Wirtschaft

München vor prachtvoller Alpenkulisse. (Foto: dpa/Peter Kneffel)

25.08.2020

Die Stadtbevölkerung zieht’s verstärkt aufs Land

Die Corona-Krise kann Impulse dafür liefern, die ländlichen Räume aufzuwerten

Metropole versus Dorf: Die Verstädterung des Freistaats und der Welt ist in vollem Gange – und wird uns für immer verändern. Wenn da nicht eine kleine Gruppe Unbeugsamer dies infrage stellen würde. Was ist schon die Landeshauptstadt, wenn der Zaubertrunk der bayerischen Seele in einem Kessel zwischen Hornvieh und Erntemaschinen gebraut wird?

Das diesjährige Sommerkolloquium der Bayerischen Akademie Ländlicher Raum (ALR) und Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) demonstrierte frühzeitig nach den Lockerungen der Corona-Pandemie, dass es die Herausforderung der Krise verstanden und angenommen hat. Mit Gesichtsmaske, unter Einhaltung der Abstandsregeln und ausreichend Möglichkeiten zur Desinfektion, suchte die Veranstaltung unter dem Thema „Corona und die große Transformation: Perspektiven für die ländlichen Räume?“ – einen Impuls für einen tragfähigen Innovationssprung im politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Handeln.

Infrastrukturschwache Räume stärken

Den ländlichen Raum allein als die Abwesenheit von Verstädterung zu verstehen, wäre zu kurz gedacht. Die Gleichung zwischen Urbanisierung und Stärkung infrastrukturschwacher Räume geht nur auf, wenn nachhaltige Innovationen in Technik, Kommunikation und Bildung zur Lösung dieser großen Herausforderungen beitragen. Darüber ist sich die Diskussionsrunde am runden Tisch der Veranstaltung einig. Dennoch bremst der Sog der Metropolen den Schwung einer Revitalisierung in dem von Abwanderung und Verödung gefährdeten ländlichen Räumen aus.

In Deutschland liegt der Anteil der Landbevölkerung schon heute bei knapp 25 Prozent; für 2050 prognostiziert eine Studie der United Nations hierzulande gar ein Verhältnis von 84 Prozent Stadt- zu 16 Prozent Landbewohner*innen. Zuwanderer zieht es in die Großstädte, weil dort Verwandte leben oder sich Gemeinschaften aus Landsleuten gebildet haben. Senior*innen versprechen sich indes eine bessere Versorgung, ein attraktiveres Freizeitangebot und mehr soziale Kontakte. Hinzu kommt, dass in Bürozentren viele neue Arbeitsplätze entstehen. Doch kein Trend ohne Gegentrend wie es ALR-Ehrenpräsident Holger Magel aus seiner langjährigen Tätigkeit weiß. Auch das Dorfleben wird wieder interessanter, gerade für Städter, so der Professor. Wer hat schon Lust, sich neben 400 anderen in einem U-Bahnwaggon die Beine in den Bauch zu stehen.

Bayerische Vielfalt statt Globalisierung

In seiner Begrüßungsrede geht Magel Hinweisen nach, inwieweit die Corona-Pandemie ungeplant als Wegbereiter eines Trends dienen könnte, der sich seit Jahren als Stimme der Nachhaltigkeit immer stärkeres Gehör verschafft hat: der Deglobalisierung. Dem einheitlichen neoliberalen Denken könnte in Form dezentraler wirtschaftlicher Prozesse in lokalen Gemeinschaften des Freistaats eine bayerische Vielfalt entgegengestellt werden.

Das Presseecho fällt dazu, wie Magel zeigt, sehr deutlich aus: keine Krise ohne eine Chance. Und so könnte der heftige Konjunktureinbruch durch Corona und die medizinische Notwendigkeit zum Social Distancing, den vor zehn Jahren einsetzenden schleichenden Trend verstärken und die ländliche Region mit ihrem ureigenen Charakter des sozialen und wirtschaftlichen Zusammenlebens stärker in die Logik des Marktes der Zukunft mit einzubeziehen.

Den globalen Lieferketten würde die lokale Daseinsvorsorge im Sinne des Gemeinwohls, wie die Sicherung von Gesundheit, Bildung, Wohnen, Verkehr, Energie, den Rang ablaufen. Corona könne somit als Impuls Möglichkeiten schaffen, dass nationale Wirtschaftsaktivitäten wieder zurück auf die lokale und regionale Ebene geholt werden, gerade jetzt, wo Metropolen während Corona viel von ihrem Glanz verlieren. Wenn das bisherige Dogma freier Märkte bedroht ist, so steht die staatliche Fähigkeit zum Schutz des Lebens seiner Bürger auf dem Prüfstand. „Was sich schon vor Corona angekündigt hat, nämlich der Rückzug vom allzu gewährenden, nur moderierenden und liberal steuernden Staat ist nun nahezu disruptiv auf die politische Prioritätenagenda gestürmt“, so Magel. Der resiliente Staat, wie ihn der Soziologe Reckwitz aus der Taufe gehoben hat, schafft Freiräume für eine starke Landes- und Landentwicklung. „Angesichts der besonders coronageplagten und -anfälligen Großstädte erfährt der ländliche Raum eine neue Wertschätzung.“

Allerdings ist dies aus der Sicht von Magel „alter Wein in neuen Schläuchen“: „Fast 30 Jahre nach dem RIO Gipfel und Jahre nach heißen Schwüren zur Einhaltung der SDGs reibt man sich etwas verwundert die Augen. Was soll daran neu sein?“ Die Nachhaltigkeitsziele der UN (Sustainable Development Goals, SDGs) sind als politische Zielsetzung zur raschen und ambitionierten Umsetzung in der 2017 von der Bundesregierung verabschiedeten Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie eingegangen.

Magel betont, dass die Streiter für eine starke Landes- und Landentwicklung „jahrelang mit solchen Forderungen auf verlorenem Boden stehend, eine Ökologisierung der Agrarpolitik gefordert haben“ und hofft, dass die jüngst durch Ministerpräsident Söder proklamierte Forderung für Deutschland nach Agrarökologie statt Agrarkapitalismus „tatsächlich als neu zu praktizierenden Teil der (landschafts)ökologischen Wissenschaft und nicht nur als Fortsetzung mehr oder weniger herkömmlicher ‘Landwirtschaft nach guter fachlicher Praxis’“ verstanden werden kann.

Werkstatt für die ländliche Kommune von morgen

Zwar ist der Ruf nach mehr Digitalisierung für den ländlichen Raum bereits bei den Entscheidungsträgern in Politik und Telekommunikation angekommen, nunmehr ginge es vielmehr darum, so Magel, diese „auch für ein entfernungsunabhängigeres Leben und Arbeiten konsequent und im Verbund mit anderen Maßnahmen zu nutzen und weiterzuentwickeln.“ Dass dies in der praktischen Umsetzung nicht unbedingt ein Selbstläufer ist, berichtete Wirtschaftswissenschaftlerin Diane Ahrens in ihrem Impulsstatement „Räumliche Unabhängigkeit dank Digitalisierung?“. Neben ihrer Lehre an der Technischen Hochschule Deggendorf leitet die Professorin am Technologie Campus Grafenau ein multidisziplinäres 40-köpfiges Forschungsteam, spezialisiert auf Digitalisierung und künstliche Intelligenz, das unter anderem drei der fünf digitalen Modelldörfer in Bayern betreut.

Die von der Staatsregierung geförderten „Dörfer der Zukunft“ haben Modellcharakter für ganz Deutschland. Als „living labs“ dienen sie dazu, Ansätze zur Realisierung des Projekts zur dörflichen Digitalisierung zu finden und Erfahrungen bei der physischen Umsetzung zu sammeln. Die experimentelle Werkstatt für die ländliche Kommune von morgen hat durchgängig eine hohe Akzeptanz und Mitwirkung bei den Bürgern erfahren, wie Ahrens berichten konnte.

Ob Alpendorf, Bayerischer Wald oder auf der Allgäuer Alm, die soziale und ökologische Transformation für ein zukunftsfestes Bayern macht sich nicht von allein. Das ist eine der wichtigsten Lektionen, die die „heterogenen Querdenker“ – so die Eigennennung der Forschungsgruppe – rund um Diane Ahrens ausmachen. Wo etwa 67 Prozent aller Befragten sich wünschen, auch nach der Corona-Pandemie bis zu zwei Tage pro Woche im Homeoffice arbeiten zu können, bedarf es dringend politischer Strategien, die den Trend auffangen und kanalisieren.

Erhöhter Siedlungsdruck durch Corona

Umlandgemeinden sehen sich durch Corona mittlerweile einem erhöhten Siedlungsdruck ausgesetzt. Die zunehmende Beliebtheit des Homeoffice bringt es mit sich, dass Bewohner immer häufiger davon ausgehen, nicht mehr unbedingt fünfmal die Woche ins Büro in der Stadt zu müssen. Mit dem Wohnraumproblem gehen die Gemeinden unterschiedlich um. Vorhandene Flächenreserven werden häufig für große Neubaugebiete herangezogen. Eine Entwicklung, die Magel äußerst kritisch sieht: „Da helfen minimalinvasive Sofortmaßnahmen wie die erleichterte Ausweisung und das Hinkleben neuer Baugebiete an den Rand innenentleerter Dörfer nicht allzu viel“. Die ersten Zahlen des aktuellen Immobilienmarkts veranschaulichen, dass die Corona-Pandemie als Katalysator für dezentrales Arbeiten bereits jetzt erahnen lässt, wie dringend die Kommunen der ländlichen Regionen bei einer anstehenden verantwortungsvollen Zukunftsplanung von der Übertragung der Erfahrungen der Modelldörfer profitieren könnten.

Die Entwicklung des ländlichen Raumes im heutigen China vollzieht sich in einer beispiellosen Größenordnung, wie Michael Klaus, Leiter des HSS Programms Entwicklung ländlicher Räume in China, zu berichten wusste. In weniger als fünfzig Jahren ist China von einem der ärmsten Länder der Welt zur Top-Wirtschaftsmacht aufgestiegen. Immer noch leben 30 Millionen Chinesen unterhalb der Armutsgrenze von nur zwei Dollar am Tag. Während die Zentralregierung unverändert auf Urbanisierung setzt, vollzieht sich dennoch ein politischer Wandel im Umgang mit dem ländlichen Raum.

Nachdem Tausende Dörfer abgesiedelt und eingeebnet wurden, hat sich China zum Ziel gesetzt, die Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Landbevölkerung zu verbessern und gleichzeitig zu einem Gleichgewicht zwischen Stadt und Land beizutragen. Hierbei sind Beiträge zu räumlicher Gerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit und Generationengerechtigkeit von zentraler Bedeutung. Mit dem Repräsentanzbüro Shandong leistet die Hanns-Seidel-Stiftung einen wichtigen Beitrag zu Armutsminderung. Die Experten der HSS stellen ihr Know-how zur Verfügung, um lokale Verwaltungen bei einer umfassenden Dorferneuerung und Flurneuordnung zu beraten. Bayerische Erfolgsgeschichten ländlicher Entwicklung dienen dabei als Vorbild.

Denkanstöße für die Zeit nach Corona brachte auch Michael Molls, Direktor des Institute for Advanced Study (IAS), mit in das Sommerkolloquium ein. Unter der Führung des Sprechers der Senior Excellence Faculty der TU München entstand in den letzten Monaten ein Schriftwerk mit einer Vielzahl von prägnanten Denkanstößen für die Zeit nach der historischen Corona-Krise, in das das gesamte Kompetenzspektrum der TUM mit einging und eine Orientierungshilfe für eine sichere und nachhaltige Entwicklung bietet.

Internet, Logistiksysteme und Sharing Economy

Ob China oder Bayern, ein Gefühl der Nostalgie gegenüber ländlichen Gegenden ist beiden Regionen eigen. Die Regionalentwicklung ist zu einem neuen Versuchsfeld geworden. Durch innovative Konzepte, das Internet, Logistiksysteme und die Sharing Economy eröffnen sich für diese Orte immense Möglichkeiten. Ob nun wirklich dauerhaft das Dorf „in“ ist, und Metropolen „out“, wie die Neue Züricher Zeitung es im Mai 2020 in einem Gastkommentar provokant formulierte, bleibt dahingestellt. „Wir brauchen endlich Verstetigung und eine durch Corona gar verschärfte Beschäftigung mit der Notwendigkeit und den Bedingungen ländlichen Lebens und Wirtschaftens als Pendant zur ebenfalls unverzichtbaren Stadt,“ so Magel. „Arbeitsplatz und hohes Einkommen sind natürlich wichtig, sehr wichtig sogar. Allein – sie bedeuten nicht alles.“

Das Sommerkolloquium jedenfalls ließ keinen Zweifel daran, dass es die Qualitäten des ländlichen Raums neu zu bewerten gilt – und sie ein Muster zur Orientierung auf dem Weg zu einer nachhaltigen Transformation der bayerischen Infrastruktur in eine Post-Corona-Realität sein könnten. Eine entschiedene politische Antwort wäre dabei ein ebenso intensiver Impuls, wie die bewusstseinsschärfende Corona-Pandemie.
(Rebecca Koenig)

Kommentare (1)

  1. Oberlandler am 26.08.2020
    dann sollte man auch entsprechend dem Landesentwicklungsplan auch wirklich mal dafür sorgen dass IN GANZ BAYERN gleichwertige Lebensbedingungen herrschen und auch strukturschwachere Regionen für so eine "Landflucht" attraktiver machen. nicht das wieder nur die ohnehin überbevölkerten Bereiche zwischen Ingolstadt, München und Oberland herhalten müssen! Mach mal Söder!! Aufgehts!! schon lange überfällig!
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