Deutschland hat seit dem 1. Juli die Ratspräsidentschaft der EU inne. Als Vorsitzender der EVP-Fraktion hat CSU-Vize Manfred Weber nach wie vor großen Einfluss auf die weitere Entwicklung der EU. Er drängt auf wichtige Weichenstellungen in diesem Herbst.
BSZ: Herr Weber, beraten Sie auch die Bundesregierung?
Manfred Weber: Die Zusammenarbeit zwischen dem Europäischen Parlament und dem Ratsvorsitz ist immer sehr eng, da beide im Gesetzgebungsprozess zusammenarbeiten. Bei Themen wie Corona, Migration Wirtschaftsaufschwung und internationale Krisen gibt es hohe Erwartungen, dass Deutschland und vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel dazu Lösungen einbringen könnten. Als Vorsitzender der größten Fraktion bin ich hier immer eng eingebunden.
BSZ: Beim Gipfeltreffen des Europäischen Rates schienen alle nur am Geld interessiert. Entwickelt sich die EU zurück zur EWG? Gibt es gemeinsame Werte in der EU?
Weber: Mir ist lieber, dass Staats- und Regierungschefs vier Tage an einem Konferenztisch intensiv diskutieren – und am Ende steht ein Kompromiss. Früher hätte man diese Streitfragen vielleicht mit Sanktionen oder gar Unfrieden ausgetragen. Das Gegenmodell dazu ist die Europäische Union, die uns in den letzten Jahrzehnten Freiheit, Wohlstand und auch lange Frieden gebracht hat.
BSZ: Aus dem Europaparlament kommen viele Änderungswünsche. Was kritisieren Sie als EVP an den Beschlüssen zum Corona-Rettungspaket?
Weber: Aus Sicht des Parlaments wurden falsche Akzente gesetzt: Wir können nicht bei Zukunftsthemen wie Forschung und Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich kürzen, nicht bei der Förderung des Bildungsprogramms Erasmus oder der Inneren Sicherheit. Wenn die Staats- und Regierungschefs der EU-Kommission und dem Parlament den Auftrag mitgeben, einen funktionierenden Schutz der Außengrenzen aufzubauen, dann müssen sie uns auch die entsprechenden Finanzmittel zur Verfügung stellen.
BSZ: Und was ist mit dem Abbau der Rechtsstaatlichkeit?
Weber: Wer sich auf europäische Solidarität in dieser Wirtschaftskrise beruft, muss seinerseits auch bereit sein, europäische Werte wie Presse- und Meinungsfreiheit oder die Unabhängigkeit der Justiz zu akzeptieren. Wenn ich mir Äußerungen mancher Regierungschefs bei der Rückkehr vom Gipfel in ihre Heimatländer so anhöre, dann besteht hier offenbar noch viel Klärungsbedarf.
"Eine Schuldenunion steht ja auch gar nicht zur Debatte"
BSZ: Die Verwendung und Kontrolle der Gelder ist eine Sache, gemeinsame Schulden eine andere. Die CSU hat immer eine Schuldenunion abgelehnt. Was ist jetzt neu?
Weber: Eine Schuldenunion steht ja auch gar nicht zur Debatte. Daher setze ich mich auch klipp und klar für einen definitiven Rückzahlungsplan ein.
BSZ: Hochverschuldete Staaten fordern Finanzhilfen aus Solidarität. Aber wo es um Reformen und Kontrolle geht, pochen sie auf Souveränität. Was muss sich daran ändern?
Weber: Wer in der Not seine Nachbarn um Hilfe bittet, muss erst einmal selbst seinen Beitrag leisten. Die EU ist kein Geldautomat, um Wahlversprechen in Italien und Spanien zu finanzieren. Wir müssen stattdessen dringend in die Zukunftsfähigkeit Europas investieren! Nur wenn wir nicht zu den Verlierern der Krise gehören, werden wir künftig auf der Welt noch eine Rolle spielen. Deshalb müssen wir mehr Geld in Forschung und Zukunftsthemen investieren.
BSZ: Europäische Grenzregionen, auch bayerische, sind von der Corona-Krise besonders hart betroffen. Wie kann die EU das mit Regionalförderung ausgleichen?
Weber: Die Wochen des Lockdowns haben die Menschen in den Grenzregionen an Zeiten vor dem Fall des Eisernen Vorhangs erinnert. Hier ist in den Herzen und Köpfen innerhalb weniger Wochen sehr viel zu Bruch gegangen. Insofern brauchen wir neuen Schwung, um die Zusammenarbeit in den Grenzregionen und das gegenseitige Vertrauen wieder zu vertiefen. Immerhin leben 30 Prozent der europäischen Bürger in einer Grenzregion. Ich denke da an grenzüberschreitende Mobilität, Zusammenarbeit im Gesundheitswesen oder Katastrophenschutz und Rettungsdienst. Wir müssen weiter Sprachbarrieren überwinden! Den Menschen in den Grenzregionen fallen hier viele Ideen und Maßnahmen ein.
BSZ: Keine konkreten Projekte oder Forderungen?
Weber: Ich bin ein Freund davon, vor Ort entscheiden zu lassen, was mit europäischen Steuergeldern Sinnvolles unterstützt werden soll. Mit den CSU-Kollegen Monika Hohlmeier und Christian Doleschal habe ich aber im Europäischen Parlament eine Initiative gestartet, aus dem Corona-Aufbaufonds auch eine Schwerpunktförderung speziell für die Grenzregionen zu schaffen.
Grunddilemma Einstimmigkeit
BSZ: Bei Rekordschulden zur Ankurbelung der Wirtschaft ist die EU einig. Nicht in der Asyl- und Migrationspolitik, nicht in der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik – zum Beispiel in Afrika. Wie kann die EU da künftig stärker gegenüber den Großmächten auftreten?
Weber: Ich habe ja deutlich gemacht, dass es beim Thema Verschuldung in Detailfragen durchaus unterschiedliche Ansätze gibt. Aber in der Tat hängt die Frage, wie die EU aus der Wirtschaftskrise herauskommt und wie die EU global wahrgenommen wird, sehr eng zusammen. Natürlich gibt es bei den genannten Punkten ein Grunddilemma: die gebotene Einstimmigkeit bei Ratsentscheidungen, beispielsweise in der Außen- und Sicherheitspolitik.
BSZ: Damit können einzelne Mitglieder die Mehrheit per Veto erpressen und die EU-Kommission ist international kaum handlungsfähig. Wie wollen Sie das Prinzip der Einstimmigkeit im EU-Vertrag abschaffen, wenn auch dafür Einstimmigkeit nötig ist?
Weber: Ich setze hier große Erwartungen in einen Diskussionsprozess zur Zukunft Europas, der im Herbst beginnen soll und sich mit der Funktionalität der EU beschäftigt. Da geht es um die Frage der Einstimmigkeit, das Initiativrecht des Parlaments, Außen- und Sicherheitspolitik und viele andere Themen. Ich glaube, wenn am Ende deutlich wird, dass Reformschritte das internationale Gewicht der einzelnen Mitgliedstaaten global stärken, ist am Ende auch die Bereitschaft groß, Reformschritte anzugehen.
BSZ: In der Außen- oder Migrationspolitik würde man sich statt des Prinzips der Einstimmigkeit oft schnelle Entscheidungen der Mehrheit wünschen. Aber würden dann in der Wirtschafts- und Finanzpolitik die wenigen Geberstaaten immer von vielen Nehmern majorisiert?
Weber: Wir haben heute auch schon Bereiche, in denen mit qualifizierter Mehrheit entschieden wird. Hier gibt es unterschiedliche Modelle: Etwa, dass nicht nur 55 Prozent der EU-Mitgliedstaaten zustimmen müssen – also 15 der 27 –, vielmehr müssen sie zugleich 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren!
BSZ: Schaffen das nicht alle Nehmerstaaten gegen Deutschland und fünf „Sparsame“?
Weber: Im Parlament spielen nationale Fragen bei Abstimmungen eine untergeordnete Rolle. Vielmehr stehen hier politische Grundsätze von Fraktionen oder Fraktionsgemeinschaften im Mittelpunkt.
Korruptes Gebaren
BSZ: Sie haben im Wahlkampf viel Rücksicht auf Polen und Ungarn genommen. Wie stellen Sie sich den Umgang der EU mit Demokratieabbau vor?
Weber: Im Gegensatz zu meinem sozialdemokratischen Mitbewerber, der dem korrupten Gebaren seiner Parteifreunde in Rumänien lange zugeschaut hat, habe ich gegenüber der EVP-Mitgliedspartei in Ungarn Grenzen aufgezeigt. Ohne Rücksicht auf meine persönliche Situation habe ich klargemacht, dass ich bei einer Wahl zum Kommissionspräsidenten von den Stimmen dieser Partei nicht abhängig sein möchte.
BSZ: Es laufen ja aktuelle Verfahren wegen Verstößen gegen Rechtstaatlichkeit ...
Weber: …die überholt sind. Die funktionieren solange nicht, als wir im Europäischen Rat Einstimmigkeit brauchen, um ein Mitgliedsland zu verurteilen. Deshalb sollte es aus meiner Sicht ein unabhängiges Gremium geben, das Gesetzesvorhaben prüft und bei Zweifeln Verfahren in Gang setzen kann.
BSZ: Wie soll eine Union in Europa realistisch aussehen, damit der Wählerwille auch respektiert wird? Wie und mit wem wollen Sie das durchsetzen? Mit der SPD?
Weber: Es ist Aufgabe aller demokratischer Parteien, sich mit der grundsätzlichen Weiterentwicklung der EU ernsthaft auseinanderzusetzen. Dazu gehört kein parteipolitisches Geplänkel, sondern es ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag aller demokratischen Kräfte. Dass wir dann im Detail über eine unterschiedliche Ausgestaltung diskutieren, ist eben der Prozess demokratischer Meinungsbildung.
BSZ: Wirtschaftliche Interessen einzelner Mitglieder werden immer vor Werten der Demokratie und Menschenrechte rangieren. Wie soll da eine demokratisch installierte Kommission in der Außenpolitik stark auftreten?
Weber: Außenpolitisch kann die EU in der Tat noch nicht mit der Stärke mithalten, die ihrer Wirtschaftskraft entspricht. Aber wir hätten mit unserer Wirtschaftskraft einen enormen Hebel im Bereich der Außenpolitik, auch in der Entwicklungspolitik, bei sozialen Mindeststandards oder Menschenrechten!
"Wir lähmen uns eben durch die Einstimmigkeit"
BSZ: Wir hätten, ja! Aber…?
Weber: Wir lähmen uns eben durch die Einstimmigkeit. Aber wir sind – weltweit gesehen – ein so interessanter Markt, dass wir unsere Anforderungen in Freihandelsabkommen hineinverhandeln könnten. Aber deren Einhaltung müssen wir dann auch entsprechend kontrollieren.
BSZ: Mehr außenpolitischer Einfluss lässt sich leider nicht von der militärischen Stärke trennen. Europas Sicherheit in der NATO ist von den USA abhängig; das macht auch politisch abhängig. Wie stellen Sie sich mehr Unabhängigkeit Europas vor?
Weber: Wir haben in den letzten Jahren erleben müssen, dass die Amerikaner nicht mehr zu einer Partnerschaft mit Europa bereit sind, wie wir das in den vergangenen 75 Jahren gewohnt waren. Deshalb brauchen wir mehr Souveränität für Europa – gern im Miteinander mit den USA, nicht gegen sie.
BSZ: Wir brauchen sie, klar. Aber wie erreichen wir sie?
Weber: Als ersten Schritt wäre viel gewonnen, wenn wir uns in der EU auf einheitliche Waffensysteme verständigen würden. Aufbau von Cyberabwehrsystemen, Satellitenaufklärung oder Drohnentechnik kann doch innerhalb der EU effektiver vorangehen, als wenn wir wieder 27 unterschiedliche Wege gehen. Ich kann mir vorstellen, dass kleinere Mitgliedstaaten Spezialbereiche abdecken, hier Know-how aufbauen und damit besondere Verantwortung in der Staatengemeinschaft übernehmen.
BSZ: Können sich das denn auch andere vorstellen? Und wer hat dann das Kommando?
Weber: Das ist auch ein zentrales Thema der geplanten Konferenz über die Zukunft Europas. Wenn es am Ende eine Europäische Armee geben sollte, dann müsste das Europäische Parlament entscheiden, ob, wann und wo sie eingesetzt werden soll. Sie müsste aus meiner Sicht als europäischer Pfeiler innerhalb der NATO stehen.
Globaler denken
BSZ: Auch bei einheitlicher Ausrüstung und Bewaffnung gibt es Interessenkonflikte mit nationalen Rüstungsfirmen. Wer verzichtet dann auf wirtschaftliche Vorteile?
Weber: Ich würde das nicht auf die Rüstungsindustrie beschränken, sondern als Aufgabe europäischer Wirtschaftspolitik sehen: Nach heutiger Rechtslage musste die EU-Kommission eine Fusion von Siemens und Alstom als Zughersteller ablehnen, weil sie auf dem europäischen Markt zu dominant wären. Aber international sind beide Unternehmen weit von einer dominanten Rolle entfernt. Hier müssen wir globaler denken und Unternehmenskooperationen schaffen, die am Weltmarkt bestehen können und mit Global Playern aus Asien und den USA auf Augenhöhe sind.
BSZ: Technologische Innovation bei Wehrtechnik hat immer auch Auswirkungen auf zivile Produkte. Will diese wirtschaftlichen Vorteile nicht jedes Land haben?
Weber: Die Ausrüstung der Bundeswehr mit modernster Wehrtechnik und Mobilität war ein Motor des technologischen Fortschritts – gerade auch für Bayern. Eine europäisch koordinierte Rüstungspolitik war daher immer ein Anliegen von Franz Josef Strauß und der CSU – auch um die Abhängigkeit von den USA zu verringern. Daran müssen alle beteiligt werden, die Qualität anbieten. – siehe etwa Airbus!
BSZ: Bei der Refinanzierung durch Rüstungsexporte gehen aber doch die Vorstellungen in der EU weit auseinander?
Weber: Das ist richtig. Denn Frankreich exportiert in die ganze Welt und Deutschland hat sehr restriktive Bedingungen für Rüstungsexporte. Darum brauchen wir auch dafür einen europäischen Ansatz. Wenn man Rüstungsgüter gemeinsam produziert, kann nicht einer sie weiterverkaufen, ein anderer nicht.
BSZ: Würde die EU nicht unabhängiger von den USA, wenn sie statt nutzloser Sanktionen aktiver an einem besseren Verhältnis zu Russland arbeiten würde?
Weber: Natürlich ist Russland wichtig für Sicherheit in Europa und mehr wirtschaftliche Zusammenarbeit wäre für beide Seiten von großem Vorteil. Aber die grundsätzliche Frage ist, ob man mit Russland auch neue Wege beschreiten und besser zusammenarbeiten kann. Derzeit glaubt Präsident Putin, aus Russland heraus Weltmachtpolitik betreiben zu müssen, statt sich gemeinsam mit Europa mehr um die wirklichen Interessen seines russischen Volkes zu kümmern. In vielen Regionen, wie in Syrien und Nordafrika, gelingt ihm die Demonstration der Macht ja auch – zumindest militärisch. Eine andere Frage ist, ob die EU sich so weiterentwickelt, dass eine einheitliche EU-Politik gegenüber Russland überhaupt erst möglich wird. Die Sorgen und Sicherheitsinteressen der Ost- und Westeuropäer gehen bisher halt noch weit auseinander.
China startet schon wieder durch
BSZ: Warum werden Kritik und Forderungen an Russland zu Völkerrecht, Demokratie und Menschenrechten gegenüber China viel zaghafter vorgebracht – siehe Hongkong?
Weber: Da ist etwas Wahres dran. Aber es gilt, was ich gesagt habe: Wenn wir es als EU nicht schaffen, außenpolitisch mit einer Stimme zu sprechen, dann werden wir in der Weltpolitik nicht mehr ernst genommen. Deutschland allein ist ja auch nicht in der Lage, sich gegen China durchzusetzen. In der Corona-Krise wird sich das noch verschärfen. Denn viele europäische Länder werden geschwächt daraus hervorgehen, wogegen China wirtschaftlich schon wieder durchstartet.
BSZ: Demnach steht der EU ein heißer Herbst schwieriger Entscheidungen bevor?
Weber: Ja, aber ich bin optimistisch, weil ich schon immer der Überzeugung war, dass auf dieser politischen Ebene die Weichen für die Zukunft unseres gesamten Kontinents gestellt werden.
(Interview: Hannes Burger)
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