Wirtschaft

Schüler*innen sollen über Praktika in Betriebe hineinschnuppern können. Das kann die Berufswahl erleichtern und den Unternehmen helfen, Nachwuchs zu generieren. (Foto: dpa/Andreas Arnold)

02.02.2023

Wie man Nachwuchs gewinnt

Unternehmertag in Nürnberg zeigt verschiedene Strategien

"Versicherer sehen lange Zeiträume voraus. Die Fachkräfteentwicklung in Deutschland ist seit 10 Jahren bekannt. Die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf die Arbeitskräftesituation ist ebenfalls seit 20 Jahren bekannt", sagte Armin Zitzmann, Präsident der IHK Nürnberg für Mittelfranken und Vorstandsvorsitzender der Nürnberger Versicherung beim 18. Unternehmertag in der Metropolregion Nürnberg, zu dem die Puls Marktforschung GmbH aus Schwaig bei Nürnberg vor Kurzem eingeladen hatte. Zudem habe Deutschland die kürzeste Arbeitszeit pro Jahr in der EU und die meisten Urlaubstage. Die Politik wisse um dieses Thema, würde sich aber nicht herantrauen. Zum anderen gebe es mehr als 1000 Kinder im Jahr ohne Schulabschluss, obwohl sie hier geboren oder aufgewachsen sind. Die IHK trage diesem Thema Rechnung, indem sie viele Berufsorientierung- und Ausbildungsprojekte ins Leben gerufen habe. Zusammen mit der Hamburger Agentur DSA Youngstar GmbH würden in einem Pilotprojekt allgemeinbildende Schulen in Mittelfranken mit „Berufsorientierungsboxen“ und „Zukunftssäulen“ ausgestattet. In Zukunft solle das auch auf Realschulen ausgeweitet werden. Weitere Möglichkeiten seien Praxistage oder Praktikumswochen, an denen die Jugendlichen jeden Tag in eine andere Firma reinschnuppern können. IHK-Ausbildungsscouts, etwa im gleichen Alter, wie die Jugendlichen würden Schulen besuchen und Auskunft geben über den Ablauf der Ausbildung, über das selbst erlebte Bewerbungsverfahren und ihre beruflichen Perspektiven. Die Matching-Börse, ein Pop-up-Store in der Breiten Gasse, gemeinsam mit der Agentur für Arbeit, das Zugehen auf Studienabbrecher und das Scannen von Unterlagen Zugewanderter auf vergleichbare Eignung seien weitere Aktionen. „Ohne ausländische Arbeitskräfte geht es nicht. Deswegen ist Englisch als zweite Amtssprache unabdingbar“, forderte Zitzmann.

Die Spitze des Eisbergs

„Auf 100 Menschen im Alter von 63 bis 65 Jahren kamen im letzten Jahr 68 Jugendliche im Alter von 17 bis 19 Jahren“, ergänzte Oliver Fern, Regionalvorstand der Landesbank Baden-Württemberg (LBBM). Jährlich würden 370.000 Arbeitsplätze wegfallen, doch das sei nicht die Spitze des Eisbergs. Bis zum Jahr 2030 würden 500.000 Arbeitskräfte pro Jahr fehlen und das trotz einer eingerechneten Zuwanderung von 300.000 Arbeitskräften pro Jahr. Erst 2040 würde sich der Trend wieder drehen. Die Unternehmen müssten darum in die Selbstverantwortlichkeit gehen. Die Arbeitskräftesicherung stelle höhere Anforderungen an Führungskräfte und Teams. Um Auszubildende zu finden und zu halten, müsse man ihnen den Sinn des Unternehmens vermitteln, sie beim Wachstum unterstützen. Projekte wie die Finanzierung von erneuerbarer Energie in Städten nennen anstatt Zahlen. Mitarbeiter suchen Mitarbeiter sei ein weiterer gangbarer Weg. Um in Hochschulen und Universitäten zu werben, müsse man junge Mitarbeiter einsetzen. Notwendig sei ein authentisches Bild des Unternehmens, das gerne über Mitarbeiter-Statements auf Social-Media-Kanälen, wie LinkedIn oder YouTube vermittelt werden könne.

„Wir hatten 2022 eine Höchstzahl an Stellenangeboten. Das heißt, in Bayern wurden auch in der Zeit der Pandemie Stellen aufgebaut“, machte Klaus Beier, Geschäftsführer der Regionaldirektion Bayern der Bundesagentur für Arbeit deutlich. 18 500 Ausbildungsstellen seien 2022 unbesetzt geblieben, davon 43 Prozent im Handel, Büro, Lager, Logistik sowie im Hotel- und Gaststättengewerbe. Weiterbildung biete Unternehmen die Chance, Arbeitskräfte zu entwickeln, zu gewinnen und zu binden. Die Bundesagentur für Arbeit unterstütze dabei durch Beratung von Betrieben und Beschäftigten und über attraktive Fördermöglichkeiten. Eine Weiterbildung könne durch teilweise oder vollständige Erstattung der Lehrgangskosten sowie durch Zuschüsse zum Arbeitsentgelt gefördert werden. „Dabei sollten Sie auch ihre Arbeitskräfte über 35 Jahre nicht vergessen“, mahnte Beier. Arbeitskräfte aus der EU und aus Drittstaaten hätten normale Zugänge auf den deutschen Markt. Doch sie bräuchten soziale Integration und Beheimatung. Dabei sei es besser, sich auf junge Erwachsene aus der EU zu konzentrieren, denn Jugendliche müssten begleitet werden. Das sei ein hoher Aufwand. Initiativen, wie „Wege in Ausbildung für Flüchtlinge“ oder „Perspektiven für Flüchtlinge“ würden junge Flüchtlinge praxisnah und im direkten Kontakt mit Betrieben auf eine Ausbildung vorbereiten. Ausländischen Studenten müssten nach dem Studium Möglichkeiten geboten werden, um in Deutschland bleiben zu können.

Auch nicht so gerade Lebensläufe unterstützen

„Wir müssen auch die nicht so geraden Lebensläufe unterstützen. Das sind oft die Mitarbeiter, die sich am meisten engagieren und am längsten im Unternehmen bleiben“, erklärte Markus Neubauer, Geschäftsführer des Softwarentwicklers Silbury aus Fürth. Der Fachkräftemangel solle nicht immer als Problem, sondern vielmehr als Wettbewerbschance gesehen werden. Viel Potential liege im Einsatz von digitalen Lösungen, um vorhandene Fachkräfte von Routinetätigkeiten zu entlasten.

„Wir haben kein sexy Produkt, also müssen wir die Technologie vorstellen. Unsere Präzisionswerkzeuge werden in vielen Branchen benötigt, wie Raumfahrt, Medizin, in Kraftwerken oder in der Wehrtechnik. Es gibt in diesem Bereich nur 10 Unternehmen weltweit, davon sitzen acht in Deutschland“, erläuterte Gerhard Knienieder, Geschäftsleitung der EMUGE Präzisionswerkzeuge aus Rückersdorf (Landkreis Nürnberger Land). Ausländische Fachkräfte für das Unternehmen seien nur in der Mitte Europas zu finden. Das Unternehmen habe jährlich 25 Auszubildende in der dualen Berufsausbildung. Seien es früher zirka 100 Bewerbungen gewesen, so kamen nach der Pandemie nur noch 20 bis 25 Bewerbungen. Da werde die Konkurrenz durch die Vollakademisierung deutlich, die nicht nur der Politik, sondern auch den Ansprüchen der Eltern geschuldet sei. Man müsse mit den Jugendlichen anders reden, das Betriebsklima, die Kollegen, den Spaß am Arbeitsplatz hervorheben. Deswegen habe das Unternehmen eine junge Mitarbeiterin, die gerade ausgelernt hat, beauftragt, Instagram-Beiträge zu posten. „Das einzige Verbot ist gewesen, Ratschläge von über 30-Jährigen anzunehmen“, merkte Knienieder spaßig an. Auch die Homepage werde zweigliedrig umgebaut. Um die Jugendlichen zu erreichen, werde ihre Sprache und nicht die Sprache der Technik benutzt. Ein Drittel der Auszubildenden im Unternehmen würde später ihren Techniker oder Meister machen und Führungspositionen besetzen und das bei ordentlicher Bezahlung. Das Unternehmen versuche, Authentizität zu leben. Dafür müsse alles zusammenpassen. „Dazu gehört auch, bei kleineren Krisen nicht gleich zu entlassen“, so Knienieder. Vielmehr sei das Unternehmen durch seine Familienführung vor Ort jederzeit ansprechbar.

Nicht nur Fach-, sondern auch Arbeitskräftemangel

„Unser Unternehmen hat sich schon 2015 mit dem bevorstehenden demografischen Wandel beschäftigt. Zwischen 2020 und 2030 werden die Hälfte der Beschäftigten in Rente gehen. Wir haben definitiv einen Arbeitskräftemangel und nicht nur einen Fachkräftemangel“, erklärte Magdalena Weigel, Vorständin und Arbeitsdirektorin der N-ERGIE Aktiengesellschaft. Die Qualität der Bewerbungen sei heute anders als vor drei, vier Jahren. Früher habe man 40 Bewerber genommen, heute habe man mit 80 Bewerbern das Maximum erreicht. Die Werbeveranstaltungen seien niederschwellig, in Form von Lifeevents auf Social Media, Veranstaltungen im Straßenbahndepot mit dem Radiosender Energy oder einem Quiz mit Auszubildenden, bei dem Online-Voten möglich sei. Große Bewerbungen seien heute eine Hürde für die Jugendlichen. Vielmehr würden Name, Telefonnummer und zwei Sätze, was der Jugendliche im Unternehmen machen möchte, zum Erstkontakt ausreichen. Gefordert sei hier, schon im Vorstellungsgespräch eine Perspektive zu bieten, gefolgt von jährlichen Zukunftsgesprächen. Um die Mitarbeiter im Unternehmen halten zu können, müsse man sich mehr auf die Menschen einstellen, die dort arbeiten und die besten Rahmenbedingungen je nach individueller Situation bieten. Vielfalt brauche bewusste Begleitung. Deswegen gebe es jetzt das Projekt „Miteinander sprechen“. „Wir müssen unsere Anforderungen runterschrauben“, so Weigel. Hatte zum Beispiel früher jeder einen Busführerschein durch die Bundeswehr, so müssten nun Fortbildungen zum Erwerb des Busführerscheins angeboten werden. „Und bei Busfahrern mit Orientierungsproblemen, setzen wir schon mal einen Kollegen daneben, bis der Weg sitzt“, merkte Weigel belustigt an.

Abteilung Personalmanagement aufgebaut

„In der Pandemie haben wir einen Boom erlebt und mussten in der kurzen Zeit von 200 auf 300 Mitarbeiter aufstocken. Trotzdem ist viel Umsatz liegengeblieben“, sagte Martin Esslinger, Geschäftsführer von Ortlieb Sportartikel aus Heilsbronn (Landkreis Ansbach). Die Geschäftsführung habe sich daraufhin entschlossen, eine Abteilung Personalmanagement aufzubauen. In der Produktion würden 20 Nationalitäten arbeiten. Da es ein halbes Jahr dauere, bis die Mitarbeiter an den im Betrieb entwickelten Maschinen geschult seien, seien Grundlagen der deutschen Sprache unerlässlich. Ein Weg sei es gewesen, nationale Gruppen zu gründen, in der zumindest ein Mitarbeiter deutsch spreche. Trotz des immensen Aufwandes, diese nationalen Gruppen in das Schichtsystem zu integrieren, sei die Produktivität mit Corona gesunken. Auch für den Job eines Produktmanagers hätte es nach Corona nicht eine Bewerbung gegeben. Verlangt werde da vor allem technisches Verständnis. Nachhaltigkeit, das Reizwort für die junge Generation, werde seit 40 Jahren vom Unternehmen gelebt, nur eben bis jetzt nicht fokussiert beworben. „Die neuen Mitarbeiter brauchen einen physischen Ort zum Zusammenkommen“, so Ortlieb. Um den Mikrokosmos Ortlieb zu erleben, würden sie früh in die Abteilungen integriert. Es bestehe ein starker Kontakt und intensive Betreuung. Der Einarbeitungsplan liege vor dem Beginn der Phase vor. Der erste Kontakt werde auch hier oft über Social-Media-Kanäle hergestellt, mit E-Mail und Telefonnummer. Der Rest, wie Zeugnisse, kommen später. Die eigene Philosophie klar zu leben, sei langfristig der beste Weg. „Are you Ortlieb“ bedeute „Jeder packt mit an“. „Es muss vom Mindset her stimmen“, verdeutlichte Ortlieb.

Wie Unternehmen wahrgenommen werden

„In Zeiten des Arbeitskräftemangels wird es für Unternehmen immer wichtiger zu verstehen, wie sie von Kunden und Mitarbeitern wahrgenommen werden und welche Synergieeffekte sich aus der Weiterempfehlung beider Gruppen ergeben. Eine Mitarbeiterbefragung im eigenen Haus wird nie ehrlich sein. Sie sollte immer neutral durchgeführt werden“, stellte Florian Schmidbauer, Consultant bei Puls Marktforschung fest. Das puls BrandGrowth Tracking habe 169 Marken aus 13 Branchen, wie Deezer, Audi, N26, Apple, Ecosia, Miele, Möwenpick Marché mit 3158 Interviews aus Arbeitnehmer- und Kundensicht befragt. Die Studie ergab, dass 39 Prozent der Kunden „ihre“ Marken und Produkte anderen Kunden, aber nur 22 Prozent der Mitarbeiter ihren Arbeitgeber aktiv weiterempfehlen. Dabei erzielten Apotheken und Banken die höchste Attraktivität und die Bereitschaft dort zu arbeiten. Der Lebensmittelhandel habe ein schlechtes Image genauso wie Handwerksberufe. „Der Handwerkerberuf ist in Bezug auf Zukunftsfähigkeit von den Zeitungen tot geschrieben worden“, so Schmidbauer. Es sei wichtig Fans von und aus den Unternehmen zu motivieren, andere zu überzeugen. Das funktioniere besser als alles andere. Kunden und Arbeitnehmermeinung müssten zusammenpassen, um eine starke Marke zu generieren. Das Unternehmen solle die Begründung von Fans von Kunden und Arbeitnehmerseite vergleichen und zusammenbringen, um so Zukunftsfähigkeit und Sinn zu transportieren. Auch die Marktforschung stehe vor einem Paradigmenwechsel vom Kunden hin zu den Arbeitnehmern. An erster Stelle stehe die Authentizität des Unternehmens, dann könne der Mitarbeiter zum Fan werden. Denn wer ausschließlich wegen des Gehalts bei einem Unternehmen arbeite, werde auch des Gehalts wegen wieder zu einem anderen Unternehmen wechseln. „Das Unternehmen muss die Ergebnisse aushalten können“, mahnte Schmidbauer.
(Antje Schweinfurth)

 

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