Haut eines Körpers, der in dem Sinne ansehnlich war, weil kein Makel verdeckt werden musste, weil ein harmonischer Körper eine reine Seele widerspiegelte.

Vielleicht war es ja tatsächlich eine veränderte Auffassung davon, wie man standesgemäße Unterscheidungen in der Gewandung ausdrückte, so dass man bei den Bearbeitungen der Sedes Sapientiae im 19. Jahrhundert und in der Ära Andreas Schmid auf massige Opulenz setzte? All der Batz aus Geweben, Grundierungsschichten und Ölfarben plusterten die Figur üppig auf. Als eine Schulter freigelegt war, sah man, wie der überformte Mantel auf der anderen regelrecht lastete – als wäre es eine gepolsterte Bürde. Der blanke Holzkern zeigt eine wesentlich schmalere, zierliche Schulter – „das war sicher als Ausdruck der Bescheidenheit gedacht“, interpretiert Ulrike Merz. Zutage trat auch rund um den Halsausschnitt ein vom Schnitzer abgesetztes, nur etwa ein Zentimeter breites weiteres Kleidungsstück – vielleicht eine Art Unterkleid? In der letzten Fassung war es ignoriert und zum Kleid dazugehörig übermalt worden.

Geradezu baff war das Expertinnenteam, als es entdeckte, dass selbst der Abschluss des Mantels zum Boden hin ein Fake in dem Sinne war, Maria bombastisch aufzudonnern. Original trug Maria „midi“: Der Mantel, ein Cape, endete in antikisch-wohlgeordnetem, parallelem Faltenwurf frei schwebend auf Wadenhöhe. Das unterstrich die Suggestion, dass es sich um einen federleichten, grazil-eleganten Stoff handeln sollte. Eine ordentliche Robe, die etwas hermachen soll, muss wallen, werden sich hingegen die Formveränderer im 19. Jahrhundert gedacht haben und verlängerten den Mantel mit angeklebter Schnitzerei: Dann stand der Saum breit gebauscht auf dem Boden auf. Und weil das hinzugefügte Stoffvolumen nicht mehr in Einklang mit den Proportionen des antikisierenden Thronsessels stand, machte man auch diesen wuchtiger: An beiden Seiten verbreitern ihn hinzugefügte Treppenstufen. „Ein völliges Formmissverständnis“, kritisiert Ulrike Merz. Die Restauratorinnen haben es rückgängig gemacht.

Keine Amputation

Bei Antworten auf manche Fragen im Umgang mit Zutaten späterer Bearbeitungen ließen sich die Restauratorinnen Zeit – „einige Entscheidungen mussten erst während der Arbeit an der Figur reifen, wir mussten erst selbst einen Eindruck davon gewinnen, wie sich das Erscheinungsbild verändert.“ Das betraf zum Beispiel die Hände (...)

Mit dem „Abschminken“ des Gesichts warteten die Expertinnen bis zum Schluss. So gestochen scharf und kantig der Schnitzmeister bei der Gewandung arbeitete – das Gesicht erschien merkwürdig flach, geradezu aufgedunsen-schwammig, sehr gewöhnlich. In der Sichtfassung starrte einen die Gottesmutter aus leuchtend grünblauen, so gut wie nicht konturierten mandelförmigen Augen an. Auch die leicht geschwungenen, schmalen Lippen zeigten nur wenig Kontur. Markante Wangenknochen waren nicht zu sehen, auffallend spitz ragte hingegen die Nase heraus.

Jetzt ist sozusagen der Lack ab, die Restauratorinnen haben die „nackte Wahrheit“ bloßgelegt. Eine wunderbare Verwandlung: Das Antlitz der rund 700 Jahre alten göttlichen Dame erscheint jugendlich-frischer denn je. Ohne Maskerade sieht man das individualisierende Gesicht einer gelassen-freundlichen jungen Frau.

Sehr wohl entdeckt man nun geradezu unscheinbar modellierte Wangenknochen, dagegen ein  deutlich hervorspringendes kleines, rundes Kinn. Die Nase hat Tiefe bekommen, weil man seitlich eingekerbte Falten freilegte. Auch die Augenpartie ist ausgearbeitet, hat leicht hängende Lider und sogar Tränensäckchen. Fast möchte man sich in den Augenwinkeln Lachfältchen hinzudenken – genauso wie in den Mundwinkeln. Dazu passen die freigelegten Grübchen auf den Wangen.

Die Mundpartie hat der Schnitzmeister intensiv gestaltet: Über der kleinen, weich-gewölbten Unterlippe ragt die Oberlippe leicht hervor mit einem markant gratig herausgearbeiteten geschwungenen Oberlippenrand. Als würde es diesen auch als „Amorbogen“ bezeichneten Lippenschwung bändigen wollen, zieht sich das Philtrum, also die Längsrinne über dem Mund, zur Nase empor. Das griechische „philtron“ wird mit „Liebeszauber“ übersetzt – in der Antike (wohl nicht nur damals) galt dieser Gesichtsteil als besonders erotisch.

War das den Restauratoren beziehungsweise ihren Auftraggebern späterer Zeit doch zuviel irdische Schönheit? Haben sie deshalb die Gesichtszüge banalisiert, „nivelliert“? Die Restauratorinnen haben selbst aus den Nasenfalten Gewebeverklebungen und Kitt herausgepuhlt.

Ewige Jugend

Ganz bestimmt lag dem mittelalterlichen Bildschnitzer nicht im Sinn, die Gottesmutter sexy erscheinen zu lassen. Aber solche ausgeprägten Merkmale gerade der Mundpartie signalisieren seit jeher Spannkraft und damit Jugendlichkeit – ewige, natürlich. Und zwar weniger die körperliche als vielmehr die spirituelle, geistige – ein passendes Bild für den Typus der Sedes Sapientiae als Sitz der Weisheit (...) (Karin Dütsch)

Fotos: Jan Kopp

Lesen Sie den vollständigen, reich bebilderten Beitrag in der Juli/August-Ausgabe von UNSER BAYERN, die der BSZ Nr. 27 vom 6. Juli 2018 beilag.

Weitere Themen der Ausgabe:

• Die unblutige Revolution. Bayern und der 7. November 1918: Warum Kurt Eisner der Umsturz so reibungslos gelang
• Schwabings Skandalgräfin. Viele Liebhaber, immer pleite: Franziska zu Reventlow scherte sich nicht um Konventionen und lebte sich als Bohèmienne aus
• Tierische Narretei. Vom Schwanenteich zum modernen Zoo: Der Straubinger Zoo feiert sein 80-jähriges Bestehen
• Gefiederte Exoten. Über Bayerns Begeisterung im 19. Jahrhundert für Papageien und anderes nichtheimisches Federvieh
• Spannendes aus der Scherbenkiste. Was ein Lampenschirm in der Hofglasmalerei Gustav van Treeck über den Umgang mit Fragmenten alter Glasmalerei verrät
• In Freud und Leid. Geschichts-Kompendium und Love-Story: Die Hauschronik der Herzogin Alexandrine von Sachsen-Coburg und Gotha

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