Wirtschaft

Für viele Ältere reicht das Geld zum Leben nicht. (Foto: dpa/Daniel Karmann)

04.01.2022

Bayern hat die höchste Altersarmut bundesweit

Steuergeschenke für Wohlhabende und Sozialabbau für Arbeitnehmer

Die Wahl zum Deutschen Bundestag am 26. September 2021 brachte eine politische Zäsur für Deutschland. Mit 18,9 Prozent für die CDU und 5,2 Prozent für die CSU erzielten die Unionsparteien das schlechteste Wahlergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Nach 16 Jahren Unionsregierung wurden sie in die Opposition geschickt. Maßgebend dafür waren eine Bilanz großer Versäumnisse, ein Wahlprogramm ohne Inhalt und der falsche Kandidat. Zum Erbe dieser neoliberal geprägten Zeit gehören  Defizite bei der Modernisierung und Digitalisierung des Landes, im Gesundheitswesen und bei der Bildung, im Schutz vor Katastrophen und bei der sozialen  Gerechtigkeit. Deutschland wurde zu einem der ungleichsten Länder der Welt, mit dem größten Niedriglohnsektor Europas und beschämender Alters- und Kinderarmut in einem reichen Land. Vorsorge für die absehbare Pandemie wurde ebenso vernachlässigt wie der Kampf gegen den Klimawandel mit einem teilweise verfassungswidrigen Konzept. So sollte es nach dem gemeinsamen Regierungsprogramm von CDU und CSU auch nach der Wahl weitergehen: mit Steuergeschenken für Wohlhabende und  Sozialabbau für Arbeitnehmer.

Aufbruch statt Stillstand

Dementsprechend haben sich die Bürgerinnen und Bürger für einen Politikwandel entschieden, für Aufbruch statt Stillstand. Unter dem Motto „Mehr Fortschritt wagen“ hat die Ampelkoalition von SPD, Grünen und FDP ein „Bündnis für mehr Freiheit, mehr Gerechtigkeit und mehr Nachhaltigkeit“ mit der Koalitionsvereinbarung vom 24. November 2021 präsentiert. Darin greift sie alle drei großen Krisen unserer Zeit auf. Den Sieg über die Pandemie durch notwendige Schutzmaßnahmen und einen umfassenden Impfschutz bezeichnet sie als ihre derzeit vordringlichste Aufgabe. Durch mehr Gerechtigkeit bei den Chancen, der Leistung und der Arbeit sollen Gemeinsinn, Solidarität und Zusammenhalt in einer freien Gesellschaft neu bestimmt werden. Klimaschutz soll Freiheit, Gerechtigkeit und nachhaltigen Wohlstand sichern. Die Soziale Marktwirtschaft soll als eine sozial-ökologische Marktwirtschaft neu begründet werden.

Beim Kampf gegen die wachsende Ungleichheit setzt sich die Ampelkoalition deutlich von der Unionsregierung ab. Sie hat in den vergangenen 16 Jahren die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland um 20 Prozent vergrößert und wollte dies im Fall eines Wahlsieges mit massiven Steuerentlastungen zugunsten der Wohlhabenden und Besitzenden fortsetzen. Soziale Fortschritte wie die Einführung eines Mindestlohnes und einer Grundrente konnte die SPD in der Großen Koalition der Union nur mühsam abringen. Jetzt soll die Umverteilung von unten nach oben beendet werden: Ein angemessener Mindestlohn von zwölf Euro soll den Arbeitnehmern ein eigenverantwortliches Leben ermöglichen, Tariftreue bei öffentlichen Aufträgen soll zu mehr Tariflöhnen beitragen, ein Bürgergeld soll Hartz IV ersetzen, eine auskömmliche Rente soll gesichert bleiben und mehr bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden. Mit einer Grundsicherung für Kinder wird der Kampf gegen die Kinderarmut  aufgenommen. Millionen Menschen werden von diesen Maßnahmen profitieren, vor allem Geringverdiener, Eltern mit Kindern und Alleinerziehende. Die soziale Ungleichheit würde in Deutschland zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder sinken.

Auch beim Klimaschutz hebt sich die neue Bundesregierung deutlich von der Union ab, die diese Aufgabe zu Lasten der jungen Generation  vernachlässigt hat.  Die Rechte von Kindern und Jugendlichen sollen im Grundgesetz verankert und ihre politische Teilhabe durch ein Wahlrecht ab 16 Jahren gesichert werden. Ihre Zukunft soll entsprechend den Vorgaben des Pariser Vertrages und des Bundesverfassungsgerichts durch effektive Maßnahmen des Klimaschutzes gestaltet werden. Schon bis 2030 soll es ein Ende des fossilen Verbrennungsmotors und der Kohleverstromung geben, acht Jahre früher als von der Union gewollt. Bis dahin soll der Anteil der erneuerbaren Energien 80 Prozent erreichen. Ein neues Klimaschutzgesetz, ein Klimaschutz-Sofortprogramm bis Ende nächsten Jahres und ein Klimacheck für jedes neue Gesetz sollen den 1,5-Grad-Pfad konkret absichern. Die ökologische Transformation soll der deutschen Wirtschaft eine globale Vorreiterrolle für klima- und umweltfreundliche Technologien sichern.

Die Erneuerung der CDU

Für die CDU war es eine Niederlage mit Ansage. Sie ist nach dem Ende der Ära Merkel inhaltlich und strategisch orientierungslos.  Bereits in den nächsten Monaten steht sie wieder auf dem Prüfstand, im März im Saarland, im Mai in Nordrhein-Westfalen und in Schleswig-Holstein. In allen drei Bundesländern liegt sie hinter der SPD. Noch ist nicht klar, wie die Union ihre Rolle in der Opposition ausrichten will. Mit  dem Kampfbegriff „linksgelb“ wird vor der angeblich „strammsten Linksagenda, die Deutschland seit Jahrzehnten gehabt hat“ gewarnt. Mittlerweile setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Union nicht nur zu behäbig, sondern auch zu neoliberal und zu unsozial geworden ist. Es herrscht Konsens darüber, dass die Partei einer inhaltlichen Erneuerung bedarf. Für Horst Seehofer waren die sozialen Defizite der Unionspolitik maßgebend für ihre Wahlniederlage. Mit dem Mindestlohn von zwölf Euro ist es Olaf Scholz und der SPD gelungen, Millionen von Wählerinnen und Wählern ein Angebot zu machen, das nach jüngsten Umfragen auch 78 Prozent der Anhänger der Union befürworten.

Die Ampelkoalition hat auch Schwachstellen. Die größte ist die FDP, die weiterhin an ihrem neoliberalen Kurs festhält, der entgegen der Wertordnung des Grundgesetzes Freiheit und Profit Vorrang vor Leben und Gesundheit einräumt. Sie hat nicht nur ein überfälliges Tempolimit auf Autobahnen verhindert. Sie hat der neuen Bundesregierung mit der Beendigung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite einen fatalen Fehlstart beschert, der mehrfach korrigiert werden musste. Von Anfang an haben die Freien Demokraten den Kampf gegen Corona für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert. Christian Lindner hat schon im April 2020 den nationalen Konsens in der Pandemiebekämpfung aufgekündigt und das schwedische Modell der Herdenimmunität favorisiert. Noch im November 2021 hat er  Kontaktbeschränkungen für wirkungslos erklärt. Der unsägliche FDP-Vize Wolfgang Kubicki hat nahezu alle Einschränkungen als verfassungswidrig bezeichnet,  Ministerpräsident Söder unterstellt, er stelle eigene Karriereambitionen vor den Schutz der Bevölkerung, und einen möglichst raschen Freedom-Day gefordert. Mit der verantwortungslosen Behauptung, dass es vielen Befürwortern einer Impfpflicht um Rache und Vergeltung gehe, hat er sich in die Nähe der AfD gestellt. Marco Buschmann, jetzt Bundesjustizminister, hat das Ende der Pandemie zum 21. März 2022 ausgerufen. Die FDP-Fraktion hat erfolglos gegen Einschränkungen im Infektionsschutzgesetz geklagt. Das Bundesverfassungsgericht hat am 30. November 2021 die Grundregel unserer Verfassung bestätigt, dass das Gemeinwohl Vorrang hat vor Einzelinteressen.

Wie sich die CDU künftig positioniert, wird Ergebnis eines Prozesses sein, den der neue Vorsitzende gestalten wird. Friedrich Merz hatte mitten in der Finanzkrise ein Buch mit dem Aufruf „Mehr Kapitalismus wagen“ veröffentlicht. Jetzt beruft er einen Sozialpolitiker als Generalsekretär und nennt  die soziale Gerechtigkeit als größtes Thema für die Zukunft. Man darf gespannt sein, was das konkret bedeutet. Die Neuorientierung soll zwei Jahre dauern. 

Die Erneuerung der CSU

Die CSU hat nicht so viel Zeit. Im Herbst nächsten Jahres steht die Landtagswahl in Bayern an. Sie wird zur Schicksalswahl für die Partei, die sich in der größten Krise ihrer Geschichte befindet. Die 1962 erstmals errungene absolute Mehrheit behielt sie 46 Jahre. Unter den Ministerpräsidenten Alfons Goppel und Edmund Stoiber erreichte die CSU über 60 Prozent der Stimmen, zuletzt im Jahr 2003. Der Niedergang begann 2008 mit 43,4 Prozent, 2018 waren es 37,2 Prozent, 2021 nur noch 31,7 Prozent. In der Bundestagswahl haben die Ampelparteien in Bayern zusammen 3,2 Millionen Stimmen bekommen, ein Drittel mehr als die CSU mit 2,4 Millionen. Eine absolute Mehrheit 2023 ist illusorisch. Auch in Bayern könnte ihr der Absturz in die Opposition drohen, wie 1954.

Die CSU muss sich grundlegend erneuern und auf die Landtagswahl in Bayern konzentrieren. Nicht die Oppositionsarbeit in Berlin, sondern das Regieren in Bayern ist entscheidend. Symbole, Bilder und Ankündigungen genügen nicht, wenn keine Taten folgen. Politik muss gestalten und verändern, um den Herausforderungen der Zukunft, dem gesellschaftlichen Wandel und den Defiziten im Freistaat gerecht zu werden. Die CSU muss endlich jünger und weiblicher werden, aber auch sozialer und ökologischer. Sie sollte sich wieder auf das Erfolgsrezept einer sozial geführten Marktwirtschaft besinnen und neoliberalen Ballast abwerfen. Eine Volkspartei darf nicht nur für ältere und reichere Wähler attraktiv sein. Sie muss auch Anwalt der Jugend, der Frauen und der schwächeren Mitglieder der Gesellschaft sein. Ministerpräsident Söder hat sich in der Pandemie als Krisenmanager profiliert, der sein Handeln an Grundwerten und Fakten und nicht an ideologischen oder populistischen Zielen ausrichtet. Ebenso konsequent sollte er auch den weiteren Handlungsbedarf in Bayern angehen.

Der Handlungsbedarf

So hat die Pandemie erhebliche Defizite im bayerischen Gesundheitswesen  aufgezeigt. Es muss jetzt dauerhaft gestärkt werden durch Aufstockung und Besserstellung des Personals in Gesundheitsämtern,  Krankenhäusern und Pflegeheimen,  eine Reform der Fallpauschalen, eine Re-Kommunalisierung der stationären Grundversorgung und die noch immer nicht verwirklichte Digitalisierung.  

Bayern soll bereits 2040 klimaneutral sein, fünf Jahre vor dem Bund. Es fehlt ein effizientes Klimaschutzgesetz mit konkreten Maßnahmen und Meilensteinen, vor allem für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Zum Jahresende wird Isar 2 als letztes Atomkraftwerk abgeschaltet. Bayern wird seinen Strombedarf nicht mehr selbst decken können und damit einen Standortvorteil verlieren.

Beim Umweltschutz war Bayern dank der visionären Politik von Ministerpräsident Goppel lange Zeit Vorreiter. Erst ein erfolgreiches Volksbegehren von 1,75 Millionen Bürgerinnen und Bürgern hat den Artenschutz in Bayern wieder vorangebracht. Noch immer ist der von Ministerpräsident Seehofer angekündigte dritte Nationalpark nicht verwirklicht.

Im Freistaat herrscht die höchste Altersarmut bundesweit. Die Tarifbindung ist durch Tarifflucht der Arbeitgeber in den letzten zehn Jahren kontinuierlich gesunken. Bayern hat heute – anders als zur Amtszeit von Edmund Stoiber - als einziges Bundesland neben Sachsen kein Tariftreuegesetz für öffentliche Aufträge. Auch ein Weiterbildungsgesetz für Arbeitnehmer gibt es hier nicht. Bezahlbare Wohnungen sind in Bayern Mangelware.

Die Hightech-Agenda ist 20 Jahre nach der High-Tech-Offensive ein Meilenstein für Hochschulen und Forschung in Bayern. Doch die Ausgaben für die Schulen liegen deutlich unter dem Bundesniveau. Die Lehrkräfte an Grund- und Mittelschulen, zu 90 Prozent Frauen, sollten endlich  ebenso besoldet werden wie an weiterführenden Schulen, was in den neuen Ländern Standard ist. Bei einem Etat von 70 Milliarden Euro würde das nicht einmal ein Prozent ausmachen. Bei den Ganztagsschulen, die sozial benachteiligten Schülern gerechte Bildungschancen sichern, darf Bayern nicht mehr Schlusslicht sein.

Wer die Jugend an sich binden will, sollte ihnen das Wahlrecht ab 16 Jahren zumindest auf Landes- und Kommunalebene nicht verweigern. In Österreich, wo die Volljährigkeit nach wie vor bei 18 Jahren liegt,  gibt es das schon seit 2007. Konservative Parteien haben nicht darunter gelitten. Ihre politische Reife haben junge Menschen hinreichend bewiesen. Ihnen ist die Entscheidung zur Generationengerechtigkeit zu verdanken, nicht den etablierten Politikern.

Die bäuerliche Landwirtschaft ist die „Seele Bayerns“, so Ministerpräsident Söder 2018. Dennoch geht das Sterben der Bauernhöfe zugunsten von Agrarfabriken ungebremst weiter. Schon Franz Josef Strauß hat eine  Flächenbindung der Tierhaltung gefordert, um die artwidrige Massentierhaltung zumindest einzudämmen. Es ist an der Zeit, den angekündigten Jahrhundertvertrag endlich zu konkretisieren.

Die Bayerische Verfassung fordert gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land. Gleichwohl schrumpfen im ländlichen Raum, wo die CSU traditionell stark ist, über 40 Prozent der  Landgemeinden, vor allem in Nord- und Ostbayern. Der Ausbau des Schienennetzes und der digitalen Infrastruktur wurde eklatant vernachlässigt. Fünf bayerische Landkreise sind bundesweit am schlechtesten mit Bus und Bahn erreichbar. Der höchste Flächenverbrauch in Deutschland zersiedelt und versiegelt die bayerische Landschaft. Die Ablehnung einer eigenen Grundsteuer für unbebaute innerörtliche Grundstücke belohnt  die Bodenspekulanten.

Eine neue Zukunftsoffensive

Die CSU war Anfang der 90er Jahre schon einmal in einer sehr prekären Situation, als die Umfragen unter 40 Prozent gefallen waren und die Krise nach der deutschen Einheit zur bundesweit höchsten Arbeitslosigkeit führte. Edmund Stoiber hatte von seinem Amtsantritt im Mai 1993 bis zur Landtagswahl im September 1994 keine anderthalb Jahre Zeit, darauf zu antworten. Er tat es mit einem umfassenden Reformkonzept über alle politischen Handlungsfelder hinweg. Oberstes Ziel war es, gute Arbeit zu schaffen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und das Land für die Globalisierung und das Internetzeitalter zu modernisieren. Bei der Privatisierung von Staatsbeteiligungen, der Konzentration auf Innovationen, dem Beschäftigungspakt mit Gewerkschaften und Arbeitgebern und einer Regionalpolitik von unten nach oben hat er sich auch durch Widerstände nicht beirren lassen. Damit wurde nicht nur die Grundlage für den heutigen Wohlstand im Freistaat geschaffen. Dank breiter Unterstützung in der Bevölkerung bekam die CSU zum einzigen Mal in ihrer Geschichte eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bayerischen Landtag. Es wäre an der Zeit, wieder eine neue Zukunftsoffensive zu starten, nicht als Kopie der Offensive Zukunft Bayern, sondern als Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Bayern sollte nicht nur mehr Fortschritt wagen, sondern an der Spitze des Fortschritts marschieren. So hatte schon Franz Josef Strauß definiert, was konservativ sein bedeutet.
(Rudolf Hanisch)

(Der Autor war Vizevorstandschef der BayernLB und Staatskanzleichef unter Ex-Ministerpräsident Edmund Stoiber.)

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