Wirtschaft

Hier entsteht der Siemens-Campus. Doch das Erlanger Projekt bekommt Konkurrenz. In Berlin will Siemens einen Zukunftscampus bauen. (Foto: Greiner)

16.08.2018

Einstiges Siemens-Herz schwächelt

Die Neustrukturierung der AG führt zu einer Schwächung des Standorts Erlangen

Viele Siemens-Vorstände hatten jahrzehntelang nicht nur ihre Chefbüros, sondern auch ihren Lebensmittelpunkt in Erlangen. Alle Industrie-Bereiche verantworteten von dort aus ihr Weltgeschäft. Der denkmalgeschützte „Himbeerpalast“ war neben dem Wittelsbacherplatz in München die Schaltzentrale der Siemens AG, die Aufsichtsratsvorsitzenden Hermann Franz und Heinrich von Pierer entwickelten dort und in ihren Häusern am Erlanger Burgberg die Strategien, wie es mit Siemens in der Zukunft weitergehen sollte. Erlangen galt denn auch als heimliche Hauptstadt der Siemens-Welt, die Wirtschaftswoche sah Erlangen als „Zentrum der Wertschöpfung im Konzern“, dort schlug das Siemens-Herz.

Alles ist anders


All das ist in kürzester Zeit, seit der Niederbayer Josef Käser, seit seinem USA-Aufenthalt Joe Kaeser, 2013 das Heft in die Hand genommen hat, anders geworden. Er krempelte innerhalb von fünf Jahren zum zweiten Mal den Konzern entscheidend um und verlagerte die operative Verantwortung endgültig von Erlangen weg. Mit der „Vision 2020+“ hat Kaeser der Siemens AG eine neue Struktur übergestülpt und drei „Operating Companies“ geschaffen, in denen die bisherigen Divisionen aufgehen. Sie alle operieren nicht mehr von Erlangen aus: „Gas and Power“ mit 71 000 Mitarbeitern weltweit und 21 Milliarden Euro Umsatz sitzt im fernen texanischen Houston, „Smart Infrastructure“, ebenfalls mit 71 000 Mitarbeitern und 14 Milliarden Euro Umsatz, wird vom Steuerparadies Zug in der Schweiz dirigiert, und „Digital Industries“ (78 000 Mitarbeiter, 14 Milliarden Euro Umsatz) ist ins benachbarte Nürnberg umgezogen. Die Medizinsparte mit dem Kunstnamen Healthineers teilt sich inzwischen weitgehend mit dem immer wichtiger werdenden Standort Forchheim die Kompetenz, die endgültigen Entscheidungsträger sitzen allerdings in München. Und der Zughersteller Siemens Alstom, um dessen Fusion EU-Kommission und Aktionärsvertreter noch streiten, soll von Alstom-Chef Henri-Puopart Lafarge aus der Schweiz geführt werden. In Erlangen hat heute nur noch ein einziger aktueller Siemens-Vorstand seinen ständigen Wohnsitz: Finanzchef Ralf Thomas.

Dazu drohen Erlangen noch stärkere Stellenstreichungen als bisher befürchtet. Die von Kaeser vorangetriebene Verschlankung und Vereinfachung der Konzernstruktur beunruhigt etwa 2000 von insgesamt 9000 Mitarbeitern des Standorts G in Erlangen. Sie haben bisher Zentral- und Querschnittsfunktionen ausgefüllt, die bei einer schleichenden Auflösung des Mischkonzerns nur noch zum Teil benötigt werden. Und da die vorgesehenen Werksschließungen wie beispielhaft in Görlitz und Offenbach nun doch auf die lange Bank geschoben werden, muss Siemens an anderer Stelle Personal einsparen. Da bleibt als Ausweg ein Abbau in Erlangen. Betriebsrat Manfred Bäreis: „Weil die Engineering-Kapazitäten wie etwa im Rhein-Main-Gebiet zur Hälfte bleiben, sind wir hier in Erlangen massiver betroffen.“ Auch sein Kollege Gerald Eberwein blickt angesichts der neu gegründeten „Mobility GmbH“ voller Sorgen in die ungewisse Zukunft: „Die Abtrennung der Bahnsparte bedeutet brutale Einschnitte in die Arbeitsorganisation. Das wird eine Katastrophe.“

Die Gewerkschaftsvertreter sind in der Mutmaßung vereint, am Ende könnte aus dem einstigen funktionierenden Technologie-Konzern eine Holding werden. IGM-Vorstand und Siemens-Aufsichtsrat Jürgen Kerner: „Den Weg in eine Holdingstruktur werden wir nicht akzeptieren. Das Filetieren bei Konzernen mit breitem Portfolio ist momentan zwar ein beliebtes Spiel der Finanzmärkte, ein Unternehmen wie Siemens kann aber aus eigener Stärke agieren.“ Wenn er sich da mal nicht täuscht: General Electric, Hauptkonkurrent von Siemens auf den Weltmärkten, schrumpft sich nicht nur in Deutschland klein und trennt sich von Healthcare, Öl und Gas sowie Distributed Power, auch Thyssenkrupp steht vor einer Aufspaltung. Kaeser hält sich zurück, nimmt das Wort Holding nicht in den Mund, spricht aber von „Optionalitäten“.

Erstnotiz an der Börse


Und wer sich erinnern will: Vor vier Jahren wurde die Medizintechnik noch etwas schwammig als „Unternehmen im Unternehmen“ angekündigt, den möglichen Börsengang ließ man damals vorerst außen vor. Doch dann: Die Erstnotiz an der Börse folgte im März 2018. Alles klar? Zum Sammelsurium von Technikfirmen, die, wenn sie sich als ertragreich erweisen, ausgegliedert und verkauft werden, ist es da nicht weit. Und Kaeser kann wohl schalten und walten, wie er will: Sein seit 2017 amtierender Aufsichtsratschef kommt aus der IT-Branche, war früher Chef von SAP. Industrietechnik, die Siemens über eineinhalb Jahrhunderte ausgezeichnet hat, steht nicht in seiner Biographie.

Blicken Erlangens Siemens-Beschäftigte hinüber zum neu entstehenden Campus, ursprünglich mit Gesamtkosten von einer halben Milliarde Euro taxiert, so ist auch diese Sicht nicht frei von Sorgen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat erst vor wenigen Tagen von Plänen Kaesers berichtet, nach denen in Berlin („oder an einem anderen Standort in der Welt“) für bis zu 600 Millionen Euro ein Innovationszentrum entstehen soll – ein sogenannter Zukunftscampus. Die Aufgabenbeschreibung hebt sich nicht extrem von der des Erlanger Projekts ab: Büros, Forschungslabors, Hightech-Produktionsanlagen, Standort für Unternehmensgründungen, Wohnungen – kurz: ein modernes Stadtviertel, Raum für Freizeit und Erholung inbegriffen.

Konkurrenz für den Siemens-Campus in Erlangen? Man erinnert sich da an die Querelen um das geplante und nicht realisierte Firmenhochhaus im Campus im Frühjahr, als Erlangens OB Florian Janik zusammen mit seiner SPD-Stadtratsfraktion heftige Kritik an Siemens übten. Die Siemens-Spitzenmanager schwänzten daraufhin die Einladung zur Eröffnung der Bergkirchweih und trafen sich auf einem anderen Keller. Das Verhältnis zwischen dem Konzern und der Stadtspitze hat sich merklich abgekühlt. Ist die Retourkutsche nicht mehr zu stoppen?
(Udo B. Greiner)

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