Wirtschaft

Manfred Gößl glaubt, dass sich die globalen Lieferketten nach der Corona-Krise verändern werden. (Foto: IHK München)

27.03.2020

„Die Digitalisierung erfährt einen Schub“

Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Industrie- und Handelskammertags, über die ökonomischen Folgen der Corona-Krise für den Freistaat

Zur Bewältigung der Corona-Krise stellt der Freistaat 20 Milliarden Euro zur Verfügung. Doch der genaue Schaden für die bayerische Wirtschaft durch den Shutdown ist noch nicht absehbar. Manfred Gößl, Hauptgeschäftsführer des Bayerischen Industrie- und Handelskammertags, erklärt die Auswirkungen der Krise.

BSZ: Herr Gößl, viele Lieferketten sind unterbrochen. Wie hoch ist in etwa der Schaden für Bayerns Wirtschaft pro Woche?
Manfred Gößl: Der Schaden ist nicht abzuschätzen. Die Kosten werden wohl alles übersteigen, was wir aus den Wirtschaftskrisen in der Nachkriegsgeschichte kennen. Klar ist, dass als Folge der Corona-Pandemie die Konjunktur regelrecht einbricht. Im verarbeitenden Gewerbe, das stark exportgetrieben ist, ist der aktuelle ifo-Geschäftsklimaindex auf den niedrigsten Stand seit August 2009 gefallen. Einen stärkeren Rückgang gab es im wiedervereinigten Deutschland noch nie.

BSZ: Wie sieht es im Freistaat konkret aus?
Gößl: In Bayern ist es seit dem verordneten Katastrophenfall und der seit letztem Wochenende geltenden Ausgangsbeschränkung zu umfassenden Betriebsschließungen im Handel- und Dienstleistungsbereich mit Null-Umsätzen gekommen. Viele Industrieunternehmen haben Produktionskürzungen vorgenommen, manche gar ihre Werke zeitweilig geschlossen. Vom aktuellen Produktionsstopp in Italien ist Bayern unmittelbar betroffen: Unser europäischer Nachbar war 2019 der weltweit viertwichtigste Handelspartner für die bayerischen Unternehmen mit einem Handelsvolumen in Höhe von 24,6 Milliarden Euro.

BSZ: Und wie sieht es international aus?
Gößl: Mit Blick auf die globalen Lieferketten verlangsamen sich die Lieferungen aus China und Asien erst jetzt. Allein die Verluste auf der Asien-Europa-Route in den rund neun Wochen seit Ende des chinesischen Neujahrsfestes schätzen Experten auf über 700.000 Container (20-Fuß-ISO-Container). Das wird zwangsläufig zu Lieferengpässen in der bayerischen Industrie führen.

BSZ: Wie sehr trifft das Bayerns Autoindustrie?
Gößl: Bereits jetzt gibt das Kieler Institut für Weltwirtschaft für den Fahrzeugbau, eines der Schwergewichte der deutschen Wirtschaft, Produktionsbeschränkungen um bis zu 70 Prozent an. In Bayern entfielen 2019 allein rund 30 Prozent der Ausfuhren auf den Fahrzeugbau. Das entspricht etwa 57 Milliarden Euro. Waren im Wert von rund 30 Milliarden Euro wurden bei gut funktionierenden Lieferketten importiert.

BSZ: Funktionieren die Lieferketten innerhalb Europas noch?
Gößl: Die innereuropäischen Lieferketten haben große Bedeutung. Unter den zehn wichtigsten Absatzmärkten für Bayern lagen 2019 acht in Europa. Bei den zehn wichtigsten Beschaffungsmärkten waren es sogar neun. Um die bayerische Produktion am Laufen zu halten sind Zulieferungen, vor allem aus Osteuropa, entscheidend.

Bayern ist Gewinner der internationalen Arbeitsteilung

BSZ: Rächt sich jetzt die internationale Arbeitsteilung?
Gößl: Unter dem Strich sind die Unternehmen und die Arbeitnehmer in Bayern die Gewinner der internationalen Arbeitsteilung. Die Erfolgsgeschichte Bayerns, ob in der Industrie, bei den technologischen Dienstleistungen, aber auch im Tourismus, wäre ohne Internationalisierung nicht geschrieben worden. Leider muss unsere Wirtschaft schon seit geraumer Zeit mit der zunehmenden Abschottung der internationalen Märkte kämpfen. Allein 2019 zählten wir weltweit 425 Handelsblockaden und Investitionshürden. Unsere Unternehmen brauchen nichts dringender als den freien Handel und offene Märkte.

BSZ: Beides gibt es derzeit nicht.
Gößl: Jede Medaille hat zwei Seiten. Die Corona-Krise verdeutlicht, dass das Prinzip der Just-in-Time- oder auch Just-in-Sequence-Lieferungen für unsere Industrieproduktion große Risiken birgt und störanfällig ist. Die Unternehmen müssen deshalb die Robustheit ihrer Lieferketten hinterfragen.

BSZ: Also wieder mehr in Deutschland produzieren?
Gößl: Ob das jedoch zu einer großen Welle von Zurückverlegung von Produktionsschritten nach Deutschland führt, ist fraglich. Es ist eher wahrscheinlich, dass die Lieferketten auf die großen Absatzmärkte in Asien, Nordamerika und Europa ausgerichtet, das heißt stärker regionalisiert werden. Dies steigert die Kosten, senkt aber das Versorgungsrisiko. Die Globalisierungsstrategie in Reinform, nämlich an einem einzigen Produktionsstandort für die ganze Welt zu produzieren, könnte als Konsequenz der Corona-Krise und des zunehmenden Protektionismus ein Auslaufmodell werden. Mit der Corona-Krise wird offensichtlich, dass wir in einigen Bereichen mehr Wert auf nationale Versorgungssicherheit legen müssen.

Produkte der Grundversorgung wieder hier produzieren

BSZ: Was müsste hierzulande wieder produziert werden, und unter welchen Bedingungen wäre das möglich?
Gößl: Ich denke an bestimmte medizinische Notfallgeräte, Arzneimittel sowie natürlich die Produkte der Grundversorgung. Hier müssen wir unsere Abhängigkeit von ausländischen Märkten gezielt abbauen. Wenn die Politik das erreichen will, muss sie aber die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen für die Unternehmen so gestalten, dass es für die Betriebe wirtschaftlich ist, hier zu produzieren.

BSZ: Was heißt das konkret?
Gößl: Attraktive Standortfaktoren werden für ein Unternehmen immer die entscheidende Rolle spielen. Und hier muss der Staat die Weichen in die richtige Richtung stellen – also die Steuerbelastung für Unternehmen verringern und vor allem die Energiekosten senken. Außerdem wird eine Lehre der Corona-Krise sein, mehr staatliche Unterstützung für ausgewählte Produkte und Sektoren aufzubringen, die die nationale Versorgungssicherheit im Notfall gewährleisten.

BSZ: Welche Produkte wären das?
Gößl: Es geht um die Versorgung der Bevölkerung und der Unternehmen mit Energie-, IT- und Transportdienstleistungen, mit Einrichtungen des Gesundheits- und des Finanzwesens sowie im Bereich des Trinkwassers und der Ernährung. Wir lernen gerade jetzt, dass Wertschöpfungsketten für lebenswichtige Medikamente und medizintechnische Geräte oder für Schutzausrüstungen, aber auch für einige Lebensmittel oder Hygieneartikel des täglichen Bedarfs noch nicht pandemiefest sind. Außerdem müssen die Notfallkapazitäten in den Krankenhäusern erhöht werden. Insgesamt werden wir nicht nur pandemie-, sondern auch demografiebedingt deutlich mehr Mittel für den Gesundheits- und Pflegesektor aufwenden müssen, im Übrigen auch für die Bezahlung der dort engagierten Menschen.

Digitale Kommunikation beschleunigt sich

BSZ: Jede Krise bietet auch Chancen. Welche sehen Sie?
Gößl: Die Digitalisierung erfährt schon in der Krise einen Schub. Unter Druck beschleunigt sich die digitale Kommunikation quer durch die ganze Gesellschaft. Wenn sich in den Unternehmen Videokonferenzen, Internet-Meetings und Homeoffice als ähnlich produktiv erweisen, werden Geschäftsreisen und Vor-Ort-Termine höchstwahrscheinlich auch strukturell abnehmen. Weiterhin werden jetzt viele Unternehmen unmittelbar dazu gezwungen, über digitale Geschäftsmodelle und neue digitale Absatzkanäle nachzudenken. Auch wird nun das Verständnis noch größer, welche Chancen im E-Government stecken.
Insgesamt lernen wir, wie jeder an seiner Stelle und die Gesellschaft insgesamt professionell, besonnen und entschlossen im Krisenfall reagieren können. Die nächsten Wochen werden beweisen, welche Instrumente sich bewähren und welche nicht. Und die bewährten Instrumente werden bei der nächsten Krise unverzüglich wieder zum Einsatz kommen.

BSZ: Was kann man aus der Krise noch lernen?
Gößl: Wer schon einmal eine Krise durchgestanden hat, ist widerstandsfähiger und damit stärker geworden. Das ist die wichtigste Chance, die in jeder Krise enthalten ist. Und diese gewonnene Resilienz werden wir brauchen. Die Zeit nach der Krise wird uns gemeinsam sehr herausfordern.
(Interview: Ralph Schweinfurth)

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